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Ausgabe:

1965

Spalte:

619-621

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Müller-Freienfels, Wolfram

Titel/Untertitel:

Ehe und Recht 1965

Rezensent:

Oyen, Hendrik

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619

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 8

620

ETHIK

M ü 11 e r - F r e i e n f e 1 s, Wolfram, Prof. Dr. Dr. Dr. h. c: Ehe und

Recht. Tübingen: Mohr [1962]. XVI, 362 S. gr. 8°. DM 34.—; Lw.
DM 39.-.

Der Verf. dieses breitangelegten und wissenschaftlich hervorragenden
Werkes ist sich bewußt, daß Eherecht eine pathologische
Seite des Rechtes hervorkehrt (S. 317): „Wohl muß das
Eherecht auch bei uns als Rechtspathologie behandelt werden,
aber die geeignete Stelle bleibt dafür ein nach rechtsstaatlichen
Grundsätzen funktionierendes Gericht". Ehe ist nicht bloß Intimbindung
; sie steht nach allen Seiten im Konglomeratensystem
sozialer, wirtschaftlicher, ethischer, geistiger Gefüge drin; so
bleibt es nicht aus, daß sie der „Natur der Sache" nach als eine
Form rechtlicher Ordnung angesehen werden muß. Das bedeutet
eine soziale Aufgabe, deren Bewältigung noch entfernt nicht gelöst
ist. Wie „leidend" das Eherecht heutzutage noch ist, wird
an dem Tatbestand erhellt, daß sich fast die Hälfte des Buches
im V. Kapitel mit „Überholtem und Unbefriedigtem" auseinanderzusetzen
hat. Aus diesem aufwühlenden und scharf analysierenden
Teil des Buches wird klar, wie sehr das Eherecht noch in
alten Relikten des kanonischen Rechtes stecken geblieben ist,
wobei es dann schwer fällt, dessen Verweltlichung, die schon
lange eingesetzt hat, so zu gestalten, daß dabei der geistig-sittliche
Charakter der Ehe respektiert wird. Davon handelt im vorsichtigen
Abtasten der „Möglichkeiten und Notwendigkeiten" Kap VI.
Damit wären wir aber schon auf die Schlußbetrachtungen des
Buches gestoßen; es ist zur Gesamtstruktur vorerst noch zu
sagen, daß es inj zwei Teile aufgeteilt ist, in eine Grundlegung
und in einen Teil, der überschrieben ist: „Das heutige Eherecht —
Negatives und Positives".

Die Grundlegung behandelt zunächst in knappen Zügen geschichtliche
Lösungstypen: das matrimonium librum des klassischen
Roms, die kanonische Ehe des Mittelalters und die Ehe im
„aufgeklärten" Polizeistaat, im Prozeß bürgerlich-juristischer
Verweltlichung. Von dieser Lage sagt der Verf.: „An Hand des
Vertragsbegriffes konstruierte der Staat im Zuge der fortschreitenden
Individualisierung ein Netz von Rechtsbeziehungen in
der Ehe, auf Grund dessen jedem Partner gegenüber dem anderen
eine Fülle ehelicher Rechte zustand . . . Ansprüche, die durch
Erfüllungsklagen vor den Gerichten geltend zu machen waren"
(S. 21). Was im römischen Recht völlig unbekannt war, im
kanonischen Recht jedoch zur Rechtsbasis mit geistlichen Strafen
und Schadenersatzansprüchen ausartete, bekam nun den Charakter
staatlicher Bemühung, wobei sich der Staat anmaßte, sich
in die intimsten Verhältnisse bedenkenlos einmischen zu dürfen.
Das Ziel war lückenlose rechtliche Bevormundung der Ehegatten
. Das Phänomen „Ehe unter öffentlicher Aufsicht" ist
aber auch heutzutage noch entfernt nicht ausgerottet, es ist das
etwas, dem sich der Verf. aufs glücklichste widersetzt.

Schon im folgenden Kap. wird in aller Breite gezeigt, wie
sehr die Ehe und damit auch das Eherecht zwischen Sozialethik
und sozialer Wirklichkeit oszillieren. Gerade in puncto Ehe
greifen Recht, Sitte und Sittlichkeit stark ineinander. Recht befindet
sich hier in einem polyphonen Zusammenspiel außerrechtlicher
Motive. Es kann nur komplementäre, kompensatorische
Wirkung haben in der ehelichen Total-Ambiance geistiger,
sozial-ethischer und wirtschaftlicher Elemente. Wir haben es also
mit einer Tendenz zur Ethisierung des Eherechtes zu tun, wobei
die zunehmende Bedeutung der ehelichen Partnerschaft und die
Forderung zur Gleichberechtigung eine erhebliche Rolle spielen.
Man könnte hier von einer Personalisierung der Ehe sprechen,
und das gibt dem Verf. Anlaß, der rechtlichen Seite nur mit
größter Behutsamkeit Geltung zu verschaffen. Zu enge Scheidungsgesetze
zeitigen bekanntlich trügerische und heuchlerische
Verhaltungsweisen, die mit Recht nicht mehr das Geringste zu
tun haben. So sollen Eherechtsprinzipien nach Ansicht des Verf.
von psychologischen und pädagogischen Einsichten gesteuert
werden. Diese Forderungen führen den Duktus des Werkes nun
auf die Frage nach dem Wesen des Institutionären an der Ehe,
wobei auch auf die theologische Einschätzung, katholisch oder

