Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1965

Spalte:

710-712

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Thyen, Dietrich

Titel/Untertitel:

Luthers Jesajavorlesung 1965

Rezensent:

Thyen, Johann-Dietrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

709

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 9

710

Entsprechend ist die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen, als
das Ergebnis einer formal-materialen, .reziproken' ,unio mytsica' soziologischer
Faktoren und des Reiches Gottes zu verstehen. Der .formalen'
Soziologisierung der Kirche entspricht eine ,materiale' Verchristlichung
der Welt (Familie und Staat). Das Reich Gottes gestaltet sich zur .inneren
Kirche' (Immanenz!), welche ihrerseits entelechisch die .äußere
Kirche' in ihrer Kirchenordnung ausbildet. Der Kollegialismus wandelt
sich presbyterial-synodal zum Aufbau der Kirche auf die Gemeinde,
in welcher die .Kerngemeinde' (ecclesiola in ecclesial) zum eigentlichen
Träger der Ämter, der inneren und äußeren Mission und der Union
wird.

Die Grundvermittlung in der ,unio mystica' drängt zur Union. Die
.formale' Trias des Selbstbewußtseins zielt auf das verbindende Wollen
in der .Bruderliebe', ehe die unterscheidende Anschauung differierende
.Lehr- und Schulmeinungen' ausbildet. Da das Gefühl über das
Wissen zum Wollen gelangt, ist Lehre notwendig (Lehrkonsensus!).
Diese ist aber immer wieder an der .Biblischen Theologie' zu orientieren
. Das Bekenntnis ist der heiligen Schrift unterzuordnen. Das
strenge lutherische ,quia' dieses Verhältnisses ist durch das aufgelockerte
reformierte .quatenus' zu ergänzen. Das Ziel ist gegebenenfalls das neue
Bekennen in Bekenntnissen, welche der Zeit entsprechen. Nitzsch will die
Konsensus-Union. Er muß sie sowohl um seiner Theologie des Selbstbewußtseins
willen suchen, als auch von seiner .Biblischen Theologie'
her fordern. Er hat sie auf der ersten preußischen General-Synode von
1846 zu Berlin und gegen die Kabinetts-Ordre Friedrich Wilhelms IV.
vom 6. März 18 52 (Auflösung der Union durch die ,itio in partes'!)
vertreten.

Sie wurde für den sächsischen Wittenberger Lutheraner zur Lebensaufgabe
, als er ein Vierteljahrhundert lang Professor in Bonn war und
dort die reformierte, niederrheinische Gemeinde-Kirche kennenlernte,
deren Wortführer er in Kreis- und Provinzial-Synode wurde. Als solcher
wurde er zum Mitgestalter der von ihm von Anfang an als revisionsbedürftig
erkannten Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von
1835. Von 1847 an nahm er als uniertes Mitglied des EOK und Professor
zu Berlin unmittelbaren Einfluß auf die weiteren Geschicke der
preußischen Union. Es ist wesentlich sein Verdienst, daß diese weiterbestand
. Nitzsch ist der bedeutendste Unionstheologe im ersten Halbjahrhundert
der Union.

