Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1965

Spalte:

548-552

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Konrad, Joachim

Titel/Untertitel:

Die evangelische Predigt 1965

Rezensent:

Kiesow, Ernst-Rüdiger

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

547

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 7

548

tomen vergröbert und — wenngleich meist verzerrt — doch auch
verdeutlicht. Um einen Begriff von der Mühsal zu geben, die der
sozialpsychologische Forscher auf sich genommen hat, sei sein
Satz zitiert: „Insgesamt sind 30 000 Stunden der Erfahrung in
der Zweipereonenbeziehung (Analysand/Analysator) der Rostoff
dieses Buches."

Ein schweizerischer Rezensent (der freilich kein Aufklärer
und Positivist wie M. ist) rühmt doch den „ungeheuren Willen
des Verfassers zur persönlichen Freiheit, zur kritischen Geisteshaltung
, zum Realitätsdenken"; hier wird der Maßstab bei
Namen genannt, nach dem M. alles, was gesellschaftlich von Belang
ist, bewertet. Was bloß der Regression dient und die kritische
Helle des Bewußtseins verfinstert, ist schlechthin verwerflich.
„Emanzipation" heißt sein Kern- und Kerbwort. Schluß also mit
der bequemen Treue zu den imagines von „Vätern". Diesen
„eignet heut nicht mehr jene ordnende potestas, die ihnen die
konservative Phantasie (noch immer) zuschreiben will". Wir
sehen: damit sind Tradition, geistiges Erbe, Sitte, überhaupt
Objektivarionen von Menschheitserfahrungen kurzerhand beiseite
getan.

Wer noch an jenen imagines hängt, wer den mythischen
Gott der Bibel und überhaupt die Gottesbilder der Religionen
noch nicht als Über-Ich durchschaut hat (Über-Ich im Sinne
Freuds), wer sich von den meist schon früh vollzogenen Identifikationen
noch nicht frei gemacht hat, wer noch meint, er könne
trotz der „drei großen Kränkungen" (Freud), die der Mensch
erfahren hat, als traditioneller Christ weiterleben — der leidet
an „paranoischer Realitätsverkennung"; wobei verdeutlichend
wiederholt sei, was M. unter dem Christlichen versteht („ein
sakrales Wissen, das das sacrificium intellectus in dieser Welt
verlangt") und jene drei Kränkungen näher erläutert seien: die
erste, verursacht durch Kopernikus, der den Menschen in kosmische
Privileglosigkeit stürzte; die zweite, durch Darwin, der
den Menschen seiner Sonderstellung gegenüber dem Tierreich beraubte
; die dritte, durch Freud, der die unbewußte Seelentätigkeit
entdeckte, „die dem vernünftigen Ich die Herrschaft über
das Selbst streitig macht" (Mitscherlich).

Der Rezensent ist in Versuchung, eine Abbreviatur des
ganzen Buches zu geben; er muß sich aus technischen Gründen
mit den gegebenen Andeutungen begnügen. Zusammenfassend
ist nur noch zu sagen: Wie alle enragierten Einzelwissenschaftler
ist M. von den Grundkategorien seines Forschungsbereichs derart
fasziniert, daß er sie für absolut und universal zu halten
scheint und zum Beispiel nicht einzusehen vermag, daß der Begriff
Evolution (sc. zu immer breiterer kritischer Bewußtheit)
durchaus seine Geltung6grenzen hat und daß er außerdem in sich
dialektisch ist (am besten nachzulesen in Jonas Cohns „Theorie
der Dialektik"), d. h. daß er — durchdacht, zu Ende gedacht —
Gedankengänge impliziert, die den Widerspruch als Erkenntnismittel
benutzen (gesetzt, man läßt mit Hegel den Widerspruch
überhaupt in dieser positiven Weise gelten). Und was M. als
Aufklärung rühmt — nämlich die Einsicht in die Abhängigkeit
der Willensentscheidungen von den Vorgegebenheiten der Triebkonstitution
und von den Triebschicksalen, wie 6ie sich unter
den Bedingungen der sozialen Mitwelt gestalten —, so wäre die
Gegenfrage zu stellen, ob diese psychologisierende Relativierung
der Willensfreiheit sich nicht schlicht selbst aufhebt. Zudem
müßte man freudianisch die den Verfasser entlarvende Frage
stellen: ob er nicht selber der Vaterbindung unterliege, wenngleich
der negativen. Doch, wie gesagt, sind in dem Buch der
positiven Einzelfeststellungen so viele, daß wir es Psychologen
und Seelsorgern gern empfehlen. Diese Einsichten sind oft weithin
unabhängig von dem das Ganze tragenden bornierten Begriffssystem
. Ich gebe völlig unsystematisch nur Stichworte, die
diesen Reichtum ahnen lassen sollen: der aggressive Triebüberschuß
; das Individuum als Rollenwesen; Exkurs über die Triebdynamik
; Väter, die von den Söhnen lernen können; Entväter-
lichung in der überorganisierten Gesellschaft; vom geahnten zum
gelenkten Tabu; von der ödipalen Rivalität zum Geschwisterneid.
Berlin Helmuth Burgert

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Konrad, Joachim: Die evangelische Predigt. Grundsätze und Beispiele
homiletischer Analysen, Vergleiche und Kritiken. Bremen: Schüne-
mann [1963]. 527 S. kl. 8° = Sammlung Dieterich, Bd. 226. Lw.
DM 17.80.

