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Ausgabe:

1965

Spalte:

472

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Wrege, Hans-Theo

Titel/Untertitel:

Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte des Spruchgutes von Bergpredigt und Weherede 1965

Rezensent:

Wrege, Hans-Theo

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 6

472

finden sich ertmalig 1924 in „Die Auferstehung der Toten". Anhand
der These vom Fehlen der Eschatologie in KD IV 3 und ihrer Abwertung
dort werden noch kurz die Ansätze von Barths Sakramentslehre
, Pneumatologie und Ethik analysiert, und den Schluß bildet eine
Analyse von Barths Betonung von Protologie und Eschatologie. Vom
Anhang (Fragen zur Entwicklung der Eschatologie in KD IV, 3 — S. 155
—163) war oben schon die Rede.

Ein abschließendes Kapitel faßt die wichtigsten Linien von Harms*
Theologie, die den Stachel der Provokation besaß und sich in kein
systematisches Prokrustesbett einspannen läßt, zusammen; es zeigt u.a.
auf, wie Harms an der Erweckungsbewegung und am Luthertum teilhat
, zugleich aber auch, inwiefern er sich von der Erweckungsbewegung
und von dem lutherischen Konfessionalismus der Mitte des 19. Jahrhunderts
unterscheidet.

W i n t z e r, Friedrich: Claus Harms. Predigt und Theologie. Diss.
Göttingen 1963. 181 S. u. CXI S.

Die Arbeit will einen monographischen Beitrag zu der Erforschung
der Geschichte der Predigt im 19. Jahrhundert leisten. Zugleich
möchte sie die oftmals oszillierende kirchlich-theologische Position
von Claus Harms zu erhellen versuchen. Diese Verbindung der generellen
Frage nach der Predigt von Harms mit der speziellen Frage
nach Harms' Theologie resultiert u. a. aus dem Befund, daß die Theologie
Harms', eine spezifisch substantielle, .vorwissenschaftliche' Theologie
, weithin nur aus den Predigten eruiert werden kann. Zugleich
ist diese Verfahrensweise begleitet von dem sich als berechtigt erweisenden
Zweifel an der Richtigkeit der durchgängigen Festlegung
der kirchlich-theologischen Position Harms' auf die Thesen von 1817.

Die Arbeit ist auf eine möglichst breite Quellengrundlage gestellt.
U. a. wurde auch das gesamte erreichbare Archivmaterial — viele bisher
nicht ausgewertete Predigten und Briefe — herangezogen.

Die Untersuchung beginnt nach einigen Vorerwägungen über die
allgemeine Methodik predigtgeschichtlicher Forschung und die spezielle
Verfahrensweise dieser Arbeit mit einem biographischen Kapitel, das
besonders den theologischen Werdegang Harms' bis in die ersten Jahre
der Kieler Zeit hinein darstellt. Gegenstand dieses Kapitels i«t u. a.
der Einfluß von Schleiermachers Reden auf Harms 6owie Harms' Beschäftigung
mit einzelnen Romantikern (z. B. Novalis) und verschiedenen
Mystikern. Es zeigt sodann, wie schon in den späten Lundener
Jahren die daraus hervorgegangene optimistische ,Geistmetaphysik'
progressiv zurückgedrängt wird durch eine reformatorisch eingestimmte
Theologie.

Der anschließende (1.) Hauptteil hat den Inhalt der Predigt
Harms' zum Gegenstand. In diesen Kapiteln werden theologische Gedanken
und Vorstellungen von Harms, u.a. im Rahmen des Kirchenjahres
, entfaltet. Theologische Wandlungen von Harms werden, wie
auch sonst in der Arbeit, z. T. im einzelnen längsschnittartig referiert.
Drei Zusammenfassungen beschäftigen 6ich mit der Bedeutung des
Kirchenjahres für Harms' Predigt, mit den Grundzügen seiner Christo-
logie und der Bedeutung des Bekenntnisses für Harms.

