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Ausgabe:

1965

Spalte:

707-709

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Haas, Albert

Titel/Untertitel:

Grundlinien der Unionstheologie von Carl Immanuel Nitzsch 1965

Rezensent:

Haas, Albert

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707 Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 9

Ewigkeitsglaubens" hervortritt (S. 166). Dementsprechend liegt
dann auch die Bedeutung Jesu und seiner Geschichte, vor allem
seines Weges zum Kreuz in seinem „Bilde". Das „Sehen Jesu"
(S. 371 f.), das „Angesicht Jesu", der „Blick auf den Gekreuzigten
" (S. 399, 402) erschließt das Zentrum dieser undogmatischen,
in einem tiefen Ernste pietistischen Christologie. Als Drittes ist
zu nennen, daß für H. die Kirche kein Gegenstand seines Credo
ist. Sie ist die Stätte des Predigtdienstes, wohl auch die Schar
der Hörer, mehr aber doch auch immer der leidige Ort versuchlicher
Traditionen, verführerischer frommer Gewöhnungen,
ein Nichts gegenüber aller staatlichen Macht (S. 18).

Wahrscheinlich verstrickt sich der Leser des Buches auch bei
einzelnen Auslegungsfragen in Widersprüche mit H. Die schneidende
Schärfe, mit der H. seine kritischen Überzeugungen vorträgt
(das Wort Jesu, nämlich die Gleichnistheorie Mk 4, durch
die mündliche Überlieferung „völlig entstellt", S. 79 cf. S. 275),
wechselt mit überraschenden Sätzen zugunsten der Zuverlässigkeit
der Texte (S. 200: „Zweifel nicht möglich", S. 186: Jesus
„ein wirklicher Träger außerordentlicher Heilwirkungen"). Man
wird mitunter H.s Exegese einfach nicht annehmen. Ich kann
nicht finden, daß „ein so tolles Rätselbild" wie der ungerechte
Richter (Luk 18, 1 ff.) ein Gleichnis des himmlischen Vaters ist.
Jesus behauptet doch keine Gleichung, sondern er strengt einen
offenkundigen Gegensatz an, um eine Analogie hervorspringen
zu lassen (S. 234). Ich kann mich auch nicht davon überzeugen
lassen, daß mich die historische Kritik dazu zwingt, über die
„unwahre und widersittliche Begründung der Ermahnung zum
Gutestun" in der „Allegorie vom Haushalter über unrecht Gut"
mit einem so erbitterten und humorlosen Moralismus loszuziehen
, wie es H. S. 229 für ein Gebot der „Redlichkeit" hält.

Diese kritischen Notizen 6ollen nicht einmal gegen das
Buch selbst sprechen. Sie besagen zunächst nur, daß der Verfasser
noch immer wie in der langen Zeit seines reichen Wirkens in
ungeminderter Energie seinen Lesern und Schülern sein Entweder
-Oder, das Sic et Non und in jedem Falle das Gesetz der
gedanklichen Klarheit aufzwingt. Er fördert auch dort, wo man
ihm bis in die Tiefe widerspricht, und er hilft auch da, wo er
schockiert. Die kritische Liste — sie könnte leicht verlängert
werden — mindert die dringende Aktualität des Buches nicht.
Die Hellsichtigkeit des blinden Verfassers für die religiöse
Situation der Zeit, seine wache Kritik gegenüber den ungeprüften
Axiomen des heute üblichen theologischen Denkens

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machen das Buch unerachtet eines oft altväterlich-preziösen Stils
zu einer der wichtigsten Erscheinungen auf dem Gebiet der
Predigtliteratur unserer Tage.

Gewiß, die bei den Meditationen jeweils scharf herausgearbeiteten
Auslegungsziele (Gliederungen) sind gelegentlich von
einer kaum noch zu steigernden Abstraktheit und Allgemeinheit.
Die Geschichtlichkeit des Textes verliert sich oftmals ins Zeitlose
(„das Ewige") und das Konkretum des Textes verschwindet.
„Im ersten Teil zeigt man, daß der Glaube an den Gott, der
wehrlos Geduld und Erbarmen übenden Liebe an die Stelle der
äußeren Hoheit und Herrlichkeit der Gewalt, Herrschaft und
Vergeltung die innere Hoheit der das Herz bis in den Grund
hinein zum freien Ja überwindenden Unbegreiflichkeit des
wahren göttlichen Wesens setzt. Im zweiten Teile zeigt man
dann, daß damit der Glaube an Gott und sein Reich alle Bedingungen
des Erdendaseins sprengt und die Tür zur Ewigkeit
öffnet. Gewalt und Gericht und Herrschaft sind die vergänglichen
Prunktümer des Kosmos und können nur von dem Wahn, welcher
Gottes Reich zu einem Erdenreich macht, für göttlich gehalten
werden" (S. 167 f.). Wer könnte auch nur annähernd erraten, zu
welchem Text diese Auslegung gilt? Wer könnte ohne neues
Dolmetschen diese Dolmetschung auf der Kanzel selbst der ausgesuchtesten
Gemeinde zumuten? Dennoch bleibt es dabei: Diese
Meditationen sollten Stoff für viele homiletische Proseminare
werden, Schule der gedanklichen Zucht, behutsamen Eingehens
auf den Hörer und ein Exercitium der kritischen Nachprüfung
der hier gebotenen kritischen Exegesen.