Dieses Buch des Bonner Praktischen Theologen widerlegt
einmal mehr die Äußerung Goethes, er bedauere „unsere guten
Kanzelmänner, welche sich eine seit fast zweitausend Jahren
durchgedroschene Garbe zum Gegenstand ihrer Tätigkeit wählen
müssen" (Brief an F. Müller, 16. 8. 1828, WA IV, Bd. 44,
S. 276); denn es zeigt in dem Reichtum der homiletischen Gestaltungen
die unermeßliche Vielfalt der Aussagen, die dem
evangelischen Prediger von der biblischen Botschaft, von der
Situation der Gemeinde und von seinen eigenen Möglichkeiten
her aufgegeben sind. Doch nicht so sehr um eine „Phänomenologie
der protestantischen Predigt" hat sich Verf. bemüht, als
vielmehr um „eine homiletisch .problemgeschichtliche' Interpretation
ihrer Strukturen" (12). Darum sei sogleich auf die
„Grundsätze" hingewiesen, die Verf. für die Bearbeitung homiletischer
Beispiele empfiehlt und selbst anwendet; sie sind am
Schluß des Buches dargelegt (479—521).

Dort wird zunächst die Differenzierung zwischen „Darstellender
Analyse", „Grundlagenanalyse" und „Gestaltanalyse" der Predigt vorgenommen
. Die erste soll den hauptsächlichen Inhalt, den Aufbau und
die Gedankenführung der Predigt nachzeichnen. Bei der Grundlagenanalyse
wird nach der „biblischen Fundierung" (Textwahl, Exegese,
Schriftverständnis) und nach der „kirchlichen Fundierung" (konfessionelle
und liturgische Bindung, diakonische, seelsorgerliche und missionarische
Ausrichtung auf die „Oikodome" der Gemeinde hin und
theologische Bestimmtheit) gefragt. Im Blick auf die Gestaltanalyse
betont Verf. — und das ist durchgängig eines seiner wesentlichen Anliegen
— die genuine Einheit von Form und Gehalt der Predigt: Er
untersudit hier also 1. Die „Vergegenwärtigung" ihrer Botschaft, d. h.,
wie sie dargeboten, erläutert, angeknüpft und übertragen wird („Es
gibt keine Kriterien für" die „Selbstvergegenwärtigung des lebendigen
Gottes im Wort der Predigt. Analysierbar und überprüfbar ist nur
die in der Predigtgestalt zum Ausdruck kommende Intention auf Vergegenwärtigung
des Schriftwortes als viva vox evangelica", 491), —

2. die „Begegnung" in der Predigt als Anrede an den Einzelnen und an
die Gemeinde, als „existentielles Verstehen" und als aktueller Bezug;

3. die „Bezeugung" sowohl in ihrer persönlichen Prägung wie in ihrer
homiletischen Argumentation und Appelation — und schließlich 4. die
Predigt als „öffentliche Rede" mit den Aspekten der Komposition,
des Stils, der Sprache und des Vortrags, die „an den allgemeinen
Forderungen einer ihrem Gegenstand entsprechenden Rhetorik partizipieren
, ohne ihnen doch preisgegben zu sein" (500). In diesem Zusammenhang
setzt sich Verf. übrigens nachdrücklich für die frei gehaltene
Predigt ein (506 oben).

Für den dann folgenden Abschnitt der „Grundsätze", der ganz
kurz die Probleme des Predigtvergleichs aufzeigt (506—508), soll nur
der eine Satz stehen: „Das rechte Geltenlassen der besonderen Wege
im Abwägen des Notwendigen macht die Kunst des Predigtvergleichs
aus" (507). — Der dritte und letzte Abschnitt behandelt „Die Kritik
der Predigt", die „im Hinblick auf die gebotene Aufgabe der Predigt
die Frage nach ihrer sachgerechten Lösung" stellt (510), und gibt das
dafür erforderliche „System der Maßwerte" an (512 ff.). Es finden sich
hier zunächst die der Grundlagenanalyse entsprechenden Kriterien:
Offenbarungsgemäßheit, Schriftgemäßheit, Textgemäßheit und theologische
Richtigkeit sowie Bekenntnis- und Gemeindegemäßheit (im
Sinne der Oikodome). Daran schließen sich korrelativ zur Gestaltanalyse
die „Maßwerte der personalen Funktionen des Predigers" an,
die seine „Gaben", seine „Wahrhaftigkeit", seinen „Verantwortungsernst
", seine „Eigenständigkeit" und „Bezeugungskraft" betreffen, —
ferner die Kriterien der wort- und situationsgerechten „Präsentialität",
des „existentiellen Kontakts", der gemeindegemäßen „Konkretion"
sowie der weltbezogenen „Aktualität" — und endlich als Normen für
die rhetorische Form: Sachgerechtigkeit, Verständlichkeit, Unmittelbarkeit
und Zeitgemäßheit des sprachlichen Ausdrucks der Predigt.

Die vorstehende Aufzählung in Stichworten kann nur andeuten
, daß Verf. hier in dankenswerter Bemühung die Kategorien
für eine empirisch-wissenschaftliche Untersuchung und
Wertung der einzelnen Predigt zusammengetragen und bereitgestellt
hat; aber sie vermag kaum eine Vorstellung davon zu
geben, welche Vielzahl an homiletischen Einsichten und Grundregeln
dabei in komprimierter Form verarbeitet bzw. neu formuliert
worden ist (vgl. auch das beigefügte Literaturverzeichnis,
523—527, das immerhin noch in gewissen Grenzen bleibt).