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Ausgabe:

1965

Spalte:

615-617

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Geissler, Bruno

Titel/Untertitel:

In oriente crux 1965

Rezensent:

Rose, Karl

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Seite 1, Seite 2

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615

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 8

616

KIRCHEN- UND KONFESSIONSKUNDE

G e i s s 1 e r , Bruno f, u. Günther S t ö k 1 : In Oriente Crux. Versuch
einer Geschichte der reformatorischen Kirchen im Raum zwischen der
Ostsee und dem Schwarzen Meer, hrsg. v. H. Krimm. Stuttgart:
Evang. Verlagswerk [1963]. 447 S., 3 Ktn. 8°. Lw DM 34.—.

In seinem Vorwort bezeichnet der Herausgeber den dem
„Mutterland der Reformation vorgelagerten Raum" im Osten
als einen „Schauplatz gewaltiger Ereignisse in der Geschichte der
reformatorischen Kirchen" (S. 9). Um diese „mächtige, farbenreiche
und höchst eigenartige Kirchengeschichte der Vergangenheit
zu entreißen, in die sie nach den gewaltigen Völkerverschiebungen
zu versinken droht" (S. 9), ist die Arbeit von
B. Geissler geschrieben, mit der er etwas „Versäumtes" nachgeholt
habe. Während seiner langjährigen Tätigkeit als Generalsekretär
des Gustav-Adolf-Vereins, die ihn durch die weiten
Räume vom Baltikum bis nach Bessarabien führte, habe er, wie
er selbst zugibt, zuviel Aufmerksamkeit den „überall eingesprengten
evangelischen Gemeinden deutscher Zunge" geschenkt
und zu wenig „die großen Kirchenkörper anderen Volkstums
beachtet", deren „Größe und Bedeutung" ihm zuletzt aufgegangen
sei (S. 15).

Ein derartiges Bemühen ist sehr begrüßenswert. Es trägt
dazu bei, das allgemein lückenhafte Wissen über die Ausbreitung
der Reformation im Osten aufzufüllen. Man muß zugeben
, daß unser Interesse für die Geschichte der reformatorischen
Kirchen hauptsächlich westlich orientiert ist, was aber die Reformation
in Osteuropa geleistet hat, darüber bestehen nur vage
Vorstellungen.

Der zündende Funke der Reformation sprang nicht nur auf
die Deutschen im Baltikum und Siebenbürgen über, sondern
auch auf die anderen Völker: Finnen, Esten, Letten, Polen,
Litauer, Tschechen, Slovaken, Ungarn erschlossen sich der Reformation
und bildeten festgefügte Kirchenkörper evangelischen
Glaubens.

Bruno Geissler ist bemüht, uns ein lebendiges Bild von der
wechselvollen Geschichte dieser Kirchen zu vermitteln. Darin
liegt der Wert seiner Arbeit. In erzählender Weise stellt er die
wichtigsten historischen Tatsachen im Leben dieser Kirchen dar.
Er behandelt weniger ihre inneren Belange, z. B. Aufbau und
Struktur, diese deutet er nur an, sondern befaßt sich vielmehr
mit ihren Beziehungen zur Umwelt, zu den politischen Mächten:
ihrem Existenzkampf mitten im Strom der wechselvollen,
schweren politischen Ereignisse gilt seine besondere Aufmerksamkeit
. Trotz mancher Unrichtigkeiten und Fehler, die dem
Verfasser unterlaufen sind, auf die wir noch hinweisen werden,
wird der Leser — Theologe und Laie — das Buch mit Interesse
und Gewinn lesen dürfen. Sein Stil ist flüssig und lebendig.

Der Titel des Buches ,,In Oriente Crux" will den besonderen
historischen Weg der reformatorischen Kirchen in Osteuropa
andeuten. Dieser Raum war nicht nur von tiefen konfessionellen
Spannungen erfüllt, denn hier standen einander
Katholiken, Orthodoxe, Unierte, Lutheraner, Reformierte,
Böhmische Brüder, Antitrinitarier u. a. gegenüber, sondern er
war auch ein Schauplatz erbitterter politischer und nationaler
Kämpfe. Hier kreuzten sich die Interessen der Türkei, Rußlands,
Schwedens, Polens, Österreich-Ungarns und Preußens. National-
politische Leidenschaften griffen oft auch auf das kirchliche
Leben über und zerstörten die christliche Brüderlichkeit. Diese
Crux bedeutet: einen von äußeren Mächten aufgezwungenen
Kampf um Glaubensfreiheit, aber auch selbstverschuldete „babylonische
Gefangenschaft" — zweien Herren dienen zu müssen.
Beides wird vom Verfasser herausgestellt und aufgezeigt, in
welche inneren und äußeren Widersprüche die Kirchen gerieten.

Der Inhalt des Buches ist in sechs Kapitel gegliedert:

1. Die Christianisierung Osteuropas (S. 17—31), 2. Am
Rande des Baltischen Meeres (S. 32-81), 3. Polen (S. 82—213).
4. Im Reich der Wenzelskrone (S. 214—290), 5. Unter der
Stephanskrone (S. 291—389), 6. Im Zarenreich (S. 390—425.

