Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1965

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

621

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 8

622

Zum wichtigsten, was der Verf. zu bieten hat, gehört wohl
die Auseinandersetzung zwischen Zerrüttungs- und Verschuldungsprinzip
, wobei die diesbezügliche internationale Rechtsliteratur
besonders erhellend und informatorisch-einleuchtend
zitiert wird. Ebenfalls ist zu begrüßen, daß der Verf. aufzeigt,
wie sehr das heutige Scheidungsverfahren noch zu hartnäckig in
der Struktur kontradiktorischer subjektiver Rechte verharrt,
während hier sehr nachdrücklich andere, psychologisch und sozial
verantwortbare Methoden angewandt werden müssen, welche
verhindern sollen, daß der Eherichter nicht einfach zum passiven
Schiedsrichter degradiert wird. So setzt sich der Verf. konsequenterweise
im letzten Kapitel, wenn er über Möglichkeiten
und Notwendigkeiten spricht, für eine „Vermenschlichung" des
Eherechtes ein; er verteidigt Sühneverfahren und Eheberatung
und bespricht mit Sympathie die moderne Einstellung des sogenannten
Familiengerichtes.

Wir sprechen für dieses großartige Buch unseren herzlichen
Dank aus. Auch für Theologen ist dieses Werk eine vorzügliche
Wegweisung im Dickicht der Eheprobleme und eine Fundgrube
zur Neuorientierung über den gegenwärtigen Stand der Diskussion
. An einigen Punkten hätten wir mehr Berücksichtigung
der Glaubenswerte gewünscht: so irf der Diagnose der kranken
Ehen, da scheint uns der Glaubensverlust unserer Zeit ein wenig
zu kurz zu kommen, oder auch bei der Bewertung der Seelsorge
in der Durchführung der Versöhnungsversuche, ebenfalls ist es
fraglich, den vorchristlichen Völkern eine Monogamie
zuzuschreiben, die mit der christlichen vergleichbar wäre (S. 69
Anm. 5). Aber wo uns ein Werk geboten wird, das in so
erheblichem Maße von geistig-ethischen Werten ausgeht und
so gar nicht vom starr-juristischen Denken geprägt wird,
kann man es mir jedem Theologen aufs dringlichste empfehlen,
weil es nicht bloß dem Wissenschaftler, sondern auch dem
praktischen, im Amt stehenden Theologen unermeßliche Dienste
erweist.

Basel Hendrik van Oven

A c h i n g e r, Hans: Die Frage nach den Lebenszielen (Universitas 18,

1963 S. 801—810).

A 1 d u n a t e, Jose: Pacem in Terris y la colaboraeiön de catölicos y
no catolicos dentro de una sociedad pluralista (Teologia y Vida 4,

1964 S. 269—271).

B e r n a r d, Ch.-A.: Priere et vie chretienne (Gregorianum, XLVI,

1965 S. 241—285).

Bremi. Willy: Albert Schweitzer als genuiner Ethiker (DtPfrBl 65,
1965 S. 6—7).

B r u n n e r, August: Die entsakralisierte Arbeit (StZ 176, 90. Jg.
1964/65 S. 105—117).

D i g n a t h, Walter: Krieg und biblische Weisung im Licht der Hermeneutik
Luthers (Kriegsdienstverweigerung als christliche Entscheidung
. München 1965, S. 7—19 = Theologische Existenz heute 120).

Dumas, Andre: Theologisches Gespräch zwischen Christen und Atheisten
(JK 25, 1964 S. 623—625).

G ä ß 1 e r, Fidelis: Die menschliche Person im Zeitalter der Technik
(Erbe und Auftrag 38, 1962 S. 204—211).

Giers, Joachim: Die Sozialprinzipien als Problem der Christlichen
Soziallehre (MThZ 15, 1964 S. 278—294).

G i I e n, Leonhard: Charakterologische Aspekte der Verwahrlosung
(TThZ 74, 1965 S. 100—116).

G o 11 w i t z e r, Helmut: Die Kirche und die Kriegsmittel im Atomzeitalter
(KidZ 20, 1965 S. 108—112).

— Einige Leitsätze zur christlichen Beteiligung am politischen Leben
(JK 25, 1964 S. 620—623).

H o f f m a n n, Gerhard: Die Ethik des Apostolats als Freiheit zur
Zukunft (EMZ 22, 1965 S. 14—29).

M e a n s, Richard L.: Weber's Thesis of the Protestant Ethic: The
Ambiguities of Received Doctrine (The Journal of Religion 45,
1965 S. 1—11).

P f 1 ü g e r, Rosemarie: Die Mutter in der öffentlichen Diskussion
(LM 4, 1965 S. 120—125).

R a m s e y, Paul: Lehmann's Contextual Ethics and the Problem of
Truth-Telling (Theology Today 21, 1965 S. 466—475).

Schröter, Martin: Verteidigungspflicht und Kriegsdienstverweigerung
(Kriegsdienstverweigerung als christliche Entscheidung. München
1965 S. 20— 31 = Theologische Existenz heute 120).

