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Ausgabe:

1965

Spalte:

52

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Nicolai, Philipp

Titel/Untertitel:

Freudenspiegel des ewigen Lebens 1965

Rezensent:

Zeller, Winfried

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 1

52

Herrschaft Christi. Die Kirche hat keine eigenständige Lehrautorität
; sie wird vielmehr durch die Herrschaft von Menschenlehre
zugrundegerichtet. Durch das Lehrdenken Luthers ziehen
6ich die Grunderkenntnisse von der Verborgenheit der Kirche,
von der Herrschaft des Antichrist in der Kirche und von dem
unaufhebbaren Gegensatz von Gottes Wort und Menschenwort
hindurch. Von dem göttlichen Ursprung der christlichen Lehre ist
Luther überzeugt; einen Lehrrelativismus kennt er nicht. Gott
selbst ist im Lehrgeschehen gegenwärtig. Trotz seiner Abstufungen
innerhalb des Kanons setzt Luther nach Steck die
Identität von Gotteswort und Schriftwort voraus (47). Man kann
bezweifeln, ob diese Aussage den ganzen Sachverhalt bei Luther
trifft. Steck selbst weist auf die kritischen christozentrischen
hermeneutischen Prinzipien hin, die doch die völlige Identität
von Gottes Wort und Schriftwort in Frage stellen. Auch an diesbezügliche
Äußerungen Luthers über die Zeit- und Situationsgebundenheit
alttestamentlicher „Gottesworte" könnte erinnert
werden. Aber Steck hat recht, wenn er sich hier und anderswo
gegen voreilige Modernisierungen Luthers wendet. Bekanntlich
hat Luther auch das Ineinander von Gottes Wort und Menschenwort
in der Predigt vertreten, aber auch die Gefahren dieser
Identitätsaussagen erkannt. Die Kirche ist nicht Herr des hl.
Geistes. Die approbatio des Evangeliums ist kein iudicium.
Darum darf die Kirche auch keine neuen Glaubensartikel aufstellen
; die hl. Schrift genügt. Luthers Aussagen über die Irrtumsfähigkeit
der Kirche sind bekannt. Wenn Luther gleichzeitig
auch von der Irrrumslosigkeit der Kirche sprechen kann, so bezieht
sich das auf die doctrina Dei im strengen Sinn. „Deswegen
gibt es auf der Ebene des kirchlichen Lehrgeschehens für Luther
nichts, was dem Infallibilitätsdogma des römischen Denkens entspräche
" (97). Im übrigen verlangt Luther ein „kritisches
Hören" auf die Schrift und die Lehre der Kirche. Er bekennt
sich zu der „Mündigkeit des christlichen Urteils" (120), wenn
auch nicht zum autonomen Individuum. Steck erblickt darin, m.
E. mit Recht, einen Ansatz zum Subjektivimus und Spiritualismus
. Auch in Luthers „Glauben" haben die Einsicht und die Erfahrung
ihren festen Platz. Die Autorität der Lehre ist nicht
blinde Autorität. Die Evidenz der hl. Schrift, deren „externa
claritas" feststeht, vollzieht sich als ein Wiedererkennen des
Schriftzeugnisses durch den Glauben (126). Sie kann auch mit
sekundären Argumenten begründet werden. Die Evidenz des
Dogmas besteht in der Übereinstimmung mit der hl. Schrift.
Ihre Einheit hat die hl. Schrift trotz des Gegenübers von Gesetz
und Evangelium in Christus; sie ist für Luther kein wesentlich
geschichtliches Problem. Luther war davon überzeugt, diese
Einheit nicht an die Schrift heranzutragen, sondern sie aus ihr
zu entnehmen. Dabei findet eine „Reduktion" der Credenda auf
das, was zum ewigen Leben nötig und genügend ist, statt (173).
Eine feste Grenze zwischen „Fundamentalem und theologischer
Entfaltung", zwischen Lehrinhalt und Lehrausdruck, hat Luther
nicht gezogen (195; gegen Gollwitzer). Die Inadäquatheit aller
theologischen Lehraussagen hat Luther nicht so empfunden wie
wir heute. Aber die Bemühung um die reine Lehre war für
Luther nicht abgeschlossen; die Kirche stellt keine Sicherung
der reinen Lehre dar (215). Steck schließt mit einigen kritischen
Fragen an das Lehrdenken Luthers. Hat Luther die Subjektivität
des Zeugen genügend beachtet (224)? Stehen wir noch zu seinem
„primum principium" von der Evidenz der hl. Schrift (226)?
Wenn nicht, dann würde aus dem „berechtigten Lehrgesetz ein
tödliches Gesetz". „Dann trennt uns von der römischen Kirche
nichts mehr als eine vierhundertjährige Geschichte, die durchaus
zu revidieren wäre" (226; Schlußsatz des Buches).

Das Buch von Steck stößt in das Zentrum von Luthers
Theologie vor. Es ist eine sorgfältige theologiegeschichtliche
Untersuchung, die sich in anerkennenswerter Weise von falscher
Modernisierung Luthers fernhält. Daß der kritische Leser an
einigen Punkten Fragezeichen setzen kann, ist nicht verwunderlich
. Luthers Aussagen sind eben nicht ganz einheitlich und es
können immer auch Zitate gegen Zitate gestellt werden, die sich
nicht harmonisieren lassen. Damit führt die theologiegeschichtliche
Bemühung vor systematische Probleme, die nicht zum
eigentlichen Aufgabenbereich des vorliegenden Buches gehören,

wenn sie auch hinter der interpretierenden Analyse spürbar
lebendig sind.