Im Schriftverzeichnis wird auf die einschlägige Fachliteratur
hingewiesen. Auf zwei Karten ist der Konfessionsstand von

1546 und 1900 eingezeichnet. Ein ausführliches Namens- und
Ortsverzeichnis dient zur schnellen Orientierung.

Verfasser des 1. Kapitels — der Kölner Slavist G. Stökl —
behandelt kurz die Christianisierung der slavischen Völker, die
in der Zeit vom 8. —11. Jh. von Rom und Byzanz durchgeführt
wurde: die Westslaven in den Räumen von Kärnten bis zur
Weichsel als Wirkungsbereich der fränkisch-weströmischen
Mission, die Süd- und Ostslaven, die vom Peloponnes bis nach
Nowgorod auseinandergezogen lebten, als Einflußsphäre der
byzantinisch-oströmischen Mission.

Der Hauptteil (Kapitel 2—6), die Arbeit von Bruno Geissler,
befaßt sich mit der Geschichte der evangelischen Kirchen,
Lutherische Kirchen (Kap. 2) im Baltikum und die evangelische
Diaspora in den weiten Räumen der Sowjet-Union (Kap. 6)
werden sehr kurz behandelt. Um so ausführlicher aber geht der
Verfasser auf die Geschichte der reformatorischen Kirchen in
Böhmen, Mähren, der Slovakei, Polen, Ungarn und Siebenbürgen
ein und vermittelt uns von ihren Geschicken ein bewegtes Bild:
mächtige Ausbreitung der Reformation, Gegenschläge der katholischen
Reaktion oder Gegenreformation, Glaubenstreue bis zum
Martyrium und menschliches Versagen — Scheinverleugnung des
Glaubens und Abfall, politische Händel, faule Kompromisse und
Waffengewalt in Fragen des konfessionellen Standes. Wer diese
Darstellung von Geissler aufmerksam liest, wird als Christ von
der Glaubenskraft der Evangelischen beeindruckt, aber auch von
Demut erfaßt wegen der menschlichen Leidenschaften und Wahl
der Mittel der Christen, um ihre Ziele zu verfolgen, und zur
Vorsicht gemahnt, mit erhobenem Zeigefinger auf die Ungläubigen
zu zeigen.

Geisslers Arbeit ist keine streng wissenschaftliche Darstellung
, sondern nur ein Versuch, die wichtigten historischen
Tatsachen herauszustellen. Leider kommen darin häufig sachliche
Fehler vor, die leicht vom Herausgeber zu vermeiden gewesen
wären. Hier einige Beispiele:

Es ist unrichtig, wenn man von Reformation und Gegenreformation
im Ermland spricht (S. 32). Die Hohenzollern Joachim
II. und Herzog Albrecht waren keine Brüder (S. 36). Bugenhagen
starb 1 558, er konnte daher nicht der Autor der dänischen
Kirchenordnung 1562 sein (S. 47). Peter d. Gr. als Freigeist
, Gottlosen und Heiden zu bezeichnen (S. 56), geht entschieden
zu weit. Würde man nach dem Maßstab des Verfassers
auch alle anderen Herrscher beurteilen, dann könnte man kaum
jemand in Ost und West finden, der nicht unter dieses Verdikt
fiele. Die Schrift des deutschen Romantikers Garlieb Merkel
„Die Letten vorzüglich in Liefland", kann man nicht „stark
übertrieben" nennen, denn die Letten haben sie anders eingeschätzt
: 6ie haben sie als Spiegel ihres Lebens begrüßt und als
ihrem geistigen Befreier ein Denkmal bei Riga errichtet (S. 5 8).
Nach der russischen Revolution 1905 gab es keine Grenze
zwischen Kurland und Livland, die die Letten voneinander
trennte (S. 73). Daß „nach 1905 Tausende der Letten und Esten
in die Emigration nach Amerika gingen (S. 74), ist zu hoch
veranschlagt. Das Kiewergebiet wird nicht als Westukraine bezeichnet
(S. 96). Der französische Thronbewerber Polens hieß
nicht Prinz Conti, sondern Prinz Conde (S. 97). Die Russen
beten nicht „Gospodin", sondern „Gospodi pomiluj" (S. 116).
Der Lausitzer Arzt Peuker war nicht der Schwager, sondern der
Schwiegersoln Melanchthons (S. 346). Der dänische Prinz Hans,
der die Zarentochter heiratete, starb 1602, also konnte er nicht
1606 bei einem evangelischen Gottesdienst im Kreml anwesend
sein (S. 391). „Nemezkaja Sloboda" nannten die Russen die
Ausländer-Siedlung in Moskau, in der die Ausländer frei nach
ihrem Glauben und ihren Sitten leben durften. Jeder Ausländer
war für sie „nemez". Die Bezeichnung „sloboda" ist ein russischer
Provinzialismus für „swoboda" = Freiheit. Daß es den
Ausländem untersagt war, rechtgläubige Russen als ihre Dienstleute
zu halten, sondern lediglich „moslemische Tataren oder
buddhistische Mongolen" zu beschäftigen, entspricht nicht den
Tatsachen. Das zaristische Gesetz untersagte nur die Ausbreitung
des fremden Glaubens unter den Rechtgläubigen sowie Lästerung
ihrer Heiligen (S. 392). Die Vokabeln „pravoslavisch", die der
Verfasser so häufig an die Stelle von orthodox oder rechtgläubig