Göttingen Wolfgang T r i 11 h aa s i

Hummel, Gert, Lic. Dr.: Konfirmation heute. Tübingen: Mohr 1965.
32. S. 8° = Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften
aus dem Gebiet d. Theologie u. Religionsgeschichte, 243. Kart.
DM 2.40.

Jacob, Günter: Die Verkündigung an den säkularisierten Menschen

(ZdZ 19, 1965 S. 166—172).
Krusche, Werner: Die Bibel in der Hand des Pfarrers (ZdZ 19,

1965 S. 203—215 und DtPfrBl 65, 1965 S. 289—297).
Nordhues, Paul: Kirche — Priester — Gegenwart (ThGl 55, 1965

S. 162—170).

Padberg, Rudolf: Praktische Theologie in der kirchlichen Gegenwart
(ThGl 55, 1965 S. 236—238).

Pietz, Reinhold: Predigt heute (ZdZ 19, 1965 S. 139—143).

Voigt, Gottfried: Zur Aufgabe und Methodik der Bibelstunde
(PB1 105, 1965 S. 270—278).

Referate über theologische Dissertationen in Maschinenschrift

Haas, Albert: Grundlinien der Unionstheologie von Carl Immanuel
Nitzsch. Diss. Göttingen 1964. 244 S.

Carl Immanuel Nitzsch (geb. 21.9. 1787, gest. 21. 8. 1868) gilt als
Vermittlungstheologe und Vertreter der Schleiermacherschen Rechten.
Ersteres ist er sicher. Schleiermacher-Schüler ist er nicht. Er trifft sich
nur in mancher Hinsicht auf eigenen Wegen kongenial mit Schleiermacher
.

Ausgehend von der Grundvermittlung zwischen Offenbarung und
Wissenschaft, Theologie und Philosophie strebt er zu einer Vermittlung
der lutherisch-reformierten konfessionellen Gegensätze in der
Union hin. Das Bindeglied beider Vermittlungen ist die für seine
Zeit erstaunlich kräftig von ihm herausgestellte .Biblische Theologie'.
Sie wird ihm zum „Rectifikator" sowohl der philosophisch-theologischen
, als auch der lutherisch-reformierten Vermittlung.

Auf Grund seiner Beschäftigung mit Kant, der ihm durch seinen
Vater Karl Ludwig Nitzsch nahegebracht wurde, gibt Nitzsch der philosophischen
Komponente eine betont ethische Zielsetzung. Seine spekulative
Bemühung um die Vermittlung derselben zur Offenbarung
basiert auf der ersten Phase der Identitätsphilosophie Sendlings. Das
Ergebnis ist eine formal-materiale, philosophisch-theologische, .reziproke
' ,unio mystica'; „reziproke" Überwindung des Dualismus, indem
die .Biblische Theologie' material die philosophische Begriffsform auffüllt
, korrigiert und überhöht, während die philosophische Form den
biblisch-theologischen Gehalt mitbedingt. Da der heilige Geist der Initiator
und immerwährende Impulsator dieser Reziprokation ist, ergibt
sich eine biblisch-spiritualistische ,unio mystica', innerhalb deren der
Mensch synergistisch-formal mit beteiligt ist. Eine gewisse Verzeichnung
der material-biblischen Komponente der Grundvermittlung ist die
Folge.

Der formal beteiligte Mensch wird in seinem .Selbstbewußtsein' zur
Mitte einer Theologie des Selbstbewußtseins. Dieses wird einer differenzierten
Analyse unterzogen und im Gegensatz zu Schleiermacher in
seiner Trias: Gefühl, Anschauung und Wille erkannt. Das Gefühl strebt
in der Gleichzeitigkeit über das Wissen zum Wollen. Nitzsch kann
somit sowohl die verschiedenen Anregungen der zeitgenössischen Philosophie
aufnehmen, als auch den Ganzheitscharakter der biblischen
Auffassung vom Menschen berücksichtigen.

Ehe Nitzsch etwas anderes ist, ist er zunächst der Schüler seines
Vaters Karl Ludwig Nitzsch. Dieser vermittelt seinem Sohn in den
Grundelementen: die ethische Zielsetzung (Kant), die Pietät vor der
heiligen Schrift, den Versuch einer Überwindung des Dualismus Vernunft
-Offenbarung, den Kollegialismus (Presbyterium) und das Streben
nach der Union. Durch Schelling gelangt Nitzsch zu seiner Theologie
der ,unio mytsica' und entwickelt in Verwandtschaft zu Schleiermacher,
aber in den ersten Anfängen unabhängig von ihm, seine eigene Auffassung
in fortwährender kritischer Bejahung der Anliegen Schleiermachers
bei gleichzeitiger Ablehnung der Methode der immanenten Gefühlstheologie
desselben. Nitzsch. behauptet sowohl eine säkulare undi
eine theologische Hermeneutik (Dualismus!) als auch die Gültigkeit
der ganzen heiligen Schrift Neuen und Alten Testaments.

Die formal-materiale, .reziproke' ,unio mystica' hat zur Folge: l)
eine .formale' Vermenschlichung Jesu Christi mittels der Ebenbild-
Christologie; 2) eine .materiale' Verchristlichung des Menschen durch
eine .immanente' Gerechtigkeit (Osiander!). Die inhabitatio Christi
vollzieht sich prinzipiell-ideell als Verchristlichung der Trias des
.Selbstbewußtseins' in der Wiedergeburt als der Gesamtheit von Bekehrung
und Rechtfertigung. Die .Erlösung' wird zur .Versöhnung' des
Menschen in .Versühnung' seiner Sünden. Die anthropozentrische Schau
ist unverkennbar.