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Ausgabe:

1965

Spalte:

542-544

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Entmythologisierung und existentiale Interpretation 1965

Rezensent:

Jüngel, Eberhard

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 7

542

seinem eigentlichen Ziel, so gewinnt von hier aus das Problem
der „Tradition im Lichte des ,Sola scriptura'" (125—127) neue
Konturen: Das Evangelium gibt die Freiheit zum Gebrauch der
Traditionen, zum Eingehen und Sich - Einlassen auf sie, da sich
„die traditio jenes einen traditum tradendum nur in der Vielfalt
von Traditionen vollzieht" (126). Doch „nicht die Wahrung
und Weitergabe der Traditionsinhalte und -formen als solcher,
sondern nur deren rechter Gebrauch als Weisen und Mittel des
Evangeliums wird dem Überlieferungsgeschehen gerecht" (127).

In dem abschließenden Aufsatz von Kristen E. S k y d s-
gaard über „Tradition und Wort Gottes" (128—156) wird
das Traditionsproblem unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses
des Wortes Gottes zur „Tradition als Entfaltung der
Offenbarungserkenntnis" (128) angegangen: Die für die gegenwärtige
kontroverstheologische Situation noch immer zu beachtenden
, da das katholische Traditionsverständnis wesentlich bestimmenden
Konzeptionen eines Möhler (134—137) und Newman
(137—143), die die Tradition als dynamischen Prozeß der Interpretation
und Entfaltung der Schrift (Möhler) bzw. der Offenbarung
selbst (Newman) verstehen, verlangen zu ihrer theologischen
Würdigung von evangelischer Seite eine Besinnung darauf,
„was Gottes Wort eigentlich ist" (143 ff.). Im Andiluß an Luther
bestimmt S. es als mündliches Verkündigungswort und darin
lebendigmachendes Wort, in dem Gottes Selbstmitteilung an den
Menschen statthat und das darum jeden starren Biblizismus ausschließt
. Es wird der Kirche durch das biblische Zeugnis nahegebracht
. Daher ist die Schrift „in ihrer Priorität im Verhältnis
zur Kirche . . . unabhängig davon, daß es die Kirche war, die das
Buch der Bibel gesammelt und zum .Kanon' gemacht hat" (146).
Die Bibel ist so, obwohl mit der Kirche untrennbar zusammengeschlossen
, ihr doch in „absoluter Priorität" vorgeordnet, „repräsentiert
" sie doch das über und vor der Kirche stehende Wort
Gottes selbst. Entsprechendes gilt auch für jegliche Tradition in
der Kirche: „Echte Tradition ... ist [allein] die durch alle
Zeiten geschehende Vermittlung des einen Gotteswortes in Jesus
Christus" aufgrund und mit der Schrift (148). Von daher ist
der Begriff der Tradition nicht nur als soziologische, sondern als
streng theologische Kategorie zu fassen und in der Dialektik von
Traditionstreue und Traditionskritik zu bestimmen: Christus ist
der „Inhalt der christlichen Tradition" so, daß die Überlieferung
von ihm und die Überlieferung seiner selbst gegen jede menschliche
und kirchliche Tradition streitet (151). Damit ist zugleich
die Frage nach dem richtigen Schriftverständnis beantwortet: So
gewiß es eine nicht von vornherein illegitime „rückwärtsgehende"
Interpretation der Schrift gibt (wie 6ie die katholische Theologie
übt), in der das Spätere (also die Tradition) beim Verstehen des
Früheren eine wesentliche Rolle spielt, „weil das erkennende
Subjekt, das im Verhältnis zum Erkannten später ist und damit
selbst ein Glied der Tradition wird, ein konstitutiver Faktor in
der Erkenntnis ist" (15 3 f.), so gewiß kann aus einer solchen „allgemeinen
traditions-hermeneutischen" Einsicht nicht gefolgert
werden, daß damit das Spätere Kriterium und Norm des Früheren
werden kann und muß. Evangelisches Schriftverständnis
tritt, eben um der Dialektik von Traditionstreue und Traditionskritik
willen, in Gegensatz zum „Prinzip der Tradition als einzigem
Interpretationsprinzip". Denn „biblisch denken bedeutet
,vom Anfang her' denken, .ursprünglich' denken" (153 f.). So ist
das Verhältnis von Wort Gottes, wie es in der Schrift bezeugt
wird, und Tradition dahin zu bestimmen, daß die Schrift die
Tradition — als „Interpretationskette" ihrer selbst — stets durchbricht
und sich selbst zu verstehen gibt. „Dieses Faktum ist die
Krisis aller Traditionen, aber zugleich ihre Hoffnung" (156).

Eine von Gerhard Pedcrsen zusammengestellte Bibliographie
von zwischen 1930 und 1962 ersdiienenen Arbeiten zum Thema der
Tradition (157—169) bildet in willkommener Weise den Abschluß des
Bandes.