Schild, Maurice Edmund: Abendländische Bibelvorreden bis zur
Lutherbibel. Diss. Heidelberg 1964. 406 S.
Die Tatsache, daß man die Bibel seit früher Zeit mit Vorreden
versehen hat, ist für das Verhältnis der christlichen Kirche zur Bibel
von grundsätzlicher Bedeutung. Luther hat mit seinen Vorreden an eine
längst bestehende Tradition angeknüpft und ihr zugleich einen neuen
Impuls gegeben. Eine Untersuchung der Prologe der Vulgata,
die auch in der von Luther benutzten Bibel abgedruckt waren, bildet
den ersten Teil der Arbeit (S. 1—144). Dabei sind die von Hieronymus
selbst für die verschiedenen Teile seiner Übertragungen geschriebenen
Dedikationen (S. 1—41) von den Vorreden zu unterscheiden
, die von anderer Hand aus hieronymianischen Schriften ausgewählt
und der Bibel beigegben wurden (S. 42—87). Das eigentliche
Thema der ersteren bleibt sowohl bei der Revision nach der LXX wie
in der Übersetzung nach der hebraica veritas die Frage nach der Übersetzungsgrundlage
. Zur Einführung in die biblischen Bücher eignet sich
die zweite Gruppe von Vorreden weit besser (vor allem die große Epi-
stola LII1). Besondere Bedeutung kommt dem aus dem Matthäus-
Kommentar entnommenen Evangelienprolog zu. Er steht in einem Traditionszusammenhang
, der zuvor bei Irenäus, später in den Prooemia
des Isidor von Sevilla und noch in einer Vorrede des 13. Jh. sichtbar
wird. Neben den hieronymianischen Vorreden werden in der Vulgata
anonyme Prologe durchgehend tradiert, die häretischen Ursprungs sind:
marcionitische und pelagianische zu den Paulusbriefen und monarchia-
nische (priscillianische) zu den Evangelien. Damit zeigt sich das eigentümliche
Gesetz in der Geschichte der Bibelvorreden. Sie stammen entweder
von Übersetzern, die ihr Unternehmen begründen und verteidigen
wollen (Hieronymus, Erasmus), oder von Ketzern, welche (wie die
genannten) die Bibel als Zeugnis für ihre Lehre in Anspruch nehmen,
oder von solchen, die beides in Personalunion sind (die Wyclifiten,
Luther). Die historischen Einzelheiten über die häretischen Stücke in
der Vulgata sind seit De Bryne, Harnack und Chäpman bekannt. Interessant
ist aber die Zusammenordnung von Vorreden aus so widersprechender
Provenienz wie des Marcionitismus und des Pelagianismus.
Die ersteren sind nicht ohne Einfluß auf die letzteren geblieben, wie
die Analyse der pelagianischen Prologe ergibt (S. 93—112). Mit den
monarchianischen Stücken wird die Christologie für den Bibelleser ins
Zentrum gerückt. Ein weiteres Bündel nach Art und Rang verschiedener
Vulgatavorreden wird kurz charakterisiert, darunter auch der theologisch
bedeutende Apokalypsenprolog des Gilbert de la Porree aus
dem 12. Jh. (S. 132 ff.).

Im 2. Teil (S. 145—227) werden Stücke aus dem Spätmittelalter
und dem Humanismus herangezogen; namentlich
solche, die im Vergleich mit Luthers Prologen wichtig sind. 1) Die
wyclifitische Bibel ersetzt die gewöhnlich in Bibelübersetzungen des
Mittelalters mitübersetzten Vulgatavorreden z. T. durch neue Stücke,
die mit dem Kampf der verfolgten Lollarden um die offene Bibel zusammenhängen
und eine Reihe neuer Motive bringen: Verständnis der
Einheit des Evangeliums, Gegenüberstellung der beiden Testamente,
Konzentration auf den Leser, dem die herrschenden wissenschaftlichen
Auslegungsgrundsätze an die Hand gegeben werden. 2) Neue Züge erscheinen
auch in einführenden Stücken der Vulgatadrucke des frühen
16. Jh. 3) Eine Wende bedeuten aber erst die Beigaben des Erasmus zu
seiner Ausgabe und Übersetzung des NT. Darin bringt er nicht nur die
Lebensbedeutung der in der Schrift enthaltenen philosophia Christi für
den einzelnen, sondern auch die Notwendigkeit der Textkritik und der
Einführung in die historische Situation der einzelnen Schriften zum
Ausdruck.

