Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1965

Spalte:

432-433

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Olivier, Frank

Titel/Untertitel:

Essais dans le domaine du monde gréco-romain antique et dans celui du Nouveau Testament 1965

Rezensent:

Schneider, Carl

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

431

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 6

432

hat daher seine weniger sprachgewandten Kollegen immer wieder
zu Dank verpflichtet durch seine Vermittlung dessen, was in
den schwer zugänglichen Sprachen über neutestamentliche Textkritik
geschrieben worden ist. Freilich sind seine Arbeiten z. T.
sehr schwer erreichbar, und so ist es äußerst dankenswert, daß
er die wichtigsten dieser Aufsätze in diesem Band zusammen
vorlegt und dadurch leicht zugänglich macht. Doch hat der Verf.
diese Aufsätze nicht unverändert abgedruckt, sondern die seither
erschienene Literatur eingearbeitet, so daß man in allen
Fällen einen Überblick erhält, der bis zur Gegenwart reicht.
Leider sind die Fundorte der ursprünglichen Veröffentlichungen
nicht angegeben (sie sind im Folgenden jeweils genannt).

1) Der ursprünglich NTSt 8, 1961/62, 189 ff. veröffentlichte
und hier stark erweiterte Aufsatz „The Lucianic Recen-
sion of the Greek Bible" gibt eine Skizze der Erforschung des
,,Koine"-Textes im Alten und Neuen Testament und weist darauf
hin, daß nach neueren Forschungen auch im Lukian-Text der
Septuaginta Lesarten begegnen, die vorlukianisch und darum für
die Herstellung des Urtextes bedeutsam sind. Für das Neue
Testament ergibt sich aufgrund der neueren Papyrusfunde, daß
gelegentlich der Koinetext eine sonst bisher nicht als alt nachweisbare
Lesart bewahrt hat, so daß der Koinetext im Einzelfall
gegen alle anderen Zeugen recht haben k a n n. — 2) In der mit
geringen Änderungen aus JBL 64, 1945, 457 ff. übernommenen
Abhandlung „The Caesarean Text of the Gospels" schildert M.
die Entdeckung und allmähliche Aufspaltung des sogenannten
Caesarea-Textes in zwei Gruppen, von denen nur die spätere als
selbständige Textform gesichert und für einzelne Lesarten fixiert
werden kann. — 3) Der aus JBL 83, 1954, 217 ff. (ebenfalls mit
geringfügigen Änderungen) abgedruckte Aufsatz „The Old
Slavonic Version" schildert sorgfältig die Geschichte der Erforschung
der kirchenslavischen Übersetzung des Neuen Testaments
und zeigt an einem Musterkapitel des Lukas, daß dieser Übersetzung
im ganzen ein Koinetext zugrunde liegt, daß sich aber
daneben auch „westliche" und „ägyptische" Lesarten finden, so
daß auch diese Übersetzung in den kritischen Apparaten des
Neuen Testaments Berücksichtigung finden sollte. — 4) Die
Untersuchung über „Tatian's Diatessaron and a Persian Harmony
of the Gospels" ist gegenüber der ursprünglichen Fassung (JBL
69, 1950, 261 ff.) aufgrund der Veröffentlichung des persischen
Textes durch Messina (1951) erweitert; sie weist überzeugend
nach, daß diese mittelalterliche Harmonie in ihrem Rahmen mit
Tatians Diatessaron nichts zu tun hat, dagegen zahlreiche tatia-
nische Lesarten enthält, die auch in andern alten Zeugen begegnen
und darum beachtet werden müssen. — 5) Der wichtige, besonders
schwer zugängliche Aufsatz „Recent Spanish Contribu-
tions to the Textual Criticism of the New Testament" (JBL 66,
1947, 401 ff.; durch den Hinweis auf einige neuere Erscheinungen
ergänzt) macht den des Spanischen unkundigen Forscher mit
den Arbeiten einiger spanischer Textkritiker, vor allem Ayuso
und Bover, bekannt, die ebenfalls einen „vorcaesareensischen"
Text nachgewiesen haben, und äußert sich kritisch zu Bovers
1943 zuerst erschienenener Ausgabe des griechischen Neuen
Testaments. — 6) Ungewöhnliche Wege geht M. in dem zuerst
JBL 65, 1946, 339 ff. erschienenen Vergleich „Recent Trends in
the Textual Criticism of the Iliad and the Mahäbhärata"; denn
eine Übersicht über die Textprobleme dieser beiden großen
Nationalepen zeigt, daß der für neutestamentliche Textkritik
formulierte Grundsatz, daß die kürzere Lesart größeren Anspruch
auf Ursprünglichkeit hat, sich auch von diesem Vergleich
her als richtig erweist. — Ein Anhang weist auf die kritische
Leistung des englischen Druckers William Bowyer hin, der in
zwei Ausgaben des griechischen Neuen Testaments (1763 und
1783) als erster den textus receptus im Text selber zu ändern
wagte und eine ganze Reihe von Konjekturen aufnahm, die Jahrzehnte
später unabhängig von ihm vorgeschlagen worden sind
(zuerst veröffentlicht JR 32, 1952, 254 ff.).

