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1965

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

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Neuerscheinungen

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685

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 9

686

Studie von vier Jahrzehnten der Erforschung des Mittelalters im allgemeinen
und Bonaventuras im besonderen nicht überholt seien.
Nach dem zuständigen Urteil des Herausgebers ist das nicht der
Fall. „Die Arbeit. . . wird man nicht nur zum Instruktivsten zu
zählen haben, was über Bonaventura geschrieben wurde, sie füllt
auch heute noch wesentliche Lücken der Bonaventuraforschung
und -interpretation aus, obgleich inzwischen manche Publikationen
über einzelne Probleme erschienen sind, denen auch
R. Guardini in seiner Untersuchung nachgeht." (XI)

Der Verfasser geht methodisch so vor, daß er jeweils zunächst
die philosophischen Grundlagen der einzelnen Theorien,
soweit sie sich aus der Theologie Bonaventuras erurieren lassen,
darstellt. Danach kommt ihre Bedeutung im theologischen
System Bonaventuras zur Sprache. Schließlich werden die geschichtlichen
Wurzeln dieser Theorien untersucht und bis auf
ihre Ursprünge zurückverfolgt.

Im I. Teil behandelt der Verfasser die Theorie des Iumen
mentis und ihre Voraussetzungen. Dabei geht es zunächst um
die Erkenntnis- und Ideenlehre und den für „Bonaventuras
Weltbild grundlegenden Begriff der Ähnlichkeit" (13). Nach
einer ausführlichen Darstellung der Lehre vom Seelenlicht wird
ihre Bedeutung im theologischen System Bonaventuras (Trinität,
Schöpfung, Erlösung, Gnade) aufgezeigt.

Der II. Teil entfaltet die Lehre von der gradatio entium
und der influentia sensus et motus. Hier geht es um das Problem,
„wie das Verhältnis des Einen zum Vielen zu denken sei" (93).
Die theologische Bedeutung dieser beiden Theorien wird vor
allem in der Hierarchienlehre deutlich, die ihrerseits am geschlossensten
in der Lehre von der Kirche in Erscheinung tritt.
„Sie wird auf Grund der gradatio, der emanatio und der reductio
in der Theorie der Hierarchien behandelt; auf Grund der physio-
logichen Anschauungen in der Theorie des corpus mysticum"
(146).

Im III. Teil wertet Guardini nach einer Zusammenfassung
der geschichtlichen Ergebnisse den historischen Ertrag seiner
Untersuchung systematisch aus, worin er „ihre Hauptaufgabe"
sieht (211). Er unterscheidet in der theologischen Systembildung
zwischen einer dialektischen und einer organischen
Form; beide schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. „So
wird man sagen müssen, daß, am strengen Maßstab gemessen,
die dialektische Methode der organischen den Charakter reinerer
Wissenschaftlichkeit voraus hat. Letztere ist vielleicht für das
religiöse Leben befruchtender und vermag eher dem ganzen
Menschen etwas zu geben; dafür ist sie aber beständig einer
Gefahr der Vermengung mit gefühls- und phantasiemäßigen Elementen
ausgesetzt, überschreitet leicht die methodische Grenze,
verwechselt Bilder mit Argumenten, praktische Brauchbarkeit
mit logischer Richtigkeit, und Gemütswerte mit sachlicher
Wahrheit. Die dialektische Methode hingegen will kritisch reine
Wissenschaft; ihre Mittel dazu sind ausschließlich logischer
Natur." (220)

Die Untersuchung stellt zweifellos einen grundlegenden
Beitrag zur Bonaventuraforschung dar. Sie zeigt, daß es tatsächlich
systembildende Elemente gibt, die sich durch das gesamte,
so verschiedenartige Werk Bonaventuras verfolgen lassen und
gleichsam die Voraussetzung zum Verständnis dieser großangelegten
theologischen Konzeption im ganzen wie der
Probleme im einzelnen darstellen. Dabei wird deutlich, in welchem
Maße Bonaventura in der neuplatonisch-augustinischen
Tradition steht und wie dieses philosophische Apriori von den
theologischen Erfordernissen her umgeformt wird. Schließlich
werden von Guardini diese Ergebnisse in ihrer systematischen
Tragweite ausgewertet. Dadurch bleibt die Untersuchung von
historischem Positivismus frei, ohne andererseits in die Gefahr
zu kommen, durch sachfremde Fragestellungen spekulativsystematischer
Art die geschichtlichen Gegebenheiten zu verfälschen
.

