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Ausgabe:

1965

Spalte:

624-625

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Matthes, Joachim

Titel/Untertitel:

Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft 1965

Rezensent:

Sohn, Walter

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 8

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objektiv-institutionellen Seite hin und hat theologisch (für die
Erhaltungs- und Voirsehungslehre) die Relevanz, daß damit
illustriert sein kann, daß der Mensch in festen Ordnungen nicht
nur steht, sondern daß diesen selbst eine Regenerationskraft
innewohnt (an Regelkreise erinnernd), die über .menschliches
Versagen' selbst größten Ausmaßes hinweg Ordnungen sich
wieder einpendeln läßt, sosehr das „Selbstzweck-Umschlägen"
auch an die Erscheinungsformen des Dämonischen rühren kann
(Hauptbeispiel der Frühkapitalismus und die „Entfremdung",
S. 208 ff.).

Viertens sei darauf aufmerksam gemacht, daß Gehlen das
Menschsein nicht zeitlos-abstrakt, sondern in seiner geschichtlichen
Tendenz beschreibt (mehrere Aufsätze sind Analysen der
gegenwärtigen Situation). Folgende Einzelheiten seien genannt:

Mit dem Aufkommen des Wohlfahrts- und Rechtsschutzstaates
brauchte das Streben nach Eigentum, sofern es um
der Existenzsicherung willen geschieht, keine wesentliche Rolle
mehr zu spielen.

„Damals gab es sicher keine bessere Existenzsicherung als Eigentum
. Heute genügt die Staatsbürgerqualität, um existieren zu können"
(S. 295) und bedeuten Rechtsansprüche wie Unkündbarkeit des Arbeitsplatzes
mehr; in ähnlicher Weise verschiebt sich der Sinn des Sparens
. Es ist „eine Entwicklung im Gange, welche der bisher gültigen
Vorstellung der Legitimierung des Privateigentums aus der Existenzsicherung
den Boden weitgehend entzieht" (S. 298).

Auch habe es — im Blick auf Großeigentum — „wenig Sinn zu
sagen, Eigentum sei .Ausdrucks-, Bestimmungs- und Gestaltungsmittel
der Person', wenn es dieser Person physisch unmöglich ist, auch nur
den Code des eigenen Betriebes im Kopf zu haben" (S. 300).

Wenn trotzdem — paradoxerweise — das Interesse an Eigentum
zunimmt, so aus Prestigegründen, gewissermaßen als Kompensierung
dessen, daß in der modernen Gesellschaft ein starker Zug zur nicht nur
rechtlichen, sondern auch ideellen und rangmäßigen Gleichstellung der
Menschen vorhanden ist (S. 298 f.). Im Wettkampf um Ansehen in der
Gesellschaft kann „sich das Würdegefühl sichtbar am besten und wirkungsvollsten
im Eigentum niederschlagen" (ib.).

Weltpolitisch gesehen scheine sich die Menschheit auf
einen langen Frieden einzustellen, was allerdings bedeute,
daß viele Probleme „in die Pattstellung geraten, so daß kein
Zug mehr möglich" ist.

„Der ewige Friede wird bezahlt werden mit der Unlösbarkeit auch
vitaler Probleme. ... In dem Rahmen schon laufender Entwicklungen
werden dann die Ereignisse sich abspielen, und jene werden damit unumkehrbar
, so wie die Diktatur des Lebensstandards schon zu den nicht
mehr umkehrbaren Tatsachen gehört, die bestimmen, welche Probleme
überhaupt aufgeworfen werden können . . ." (S. 262).

Interessant ist auch die Auffassung von der Abgeschlossenheit
des sich Ausbildens von Weltanschauungen und
Religionen.

„Ich exponiere mich . . . mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte
abgeschlossen ist . . . Die Erde wird demnach in der gleichen
Epoche, in der sie optisch und informatorisch übersehbar ist ... auch
in der genannten Hinsicht überraschungslos. Die Alternativen sind bekannt
, so wie auch auf dem Felde Religion, und sind in allen Fällen
endgültig" (S. 323). „Die bis heute durchgeretteten Ideologien haben
also keinen neu auftretenden Rivalen zu befürchten, sie bezeichnen
ebenso definitive Möglichkeiten wie die Religionen, deren Stabilisierung
nun, hundert Jahre nachdem sie unter dem Ansturm totaler naturwissenschaftlicher
Weltbilder in großer Gefahr schwebten, eins der
großen unerwarteten Ereignisse ist; diese haben die Gefahrenzone offenbar
passiert" (S. 324 f.), allerdings um den Preis, daß die Religion „die
technisch industrielle Durchgestaltung der Außenwelt völlig aus ihrer
Beurteilung entläßt, sich also im Hinblick auf ihre Außenwirkung auf
das Menschliche beschränkt..." (S. 315).