protestantisch, des Begriffes Ehe-Institution eingegangen wird,
leider auf die moderne evangelische bloß in äußerster Beschränkung
: man behält den Eindruck einer dort herrschenden heillosen
Verwirrung über Begriffe wie Status, Ordnung, Institution
usw. Damit hat der Verf., der in der juristischen Orientierung
erfreulicherweise international vorgeht, sich in puncto Beziehung
des christlichen Glaubens zur Ehe ausschließlich auf die deutsche
Diskussion beschränkt und damit unnötigerweise das Blickfeld
verengt. So wird es leicht verständlich, daß er als Jurist sich dagegen
auflehnt, „alles im weltlichen Eherecht nur auf den Glauben
zu begründen" (S. 87) und ihm die nur-institutionelle Ehe-
Auffassung als ungenügend vorkommt. Ob es daneben noch
andere Möglichkeiten gibt, hat der Verf. leider nicht beobachtet.

Der erste Teil der Grundlegung schließt mit einer prägnanten
Einführung in das sowjetische Eherecht, wobei auf
wenigen Seiten die verschiedenen Stadien der sowjetischen Entwicklung
auf eine neuerdings geforderte „gesellschaftliche Eigenverwaltung
" ehelicher Angelegenheiten geschildert wird. — Wir
können die 10 zur Diskussion gestellten Aspekte des großen
Kapitels „Überholtes und Unbefriedigendes" nicht im Einzeln
erwähnen, geschweige denn auf sie eingehen. Global ist zu
sagen, daß hier eine Fülle von juristischem Material aus der
ganzen zivilisierten Welt (mit Ausnahme Hollands, das bloß auf
S. 114 und S. 247 vorübergehend genannt wird) zusammengetragen
ist, wodurch schon allein das Buch einen hohen informatorischen
Wert bekommt. Kaleidoskopisch werden eherechtliche
Positionen in Skandinavien, Österreich, Frankreich, Schweiz,
England, Japan, Volksrepublik China, USA bis nach Uruguay
und Island beleuchtet. Dabei gelangt der Verf. von seiner ethischgeistigen
Warte aus zu vielen kritischen Beobachtungen, welche
die Lektüre dieses Kapitels zu einer fesselnden Angelegenheit
machen. Wir nennen einige Beispiele. Eingangs wird klargemacht,
daß die heute noch geltende Bestimmung des weltlichen Aufgebotes
, gänzlich der kanonischen Tradition entsprungen, überholt
ist, „er bereitet nicht unerhebliche Arbeit ohne greifbaren Erfolg
" (S. 96). Ebenfalls ist die Unterscheidung nichtige und aufhebbare
Ehen, vom kanonischen Recht dogmatisch geprägt, heute
eine fragliche Sache geworden. Es räumen noch viele Gesetze
unter patriarchalischer Autorität nur dem Ehemann das Alleinentscheidungsrecht
in der Ehe ein, sie sind als überholt zu betrachten
und ignorieren das partnerschaftliche Verhältnis der
Ehegatten.

Das staatliche Strafrecht darf kein Gesinnungs- oder Sitten-
strafrecht sein. So wird damit die Strafbarkeit des Konkubinates
fraglich, ebenso die des Ehebruches. Wird dadurch nicht der Eindruck
erweckt, es sei die Ehe nicht mehr so ernst zu nehmen?
Das ist gewiß nicht ausgeschlossen, aber andererseits kommt
eine Strafbarkeit des Ehebruches dem Verf. doch sehr problematisch
vor. Welcher Eheschutz wäre hier überhaupt zu erreichen,
wenn die Strafbarkeit sowieso erst in Betracht kommt, wenn die
Ehe schon geschieden ist? Es hat sich doch herausgestellt, daß
eine Strafbarkeit, während die Ehe noch aufrecht erhalten wird,
nicht durchführbar ist. Nicht umsonst konstatiert der Verf., § 172
StGB führe ein „Dornröschendasein".

Mit Recht stellt der Verf. fest, daß die Forderung einer Eheerlaubnis
für Beamte (etwa Pfarrer) diskriminierend und gänzlich
veraltet ist. Das gilt auch von nationalen und rassischen Ehehindernissen
. Scharf abzulehnen seien alle politischen dirigistischen
Maßnahmen, gesetzliche Bestimmungen zur „Menschenzüchtung
" und Eugenik zu proklamieren.

Ein zunächst noch sehr dunkles Kapitel bildet die Frage
nach dem richtigen Verhältnis zwischen kirchlicher Trauung und
Zivileheschließung. Die Akten sind hier noch nicht geschlossen,
vorsichtig soll man auf eine Entdramatisierung und Entgiftung
des Konfliktes zusteuern und erst dann wären, so meint Müllcr-
Freienfels, die Grundvoraussetzungen für die Einführung einer
fakultativen kirchlichen Eheschließung, die an Stelle der Zivilehe
treten könnte, gegeben. Wir fragen, ob damit der kirchlichen
Handlung nicht ein zu großes Gewicht beigelegt wird, wobei doch
gerade zu bedenken ist, daß die evangelische Auffassung heutzutage
den kirchlichen Akt eher von jeder Gesetzlichkeit und
politischer Autorität zu befreien versucht (vgl. Karl Barth).