Der Herausgeber weist in seinem Vorwort darauf hin, daß
bibliographische Ergänzungen nur dort vorgenommen wurden,
wo es um ausgesprochene Probleme der Bonaventuraforschung
ging und im übrigen die Arbeit nahezu vollständig unangetastet

blieb (XII). Es versteht sich deshalb von selbst, daß vor allem
bezüglich der Fragen der historischen Einordnung Bonaventuras
die herangezogene Sekundärliteratur heute teilweise überholt
oder doch zumindest ergänzungsbedürftig ist. Ebenso liegen einzelne
der zitierten Quellen inzwischen in kritischen Editionen
vor. Fragen der Autorschaft wurden geklärt; so ist heute nachgewiesen
, daß die Summa sentientiarum kein Werk Hugos von
St. Viktor ist, vgl. S. 181. Verschiedene Urteile allgemeinerer
Art, wie etwa über die Frühscholastik und ihre neuplatonisch-
augustinische Anthropologie, die erst durch Thomas überwunden
worden sei (143; 204), bedürfen einer Korrektur und sind heute
in so generalisierender Weise nicht mehr haltbar. Diese durch
den damaligen Stand der Forschung bedingten Ungenauigkeiten
stehen jedoch ausschließlich im Vorfeld des eigentlichen Gegenstandes
der Untersuchung und haben keinerlei Auswirkung auf
ihre Ergebnisse. Sie werden deshalb auch die hervorragende Bedeutung
dieses Werkes keineswegs beeinträchtigen.

Vtündiea Richard H e i n z in u nn

B e u m e r, Johannes: Schrifttheologie in Theologie und Praxis. Nach
dem Sentenzenkommentar des Durandus a Sancto Porciano O. P.
(Schol XL, 1965 S. 235—240).

F e h 1 n e r, Peter-Damian: Person und Gnade nach Johannes Duns
Scotus (Wissenschaft und Weisheit 28, 1965 S. 15—3 9).

Kandier, Agathon: Die Heilsdynamik im Christusbild des Johannes
Duns Scotus (Wissenschaft und Weisheit 28, 1965 S. 1—14).

Riedl, Johann: Rom 2. 14 ff. und das Heil der Heiden bei Augustinus
und Thomas (Sdiol. XL, 1965 S. 189—213).

KIRCHENGESCHICHTE: REFORMATIONSZEIT

Reuter, Karl: Das Crundverständnis der Theologie Calvins. Unter
Einbeziehung ihrer geschichtlichen Abhängigkeiten. L Neukirdien/
Moers: Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins 1963. 264 S. gr.
8" = Beiträge zur Geschichte und Lehre der reformierten Kirche,
XV. Kart. DM 30.-; Lw. DM 3 5.-.

Es ist vorbehaltlos zu begrüßen, daß Karl Reuter es gewagt
hat, ein Thema in den Blick zu nehmen, das mit einem Ganzen,
eben mit „dem Grundverständnis der Theologie Calvins" zu tun
hat. In dieser Beziehung hatte sich die Calvinforschung der letzten
Jahrzehnte — etwa seit der Erstauflage der „Theologie
Calvins" von Wilhelm Niesei (1938) — sehr zurückgehalten.
Das mag damit zusammenhängen, daß die vorgelegten Einzel-
forsdiungen es immer schwieriger hatten werden lassen, die
Frage nach der Mitte Calvinscher Theologie zu beantworten.

So ist Reuters Unternehmen ein Vorstoß, dessen Mut angesichts
der Forschungssituation anzuerkennen ist. Der Verfasser
meint, wie der Untertitel schon andeutet, den Begriff
.Grundverständnis' u. a. auch historisch. Daraus ergeben sich
eine ganze Reihe von Konsequenzen, die als Themen außerordentlich
interessant sind. Reuter versucht es, die Brunnen aufzugraben
, aus denen Calvin bis zur endgültigen Konzipierung
seiner Theologie geschöpft hat. Das heißt konkret: Der Verfasser
möchte das Grundverständnis der Theologie Calvins aus
seinen geschichtlichen, vornehmlich aus seinen spätmittelalterlichen
Abhängigkeiten klären. An dieser Stelle beginnt die
Thesenfreudigkeit, aber infolgedessen auch die Problematik des
Buches.

Es ist ein oft zugegebener und bedauerter Tatbestand, daß
die Sekundärliteratur bislang nicht genügend Licht in die mittelalterliche
Tradition zum Verständnis der Initia der Reformatoren
hat bringen können. In bezug auf Luther wird an dieser Frage
gearbeitet. Trotz aller Schwierigkeiten scheint die Arbeit an
Luther hier auch relativ erfolgversprechender als an Calvin. Der
Genfer Reformator war wenig biographiefreudig und hat über
seine Quellen expressis verbis noch weniger verlauten lassen als
Luther. Das macht deren Aufdeckung so überaus schwierig.

Reuter mißt nun den datenmäßig konstatierbaren Studienaufenthalten
an dem College de la Marche, noch viel mehr aber
an dem College Montaigu in Paris außerordentlich große Bedeutung
zur Klärung des Grundverständnisses der Theologie
Calvins bei. Er analysiert ausführlich die Gedankenwelt der
Lehrer, die dem jungen Studenten in Gestalt ihrer nachgclasse-