Seelhammer, Nikolaus: Zur Diskussion um die Frage der Geburtenbeschränkung
(TThZ 73, 1964 S. 92—107).

W i 1 k e n s, Erwin: Struktur und Grenzen evangelischer Sozialethik
(LM 4, 1965 S. 11—18).

HELIG10NSS0ZI0L0G1E

Gehlen, Arnold: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neu-
wied'Rhein: Luchterhand [1963]. 355 S. 8° = Soziologische Texte,
hrsg. v. H. Maus u. F. Fürstenberg, Bd. 17. Lw. DM 2 8.—.

Dieser Band enthält gesammelte Aufsätze eines Autors,
den man trotz seiner Verwurzelung in der Biologie sowie in
einem gewissen Positivismus durchaus als „Philosophen"
(s. S. 3 39) ansprechen kann und von dessen Einsichten gerade
die heutige so stark anthropologisch sich orientieren wollende
— sowie sozial-ethisch stark engagierte — Theologie sicher
reicheren Gewinn ziehen kann als bei Anlehnung an die sog.
Existenzphilosophie oder an Konzeptionen einer „idealistischen
Metaphysik" (s. S. 145 f.). Denn die heutige protestantische
Theologie sucht in der Philosophie nicht Stützen und Fundamente
, sondern thematische Anregungen, die ihr helfen
können, den Ring esoterischer Fachproblematik zu durchbrechen;
und derartige Anregungen erscheinen dadurch umso nötiger,
daß allmählich sichtbar wird, daß man allein vom Ich-Du-Schema
her (so sehr dieses einst die Leib-Seele-Problematik sprengen
konnte) nicht die ganze Struktur und alle Dimensionen einer
theologischen Anthropologie gewinnen kann.

Welche Anregungen kann angesichts dessen nun Arnold
Gehlens Aufsatz-Band geben? (Vgl. auch seinen Versuch einer
systematischen Anthropologie in „Der Mensch", 1940, 19627).

Erstens ein erneutes Aufmerksamwerden auf die Frage nach
dem Unterschied zwischen Mensch und Tier. Der Mensch ist
nicht einfach dasjenige Lebewesen, welches statt Hände oder
Gebiß o. ä. das Gehirn spezialisiert hat (etwa als Folge eines
Gezwungenseins zum aufrechten Gang); vielmehr ist das
menschliche Gehirn die Ermöglichung dessen, daß der menschliche
Körper insgesamt unspezialisiert bleiben konnte, auf dem
gleichsam „embryonischen" Zustand des Offenbleibens vieler
Möglichkeiten, einer „unendlichen Plastizität", festgehalten
wird (die Frage nach Ursache und Wirkung lehnt Gehlen hierbei
ab). Da also das Gehirn nicht in Analogie zu einer der
sonstigen üblichen Spezialisierungen angesehen werden kann —
es ist vielmehr das Organ für alle Zwecke, S. 37 -,
kommt dem Menschen doch eine erhebliche Sonderstellung zu,
außerdem dadurch, daß auch seine Umwelt nicht spezialisiert ist,
sondern Welt schlechthin (der Mensch hat keine Umwelt, sondern
Welt, S. 34) und in dem Sinne ist, daß sie ständig vor
neue Aufgaben und Probleme stellt. Andererseits erhält damit
das .Denken' seine biologische Funktion (wie übrigens auch das
Ästhetische, S. 64 ff.) und kann nicht mehr — wie besonders bei
Descartes — als .Substanz' (,Welt Sphäre) für sich in Gegensatz
zum Leib gestellt werden (51).

Zweitens werfen mehrere Aufsätze Gehlens Licht auf das
Problem der bewußtseinsmäßigen Entwicklung des (Vor-)Men-
schen zum sittlichen Wesen (zunächst Aufkommen
eines allgemeinen Soll-Bewußtseins statt spezifischer und nur
reflexartiger Reaktionen im Einzelfall, bes. im Zusammenhang
der frühmenschlichen Religionsübungen), wobei Gehlen zeigt,
daß Bedingung für Höherentwicklung und das Schöpferische
überhaupt eine Entlastung vom unmittelbaren Bedürfnisdruck,
Sprengung des Alltages und der Alltagspflichten, reine Gegenwart
, ja Entrückung wie in der Ekstase ist (S. 74 ff.).

Als ein Drittes scheinen uns besonders wichtig die Untersuchungen
, die das Funktionieren der menschlichen „Gruppe"
zum Gegenstand haben und hierbei — u. a. — zeigen, wie von
Menschen organisierte Einrichtungen die Tendenz haben, in eine
Eigengesetzlichkeit umzuschlagen, Selbstzwecklichkeit zu erhalten
und hierdurch einen neuen eigenen Organismus mit eigenen
Gesetzen (bes. der Selbsterhaltung, Hobbesf vgl. S. 9) auszubilden
. Das ergänzt u. E. die Le Bon'sche These von der psychologischen
Masse als eigengesetzlichem Organismus nach der