Daß die „Religion" in die .Lücke' einspringt, daß „das
kompetenzfreie und unspezialisierte Sichverantwortlichfühlen für
alle grundsätzlichen Angelegenheiten der Gesellschaft" verloren
geht, findet bei Gehlen allerdings keine Bestätigung, wie
überhaupt der Typ des Kultur- und Zeitkritikers schlechthin
nicht seine Sympathie hat (sie reagieren nur ihre Unfähigkeit,
sich einzuordnen, ab, S. 3 30 f.), nicht einmal das Hochpreisen
von Entscheidung und Verantwortlichkeit
(schlechthin) in einer Gesellschaft, die objektiv funktionieren
muß, und dies im Blick auf einen Menschen, der von1 zuviel
inneren Konflikten (theologisch: ,Sorge') gerade entlastet
werden soll; unbeschadet dessen, daß Gehlen die Notwendigkeit

von Religionen und Weltanschauungen als „Führungssystemen"
(S. 3 8) anerkennt und unterstreicht, wobei er hinsichtlich ihrer
Lehren natürlich nicht nach wahr oder falsch, sondern rein prag-
matistisch nach Sinn und Zweck fragt (Z. B. liegt die .Wahrheit'
des Materialismus u. a. darin, daß der Verpflichtungsgehalt des
Daseins wieder stärker von der Außenwelt statt von innen heraus
— von Motiven her — entwickelt werden muß, S. 87, vgl.
S. 212).

Jede Seite in diesem Aufsatz-Band ist belehrend, auch und
gerade da, wo etwas den „Stereotypen" der intern-theologischen
Diskussion so ganz entgegen ist.

Berlin Hans-Georg F r i t zsche

Matthcs, Joachim: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft.

Hamburg: Furche-Verlag [1964]. 113 S. 8°. Kart. DM 9.80.

Das Selbstverständnis der Kirche sowie die verschiedenen
Gestalten ihrer Aktivität gehen von der Voraussetzung aus,
„daß d i e Gesellschaft entkirchlicht, ja entchristlicht sei, und
daß umgekehrt die Kirche gleichsam .entgesellschaftet' sei, d. h.
die Formen und Strukturen der Gesellschaft in ihrem inneren
Aufbau nicht mehr repräsentiere" (14). Dieser Vorstellung,
ihrem Zusammenhang mit der Wirklichkeit der sozialen Bestände
und Vorgänge, die sie zu treffen meint, wie ihren Auswirkungen
auf Verhalten und Handeln der Kirche geht M. mit
Hilfe wissens-soziologischer Kategorien nach und gelangt dabei
zu kritischen Urteilen, die darüberhinaus als Ideologiekritik zu
verstehen sind.

Die These von der „Emigration der Kirche aus der Gesellschaft"
scheint zunächst die Situation der Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft
hart, aber genau zu beschreiben. Es lassen sich aus ihr all jeie
neuartigen Arbeitsformen begründen, in denen die Kirche seit 194 5
den Problemen der Gesellschaft mit beträchtlichem Elan und einem bemerkenswerten
Echo zu antworten versuchte. Doch erweist sich gerade
in ihnen heute immer deutlicher — M. zeigt es am Beispiel der Evangelischen
Akademien und der Institution der Sozialsekretäre —, daß die
Emigrationsthese, von einer spezifischen Situationsbeschreibung zur allgemeingültigen
Strukturbestimmung und zu einem durchgängigen Selbstverständnis
, d. h. zur „praktischen Theorie" (29) erhoben, in einen
verhängnisvollen Zirkel führt, in dem das Selbstverständnis der neuen
Arbeitsformen ihre geschichtlichen Möglichkeiten gerade blockiert. Das
„Brennpunkt-Modell" (25), das Kirche und Gesellschaft in einem strengen
Gegenüber begreift, verstellt den Blick dafür, daß die verschiedenen
Aktivitäten der Kirche „von Anfang an das gewesen sind, was
sie sich selbst als Ziel ständig meinten setzen zu müssen: ein
Stück Kirche als ein Stück Gesellschaft" (50).

„Der immer schon vorhandenen, vielfältig vermittelten
Einheit von .Christlichkeit' und .Gesellschaftlichkeit' nachzugehen
" (49), ist Hauptziel der Untersuchung. Voraussetzung
dieser neuen Perspektive ist die Aufhebung des Subjekt-Objekt-
Schemas für die Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und
Gesellschaft, als stünde die Kirche als Subjekt dem Aufgabenfeld
der Gesellschaft als ihrem Objekte gegenüber, eine Sicht,
die sich ja auch jederzeit verkehren ließe. Soziologisch fragwürdig
ist dieses Modell ohnehin; denn die Wirkung kirchlichen
Handelns beruht ja gerade darauf, daß es Handeln i n der
Gesellschaft, daß es gesellschaftliches Handeln ist und sich auf
einen sehr differenzierten und darum schwer bestimmbaren Bestand
an Volkskirchlichkeit stützen kann. Doch es ist auch theologisch
fragwürdig; denn indem es die „Randstellung" der
Kirche als „das Produkt spezifischer sozialgeschichtlicher Entwicklungen
im Zusammenhang der Industrialisierung" (23) versteht
, identifiziert es einerseits die Herkunft mit der Natur
der Gesellschaft und stellt ihr andererseits eine in ihrem
„Wesen" von geschichtlichen Prozessen unberührbare Kirche
gegenüber. Theologisch gefordert dagegen ist ein Kirchenbegriff,
der damit rechnet: „Alles Entschiedene, Eindeutige,
Bestimmbare hat in dieser Vielfalt (sc. in der Differenziertheit
volkskirchlichen Bestandes in der Gesellschaft) seine
Funktion, doch wohl immer nur eine begrenzte" (50). Man wird
hier z. B. an Tillichs Unterscheidung von „manifester" und
„latenter" Kirche erinnern dürfen1. Die von M. geforderte Sicht,

*) Paul Tillich: Kirche und humanistische Gesellschaft. In: Neuwerk
, Jg. 13, 1931, S. 4—18; ders.: Auf der Grenze. Stuttgart 1962,
S. 48 f.