Luthers Vorreden (S. 228—363) bedeuten der Tradition wie
Erasmus gegenüber einen neuen Anfang. Sein Interesse gilt vordringlich
der Sache, der Einheit der Bibel unter dem Spannungsbogen von
Gesetz und Evangelium. In den beiden allgemeinen Vorreden wird das
Evangelium selbst die eigentliche Vorrede zur hl. Schrift (S. 253). Eine
ähnliche Konzentration auf die Sache und auf den Leser zeigt die berühmte
Vorrede zum Römerbrief, die den Brief als eine rechte Einführung
in das Verständnis des AT versteht. An den historischen Umständen
zeigt sich Luther in den Vorreden zum NT, im Gegensatz zu
den marcionitischen und pelagianischen Stücken wie auch zu Erasmus,
wenig interessiert. Die Vorreden zu den Propheten (S. 299—332) geben
wesentliches Material für Luthers grundsätzliches Verständnis der Pro-
phetie an die Hand. Die christologische Intention der Propheten ist
nicht durch die bekannten Weissagungen bestimmt, sondern durch den
Trostgehalt ihrer Botschaft und ihre Auseinandersetzung mit der jederzeit
gegenwärtigen menschlichen Neigung zu irgendeiner Form von
Götzendienst. Zugleich bezeugen die historischen Angaben Luthers
theologisch begründetes Interesse an der Geschichte. Es leitet ihn auch
bei seiner verschieden ausfallenden Wertung der apokalyptischen Schriften
und in den kritischen Äußerungen zu Schriftaussagen, die in den
Vorreden öfters begegnen, zur Kanonsfrage und zum Übersetzungsproblem
(S. 341—363). Luthers Vorreden sind ein Extrakt aus seiner ganzen
Theologie und seiner persönlichen Glaubensgeschichte. Darum sind
sie dem Sammelsurium der früheren im Wert unterschiedlichen und nur
selten auf den Inhalt der biblischen Bücher bezogenen Prologe hoch
überlegen. Sie brachten auch für die Vulgatadrucke das Ende dieser
älteren historisierenden Einführungen (S. 228, 374 f.). Luthers Vorbild
hat in den reformatorischen Bibeldrucken aller Lager eine Fülle neuer
Prologe hervorgerufen, über die noch ein kurzer Überblick gegeben
wird. Sie bilden das Material für eine weitere Arbeit.

Der Anhang bringt einige wenig bekannte und untersuchte Reihen
von Vulgataprologen: 1) zu den kleinen Propheten, 2) fünf Beigaben
aus Drucken des frühen 16. Jh., die für gewöhnlich fehlen, Luther aber
aus seinem Exemplar bekannt waren.

Thyen, Dietrich: Luthers Jesajavorlesung. Diss. Heidelberg 1964.
XVIII, 331 S. Text, 136 S. Anmerkungen, 172 S.Anhang.

Aufgabe der Arbeit war es, die Vorlesung umfassend zu würdigen,
die Bedeutung der Quellen für die Lutherforschung zu erhellen und
den speziellen Beitrag zur Auslegungsgeschichte, aber auch zur Theorie
reformatorischen Glaubens und Verstehens, also zur Theologie und
Hermeneutik Luthers zusammenzustellen. So untersucht der I. Teil die
Überlieferung, Datierung und exegetischen Hilfsmittel der Vorlesung,
während der II. Teil gleichfalls in drei Kapiteln die historische, philologische
und methodische Einführung, die Auslegung an exemplarischen
Texten und hermeneutische Grundsätze zum Inhalt hat. Der Anhang
faßt in 7 Abschnitten den Ertrag der Überlieferungskritik zusammen:
1. Korrekturen und Ergänzungen zu Bd. 2 5 und 31,11 der Weimarer
Luther-Ausgabe (rund 2000 Berichtigungen bzw. Ergänzungen); 2. Lauterbachs
Register zu seiner Vorlesungsnachschrift (L., der Nachschreiber
der Vorlesung von Jes. 23,7 an); 3. Nachweis der exeget. Hilfsmittel
zur Auslegung von Jes. 1 (WA 31,11,2 bis 18); 4. Briefe und Aktenstücke
zu Rörers verschollener Nachschrift und zu deren Bearbeitung
durch Veit Dietrich, den „Scholia"; 5. Johann Bugenhagens Auslegung
von Jes. 6, Text der Vorlesungsnachschrift Stephan Roths (Zwickauer
Ratsschulbibliothek Ms. XL1), Anmerkungen, Nachweise, Besprechung;
6. Luthers Auslegung von Jes. 6 aus Scholien und Nachschrift rekonstruiert
, übersetzt und mit Nachweisen versehen; 7. Register der in
der Vorlesung genannten biblischen Zitate.

Ergebnisse sind (mitgeteilt nach der Reihenfolge der Kapitel):
1. L a u t e r b a c h s (= L.) Kollegheft (wiedergegeben in WA 31,
II) enthält außer L.'s eigener Nachschrift von Jes. 23, 7 an kürzere Vor-