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Ausgabe:

1965

Spalte:

611-614

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Gensichen, Hans-Werner

Titel/Untertitel:

Missionsgeschichte der neueren Zeit 1965

Rezensent:

Göbell, Walter

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 8

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KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, hrsg. v. K. D.
Schmidt u. E. Wolf. Band 4.

Lfg. T.: Censichen, Hans Werner: Missionsgeschichte der neueren
Zeit. IV, 62 S. DM 8.80.

Lfg. R (1. Teil): Beyreuther, Erich: Die Erweckungsbewegung.

IV, 48 S.

Lfg. N (1. Teil): Heyer, Friedrich: Die katholische Kirche vom
westfälischen Frieden bis zum ersten vatikanischen Konzil. IV, 195 S.

Kart. DM 20.—.

Lfg. S: Kawerau, Peter: Kirchengeschichte Nordamerikas. — B e g -
rieh, Martin: Kirchengeschichte Brasiliens im Abriß. — Jacobs,
Manfred: Die Kirchengeschichte Südamerikas spanischer Zunge. IV,

63 S. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1961/63]. gr. 8°.

Dieses in rascher Folge erscheinende Handbuch wird nicht
nur bei Studenten, Pfarrern und Lehrern sowie wissenschaftlich
interessierten Laien sehr dankbar begrüßt werden, sondern
unterrichtet auch vielfach den Wissenschaftler über den Stand
der Forschung. Es überwindet die Stagnation, die seit dem
letzten Erscheinen des Krügerschen Handbuchs vor mehr als
drei Jahrzehnten eingetreten war. Schon auf einem früheren
Theologentag war in der Sektion Kirchengeschichte die unübersichtliche
Anlage des Krügerschen Handbuchs mit dem überladenen
Apparat kritisiert worden. Aus diesen Schwierigkeiten
führt das neue Handbuch „Die Kirche in ihrer Geschichte" durch
eine glückliche Konzeption hinaus. Die Aufteilung der Bearbeitung
an mehrere Mitarbeiter ermöglicht den Herausgebern Kurt
Dietrich Schmidt f und Ernst Wolf die Bewältigung des umfangreichen
Stoffes der Kirchengeschichte in wissenschaftlich zuverlässigen
Einzeldarstellungen. Man möchte diesem Handbuch der
Kirchengeschichte wünschen, daß den Herausgebern mit dieser
Neuschöpfung ein unentbehrliches Standardwerk der Theologie
gelingen möge, wie es Bruno Gebhardts „Handbuch der deutschen
Geschichte" begrenzter für die Geschichtswissenschaft darstellt.
Das Studium der bisher erschienenen Lieferungen rechtfertigt
vollauf diese Erwartungen.

Hans-Werner Gensichen hat in seiner „Missionsgeschichte
der neueren Zeit" eine anerkannt wertvolle Darstellung
über die neuere Missionsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert
gegeben. In seiner kritischen Durchleuchtung der Missionsgeschichtsschreibung
räumt er den gegen Luther und die lutherische
Orthodoxie erhobenen Vorwurf aus, sie hätten kein Verständnis
für die Mission, in der Sicht der institutionalisierten
Sendungsunternehmung der Neuzeit weder „Missionssinn" noch
„Missionstat" aufzuweisen gehabt. Die Wendung sei einerseits
aus besserem Verständnis der Reformation (K. Holl, W. Eiert),
andererseits aus vertiefter Besinnung auf das Wesen der Mission
gekommen, „die sich vom Schema des 19. Jh. freizumachen und
den eigenen Missionsbegriff der reformatorischen Kritik auszusetzen
wagte, statt die Reformation vor den Richterstuhl
moderner Missionskonzeption zu ziehen." Bei Luther gibt es
keine isolierte Theologie und Methodik der Heidenmission,
„weil seine gesamte Theologie die missionarische Dimension
bereits in sich trägt: Die Lage des Menschen vor Gott ist stets
und überall die des .Heiden', bis hinein in die Christenheit".
Und die Missionstat? Die binnenländische Lage der Reformationsgebiete
und der Mangel an eigenen Mitarbeitern, „zumal
nach dem Ausfall des Mönchtums", hätten es nicht zu einer
lutherischen Sendungsveranstaltung kommen lassen. Calvin gehört
in der grundsätzlichen Stellung zur Mission eng mit Luther
zusammen. Im 17. Jh. wird der Schwerpunkt von den binnenländisch
abgeschlossenen lutherischen Kirchen, bei denen die
Missionsverpflichtung Gegenstand theologischer Diskussionen
wird, in den reformierten Bereich verlagert, wo eine Epoche
kolonialer Expansion auch zu missionarischer Aktivität führt.
Der Neueinsatz protestantischer Mission im 18. Jh. (B. Ziegenbalg
in Tranquebar; Brüdermission) und das vielgestaltige Bild
der Missicnsbewegung werden sichtbar; sodann der neue Aufbruch
in der Erweckungszeit (baptistischer Prediger William
Carey mit Weltmissionsprogramm), schließlich die neue studentische
Missionsbewegung (Joh. R. Mott) als Vortrupp der ökumenischen
Bewegung, hinzu kam die Deutsche Christentumsgesellschaft
(Urlsperger, Steinkopf), Basel, J. E. Goßner und