Erlangen Walther von Loewenich

Nicolai, Philipp, Pfarrer Dr.: Freudenspiegel des ewigen Lebens.

Facsimile-Neudruck der Ur-Auflage von 1599 mit einem Vorwort
von R.Mumm. Soest: Westfäl. Verlagsbuchhandlung Mocker & Jahn
1963. XXXII, 427 S. 8° = Soester wiss. Beiträge, hrsg. v. H. Schwanz
u. W.-H. Deus, Bd. 23. DM 25.—; Hlw. DM 30.-.

Das Gedächtnis des 400. Geburtstages Philipp Nicolais im
Jahre 1956 löste einen Neueinsatz der Nicolai-Forschung aus,
der um so bemerkenswerter ist, als die grundlegende Monographie
Martin Lindströms1 bereits 1939 eine abrundende Zusammenfassung
der bisherigen theologiegeschichtlichen Bemühungen
um Nicolai bedeutete. Inzwischen konnten aber Herbert
Baum2, Ernst Nolte3 und Gottfried Freytag1 in Studien zu Nicolais
verhinderter Promotion in Marburg, zu seinem Wirken in
Unna sowie über seine frömmigkeitsgeschichtliche Einordnung
eine Reihe weiterer Fragen klären, zum Teil unter Beibringung
neuer Nicolai-Funde! Walter Blankenburg5 stellte Straßburger
Einflüsse auf Nicolais Kirchenliedweisen fest. Der Berichterstatter6
machte darauf aufmerksam, daß ein sachgemäßes Verständnis
Nicolais nur gewonnen werden kann, wenn man ihn neben
Johann Arndt als Überwinder jener Frömmigkeitskrise begreift,
die den Protestantismus im letzten Drittel des Reformationsjahrhunderts
erfaßt. Ein Referat vor dem X. Internationalen
Kongreß für Religionsgeschichte7 1960 in Marburg zeigte die
tiefgreifende Bedeutung des Nicolaischen Ewigkeitsbegriffes auf.
Schließlich hat Willy Heß8 1962 die ökumenische und eschatolo-
gische Ausrichtung des Missionsdenkens Nicolais eingehend
untersucht.

Die hier skizzierte Entwicklung der jüngsten Nicolai-Forschung
muß man sich vergegenwärtigen, wenn man zu einer
sachgemäßen Würdigung des jetzt vorgelegten Neudruckes der
bekanntesten Schrift Nicolais, seines „Freudenspiegels des
ewigen Lebens", gelangen will. Daß hierbei das Wagnis eines
auch im bibliophilen Sinne wertvollen Faksimile-Neudrucks
unternommen wurde, wird man den Herausgebern der Soester
wissenschaftlichen Beiträge wie auch dem Verlage zu Dank
wissen. Natürlich verdient auch die dem Urdruck getreue Wiedergabe
der beiden hymnologischen Kostbarkeiten „Wie schön
leuchtet der Morgenstern" und „Wachet auf, ruft uns die
Stimme" besondere Anerkennung. Ebenso darf auch die Beigabe
eines faksimilierten Briefes Nicolais an die Stadt Soest vom
26. 2. 1599 wie die Reproduktion eines alten Hamburger
Kupferstiches von Nicolai begrüßt werden. Dem Bande ist
schließlich ein Vorwort vorangestellt, in dem Reinhard Mumm
im besonderen auf Nicolais Beziehungen zu Soest und auf seine
Bedeutung für ein eschatologisches Denken im Protestantismus
hinweist.

Möge diese wertvolle Neuausgabe des „Freudenspiegels"
zu einer Weiterführung und Vertiefung des Verständnisses
Nicolais anregen!

Marburg/Lahn Winfried Zeller

*) Philipp Nicolais Verständnis des Christentums — (Beiträge zur
Förderung christlicher Theologie, herausg. von Paul Althaus, 2. Reihe,
40. Band) — Gütersloh 1939.

-) Jahrbuch der Hessischen Kirchengcschichtlichen Vereinigung,
herausg. von Heinrich Steitz, 9. Band, Darmstadt 1958, S. 91—98.

3) Festblatt zur Philipp-Nicolai-Feier anläßlich der Jahrestagung
des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte am 26. und 27. September
1956 in Unna, Unna 1956.

4) Soester Zeitschrift — Zeitsdirift des Vereins für die Geschichte
von Soest und der Börde, 69. Heft, Soest 1956, S. 70—83.

5) Musik und Kirche, 26. Jahrgang, Kassel 1956, S. 172—176.

6) Jahrbuch der Hessischen Kirdiengeschichtlidien Vereinigung,
herausg. von Heinrich Steitz, 9. Band, Darmstadt 1958, S. 83—90.

7) X. Internationaler Kongreß für Religionsgeschichte, 11.—17. September
1960 in Marburg (Lahn), Aktenband Marburg 1961, S. 179
—180: „Mystik und Eschatologie im Protestantismus des 17. Jahrhunderts
, besonders bei Philipp Nicolai".

B) Das Missionsdenken bei Philipp Nicolai — (Arbeiten zur
Kirdiengesdiidite Hamburgs, herausg. von Karl Witte und Kurt Dietrich
Schmidt, Band 5) — Hamburg 1962.