Der angezeigte Band stellt einen wesentlichen Beitrag nicht
nur zum kontroverstheologisch und ökumenisch aktuellen und
dringlichen Problem Schrift und Tradition, sondern auch zum umfassenderen
und erst annähernd gesichteten und aufgenommenen
Problem der Tradition im allgemeinsten und grundsätzlichsten
Sinn dar. Daß er trotz allem thematischen Reichtum im wesentlichen
nur erst Markierung des Ausgangspunktes und Grundlegung
für das weiterzuführende Gespräch ist, ist nicht als Einschränkung
, sondern als uneingeschränkte positive Bewertung
zu verstehen. Und entsprechend ist es nicht sein Mangel, sondern
sein Verdienst, daß er viele Fragen (nicht: offen läßt, sondern
:) eröffnet, die weiterhin zu bedenken sind, wie etwa (willkürlich
und ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannt): das
Verständnis der Schrift selbst unter der Kategorie der (Ur-) Tradition
und die auch für sie geltende und auf sie anzuwendende
Dialektik von Traditionstreue und Traditionskritik, das Problem
einer biblisch orientierten und normierten systematisch-dogmatischen
Theologie (für die das Verhältnis von Schrift und Tradition
vielleicht anders gesehen und bewertet werden muß als für die
— strukturell von ihr unterschiedene — Verkündigung), der Begriff
und die Kategorie des Dogmas im Horizont von „Tradition"
usw., nicht zuletzt auch der Gebrauch der Begriffe „Wort",
„Sprache", „Rede" in ihrer analogen (univoken oder äquivoken?)
Anwendung auf Gott („Wort Gottes") und den Menschen
(„Menschenwort"), und zwar nicht nur in Hinsicht auf die Verkündigung
, wie es fast ausschließlich geschieht, sondern auch in
Hinsicht auf die systematisch-dogmatische Aussage. In diesem
allen kann und muß das Problem der Tradition und in und mit
ihm das Problem der Schrift, wie es von der Reformation mit
dem „Sola scriptura" beantwortet und „gelöst" worden ist, zu
umfassender Darstellung kommen.

An Druckversehen sei nur genannt: Die Anmerkungen zu dem
Vorwort der Herausgeber wie zu dem Artikel von Leuba ersdieinen
auf S. 170 unter dem Artikel von Greenslade. Dafür fehlen dessen Anmerkungen
teilweise und sind zudem in der Zählung verweohselt.

Münster/W. Klaus Haendler

K e r y g m a und Mythos VI, 1. Entmythologisierung und existentiale
Interpretation. Hamburg: Reich 1963. 248 S. gr. 8° = Theologische
Forschung. Wissenschaftl. Beiträge z. kirdil.-evangelischen Lehre,
hrsg. v. H.-W. Bartsch u. a., XXX. Kart. DM 20.-.

Der erste Teil des VI. unter dem Titel „Kerygma und
Mythos" herausgegebenen Sammelbandes bietet die Beiträge
eines unter dem Vorsitz von Enrico Castelli im Januar 1961 zu
Rom gehaltenen Colloquiums des Centro Internazionale di
Studi Umanistici und des Istituto di Studi Filosofici. Die Beiträge
gelten dem Problem der Entmythologisierung und der
existentialen Interpretation. Sie setzen Rudolf Bultmanns programmatische
Aufsätze voraus, teils ohne an sie anzuknüpfen,
teils um sich mit ihnen auseinanderzusetzen, teils um sie fortzuführen
. Das Wort ergreifen Theologen, Religionshistoriker,
Religionsphänomenologen und Philosophen.

Die evangelische Theologie ist zwar durch ein präzises Re-
süme Rudolf Bultmanns „Zum Problem der Entmythologisierung",
darüber hinaus aber nur durch Hans Werner Bartsch vertreten,
der „Die Bedeutung des Anwendungsbereiches der existentialen
Interpretation innerhalb der Theologie" untersuchte und dem
ganzen Band ein Vorwort für die deutsche Ausgabe vorausgeschickt
hat. Enrico Castelli lieferte ebenfalls ein Vorwort, in dem
er das Votum seines einführenden Beitrages über „Die Problematik
der Entmythologisierung" noch einmal unterstreicht.
Castelli votiert gegen Bultmann, „daß das Kerygma das Sein des
Ereignisses beinhaltet — soweit es Geheimnis ist — und die
mögliche historische Analyse des Ereignisses widerspricht nicht
der Offenbarung, denn sie ist die Offenbarung der Botschaft und
des Ereignisses zur gleichen Zeit" (S. 18; die Übersetzungen der
französischen und italienischen Beiträge sind nicht immer glücklich
). Bultmann selbst schließt seine Abhandlung nicht ohne
Ironie mit der Zustimmung zu eben diesem gegen ihn erhobenen
Einwand (S. 27).

Dieser Sachverhalt scheint mir für die Beiträge des Kolloquiums
insgesamt charakteristisch zu sein. Hier wird ein aus der
historisch-kritischen Arbeit am Neuen Testament erwachsenes
hermeneutisches Thema mit soviel Freiheit und Meisterschaft
dogmatisch, religionsphilosophisch und einfallsreich variiert, daß
es selbst dem, der das Thema gab, nicht leicht fallen dürfte, es
in diesen Variationen stets wiederzuerkennen. Es ist nicht gut
möglich, den Inhalt der einzelnen Beiträge, von denen fast jeder