Die weiteren Hauptteile befassen sich mit der erfragten prinzipiellen
, materialen und formalen Homiletik. Sie lassen nebenbei erkennen
, aus welchen Gründen Harms einer der Stimmführer der zeitgenössischen
Predigt wurde.

Die Eigenständigkeit und Eigentümlichkeit von Harms' theologischer
Position sei schließlich durch vier paradigmatische Hinweise
kurz angedeutet.

a) Harms hat in einer letzten Zuspitzung die Predigt als gegenwärtiges
Wort Gottes verstanden. Die Basis dieser Wort-Gottes-Theo-
logie ist bei Harms allerdings weniger die Erneuerung des reformatorischen
Verständnisses der Predigt als viva vox evangelii als vielmehr
die Herausbildung einer universalistisch geprägten ,Geisttheologie',
verbunden mit Elementen von Herders Sprachtheologie.

b) Akzentuiert ist in Harms' homiletischer Explikation des christlichen
Glaubens und in seiner Description der eigenen Prediger-
tätigkeit der Begriff der Erfahrung OErlebung'), obwohl Harms
nicht bei einer Erfahrungstheologie zu behaften ist. Daneben bestimmt
eschatologisch orientiertes Denken, verankert in einem durch die
Erwartung geprägten Glauben, in besonderem Maße seine Predigt.

c) Im Zusammenhang mit den unter a) und b) genannten Faktoren
von Harms' theologischem Denken steht sein geistliches Verständnis
des Predigtamtes. Obwohl dieses Verständnis von Harms nicht dok-
trinalisiert wird und eine Erneuerung der Frage nach dem Verhältnis
von Amt und Charisma darstellt, nähert er sich hier bedenklich einem
schwärmerisch geprägten Amtsbegriff, wie ihn dann schließlich Vilmar
vertrat.

d) Sodann hat Harms das Problem des Verhältnisses zwischen
evangelischer (synoptischer) Tradition und paulinischer Theologie für
die Homiletik bereits 1834 in der Pastoraltheologie zugespitzt angemeldet
(„in den Evangelien wird das Evangelium nicht gepredigt").
Er hat durch seine Fragestellung einer Lösung vorgearbeitet.

Wrege, Hans-Theo: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte des
Spruchgutes von Bergpredigt und Weherede. Diss. Göttingen 1963/4,
250 S.

Die Arbeit untersucht das synoptische Spruchmaterial von Bergpredigt
und Weherede (Anhang) unter literarkritischen, redaktions-
und formgeschichtlichen Gesichtspunkten. Die literarkritische Analyse
vermag dabei — häufiger als erwartet — nicht zwischen dem „Sprach-
Milieu" der Evangelisten und dem sie selbst charakterisierenden
Sprachgebrauch zu unterscheiden. Um so wichtiger ist es dann,
Kriterien für die Perspektiven der Evangelisten zu finden, durch die
der Bereich ihrer redaktionellen Neubildungen und InteTpretamente
grundsätzlich umschrieben werden kann. Solche Kriterien lassen sich für
Mt und Lk im Vergleich mit der gemein-urchristlichen „Vor-Struktur"
(Dodd: „Sub-Structure") „Erfüllung" erheben. Mt betont in den
Reflexionszitaten z. B. die „Erfüllung" polemisch als Erkennbarkeit des
Messias Jesus für die Juden, seine Ablehnung entsprechend als letztgültig
verantwortliche Tat, so daß die Selbstverfluchung des Volkes
27, 25 als konsequenter Abschluß der Begegnung Israels mit dem
Messias erscheint (s. auch 23, 32 f.). Das Nacheinander von partikulari-
stischen Aussagen (10, 6. 23; 15, 24) und dem universalistischen
Missionsbefehl bei Mt erklärt sich trotz aller gegenteiligen Behauptungen
(Bultmann, Trilling z. B.) aus der Anwendung des Missionsschemas
„erst den Juden — dann den Heiden", wie es auch AG 13,
45 ff; 18,6 und Rmll, 11 f. vorliegt. Bezeichnenderweise vollzieht
sich diese entscheidende Wende bei Lk nicht schon beim vorösterlichen
Jesus, sondern erst auf dessen nachösterliche Verkündigung hin, der
gegenüber sich Isreal verstockt: AG 28, 23 ff. Für die Zeit vor Ostern
versteht Lk „die Erfüllung" in sachlicher Übereinstimmung mit der
sekundären Form des Geistlogion Mt 12, 32/Lk 12, 10 als Unwissenheit
, die im Kerygma als Ruf zur Umkehr und als „Jetzt" des Heils
aufgedeckt und zur Entscheidung gestellt wird: AG 2, 38 ff.; 3, 11 ff;
5, 31 f.; 13, 23 ff. Das lk Doppelwerk entfaltet sich streng im Rahmen
von Mt 12, 32/Lk 12, 10: nicht in der Zeit Jesu fällt für Israel die
Entscheidung, sondern in der vom Geist bestimmten Gegenwart.