Gründungen in Schweden und Norwegen. Als Gesamtertrag der
kirchlichen Missionsbewegung (Anglikanisierung in Südindien;
L. A. Pelri, Graul-Leipzig, Ludwig Harms, Löhe, Chr. Jensen-
Breklum) nach einer Annäherung von Neupietismus und Orthodoxie
verzeichnet Gensichen, daß erstmals „weite Kreise der
Gemeinden durch die geistlichen Kräfte der missionarischen
Erweckung angerührt und ihrer Verantwortung für das weltweite
Evangeliumszeugnis bewußt wurden". Im „Großen Jahrhundert
" der Mission 1815—1914 wurde die christliche Kirche
wesentlich durch die Mission erstmals im vollen Sinne weltweit.
Die Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 sammelte die
divergierenden Kräfte und legte die Fundamente für eine über
die Welt gehende missionarische Zusammenarbeit (Internationaler
Missionsrat 1921). Es folgen die Weltmissionskonferenzen
von Jerusalem bis Ghana 1958 mit neuen Fragen: Das Entstehen
der „jungen Kirchen", das Verhältnis von Mission und
Kirche und die Relation von Mission und Kircheneinheit. Die
gegenwärtige missionarische Lage in der Welt wird eingehend
besprochen. Auch die Missionsgeschichte der römischen Kirche
ist aus der Fülle des Stoffes, vor allem der Ordensliteratur,
mit der gleichen Sorgfalt und historiographischem Können in
Grundzügen dargeboten: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis
zum Neuansatz in der Gründung der Congregatio de Propaganda
fide 1622 als Ausgangspunkt einer missionsmethodischen Umwälzung
, Niedergang der Mission im 18. Jh., wo die Mission
mit der Kolonialpolitik verknüpft, der chinesische Ritenstreit
wiederauflebte, die Jesuitenmission durch die Aufhebung des
Ordens getroffen, die Französische Revolution in Übersee und
Heimat die Mission lähmte, und der Neuaufbau der Mission
unter Gregor XVI. und Leo XIII. sowie Gründung neuer Kongregationen
im Missionsdienst, das „Werk der Glaubensver-
breitung" (Lyon) und Belebung der Missionswissenschaft (Institut
von J. Schmidlin in Münster); schließlich seit 1914 bis zur
Gegenwart, Straffung der zentralen Missionsleitung in Rom, Erhebung
von Missionsvereinen zu päpstlichen Werken, Abbau
des Protektoratssystems, Heranbildung eines einheimischen
Klerus, Aufnahme von Asiaten und Afrikanern in das Kardinalskollegium
. Dazu weist Gensichen auf den problematischen Charakter
einer Methode hin (S. 50), die einerseits hart an die
Grenze des synkretistischen Kompromisses führen kann, andererseits
doch in der Bindung der einheimischen Kirche an die
kuriale Oberleitung und westliches Kirchenrecht eindeutig
„europäisierende" Elemente beibehält. Damit hat der Verfasser
das fortbestehende Problem voll umrissen. Jedem Kapitel ist
eine Einführung in die russisch-orthodoxe bzw. orthodoxe Mission
zugeordnet.

Für eine kritische Gesamtdarstellung der Erweckungsbewegung
liegen die Voraussetzungen hinsichtlich der
Quellen und der genauen Kenntnis internationaler Spezial-
forschungen noch nicht vor. Erich Beyreuther bringt einen
ersten Aufriß der Geschichte und inneren Struktur der Erweckungsbewegung
in Europa und Nordamerika. Er zeigt damit
erneut, daß die Erweckungsbewegung einen wichtigen Ausschnitt
der neueren Kirchengeschichte ausmacht. Dabei werden von ihm
die wenig geklärten theologiegeschichtlichen Zusammenhänge
angeschnitten, nämlich mit dem späten Pietismus des ausgehenden
18. Jahrhunderts, den Einwirkungen des Idealismus und der
Romantik, und schließlich den Auseinandersetzungen mit der
Aufklärung, von der auch positive Impulse zuströmen. Zu den
offenen und nicht einstimmig gelösten Problemen gehört auch
die wichtige Frage, in wie weit die Erweckungsbewegung im
politischen Raum das konservative Staats- und Gesellschaftsbild
der Restauration fast unbesehen übernommen hat. Trotz
ihres differenzierten Auftretens und zeitlichen Abstandes zwischen
der angelsächsischen und der kontinentalen Bewegung
lassen sich Gemeinsamkeiten beobachten, die im Gegensatz zum
Aufklärungschristentum und im Selbstverständnis einer elementaren
Bußbewegung liegen mit der Rückkehr zum Bibelglauben.

Die Darstellung des Verlaufs der Erweckungsbewegung in
den verschiedenen protestantischen Kirchengebieten mußte im
Zuge des Gesamtplanes sehr verdichtet werden, vor allem wohl
in den einzelnen deutschen Landeskirchen und in Skandinavien.