Die Feststellung der Perspektiven bei Mt und Lk erlaubt es nun
auch, konkrete Folgerungen für die Überlieferungsgeschichte einzelner
Wortgruppen zu ziehen. So können z. B. die beiden Antithesen Mt 5,
38 ff. 43 ff. nicht von Mt selbst gebildet sein: die Aufhebung der
Thora steht in denkbar stärkstem Gegensatz zu seiner Erfüllungs-
Christologie. Wie auch die literarkritische Analyse ergibt, gehen Mt 5,
38 ff. 43 ff und Lk 6, 29 f. 27f. 32 ff. nicht auf eine gemeinsame schriftliche
Vorlage zurück, sondern repräsentieren unabhängige Überlieferungsschichten
. Mt selbst stellt die Antithesen durch 5,20 in die Auseinandersetzung
zwischen Judenschaft und Christengemeinde, wobei die
„bessere Gerechtigkeit" mißverständliche Wiedergabe eines exklusiven
^-Verhältnisses ist (vgl. Lk 18,14; Mt 5,20 also vor-mt).

Die Annahme einer schriftlichen Spruchquelle, die Mt und Lk zugrunde
gelegen hätte, erweist sich sowohl der literarkritischen als auch
der redaktions- und traditionsgeschichtlichen Nachprüfung als unhaltbar
(Jeremias). Tatsächlich werden die Worte Jesu im synoptischen
Bereich nicht als Schrift, sondern als Schicht überliefert (MDibelius),
genauer: in voneinander unabhängigen Schichten (juden- und heidenchristlich
) und Traditionssitzen (Taufparänese, nach sachlichen Gesichtspunkten
zusammengestellte Didachai wie z.B. Mt 12, 32—37).

Das Problem der nahezu wörtlichen Übereinstimmungen paralleler
Logien bei Mt und Lk erweist sich dabei als ein formgeschichtliches
im engeren Sinne. Apodiktische Sätze zeichnen sich häufig durch eine
so prägnante Übereinstimmung von Form und Sache aus, daß sie einer
„Zersagung" besonderen Widerstand entgegensetzen (z.B. Mt 6,24;
7, 1.7 ff. par); kasuistische Sachverhalte können nur konditional,
relativ oder partizipial formuliert werden. Bildmaterial stabilisiert den
Sachgehalt des Wortes. Von hier aus ist der synoptischen Überlieferung
die Variationsbreite vorgegeben, innerhalb derer das Überschreiten der
6emitisch-griechischen Sprachschwelle sowie die schriftlichen Fixierungen
ein besonderes Problem bilden. Die Bindung der Tradition an die Gemeinden
wahrt dabei die Identität der Worte Jesu im Sachlichen. Selbst
die „theologischen" Rahmen-Vorstellungen der Evangelisten bleiben
den urgemeindlichen Vor-Strukturen ver-haftet und sind an ihnen zu
messen.