Marburg/Lahn Werner Georg K ii m m el

O 1 i v i e r, Frank: Essais dans 1c domaine du monde greco-romain
antique et dans celui du Nouveau Testament. Genf: Droz 1963.
VIII, 329 S., 1 Porträt, 1 Taf. gr. 8° = Universite de Lausanne,
Publications de la Faculte des Lettres, XV.

Diese Sammlung von Aufsätzen des großen Lausanner
Philologen ist eine Fundgrube kostbarer Perlen; jeder dieser
zwölf Beiträge zeigt die für die Schweizer Philologie so
charakteristische Synthese von peinlicher Akribie und oft
genialer, immer aber mindestens geistvoller Einfühlung und
Schau. Am Anfang steht die noch in keiner Weise veraltete
Antrittsvorlesung von 1912; es ist im Gegenteil erstaunlich,
wie vieles, was damals über eine echte Würde des Lateinstudiums
gesagt wurde, inzwischen Allgemeingut geworden ist.
Mag auch dieses mit jugendlichem Schwung vorgetragene Bekenntnis
zu der Eigenheit und Größe der lateinischen Literatur
nicht ganz gerecht gegenüber der hellenistischen sein, mag die
Apologie lateinischer Entlehnungen und Kopien zuweilen die
Grenze des Überschwänglichen erreichen, als Auftakt für eine
Reihe ganz anders gearteter subtiler Einzeluntersuchungen ist
gerade eine solche grundlegende Besinnung gut. Der zweite
Beitrag stammt aus dem Jahre 1914: er ist ein kleines Kompendium
der Wirtschaftsgeschichte der römischen Republik mit
starker Berücksichtigung der römischen Numismatik. Grundfrage
ist die Entwicklung der Bedeutung des Silbers im römischen
Geldverkehr. Die lebendige Darstellung der Geldnöte
und Geldbeschaffung während des Hannibalkrieges verdient besonders
hervorgehoben zu werden; die Abschnitte über die Bedeutung
des Pergamenischen Testamentes sind durch die Ausführungen
von Rostovtzeff und Magie heute zu ergänzen.

An dritter Stelle steht das kleine Schriftchen über die
Epoden des Horaz, von dem der Verfasser allzu bescheiden sagt,
daß es nur für die Studenten geschrieben sei: es enthält weit
mehr originelle Einfälle als bloßes Referat. Allerdings ist auch
hier seit dem ersten Erscheinen (1917) die Forschung weiter
gegangen, auf einiges hätte vielleicht der Herausgeber hinweisen
können. Eine Besprechung erübrigt sich hier, da die
Schrift längst ein Bestandteil der neueren Horazforschung ist:
ihr besonderes Anliegen ist bekanntlich die Frage des Verhältnisses
zu Archilochos. Unnötig hinzuzufügen, daß bei der Einzelanalyse
Olivier eine Reihe von Fragen aufgeworfen hat, die
seither wiederholt zur Bearbeitung gereizt haben.

Ausführlicher ist an dieser Stelle auf die Beiträge zum
Neuen Testament einzugehen. Unter ihnen steht ein grundlegender
Artikel für die neutestamentliche Philologie voran,
der bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat, obwohl er
schon 1920 allerdings an einer etwas entlegenen Stelle veröffentlicht
worden ist. Er ist sehr bescheiden als „Textkorrektur
" zu 2. Pt. 3, 10 überschrieben; in Wahrheit steckt in ihm
eine neue Fundierung der Geschichte des Textes und der Stellung
des pseudopetrinischen Schreibens im frühchristlichen
Kanon.

Bei den beiden Lesarten evge^aerai und xaxa>car)aexai
macht der Verf. den ausgezeichneten Vorschlag, statt EVQsdi)oEiai
ein ursprüngliches exnvQW&rjOET.aL zu lesen, das durch das
allgemeinere xaraxa^oerat ersetzt worden sei. Zu beweisen
ist es natürlich nicht, und wer die ursprüngliche LesungevQedrjaeTai
verteidigen will, könnte es m. E. etwa dadurch tun, daß vor
evQeörjoETCu einfach ein Wort ausgefallen ist etwa ähnlich wie
yvjuvoi in einer ähnlichen Situation 2. Kor. 5, 3. Doch hat O.
ein starkes Argument für sich: hätte IxjivQco&rjoezai hier
'gestanden, wäre, was in diesem Brief nicht überrascht, die
stoische exnvQ<x>ois-.e\re im Hintergrund. Ein späterer hätte
dann an diesem Stoizismus der Stelle Anstoß genommen und
ihn durch ein apokalyptisches Wort ersetzt, oder aber das
apokalyptische Wort durch ein stoisches vergeistigt. Der Verf.
sieht die Kompliziertheit dieses Problems und geht ihr sehr
sachlich mit einem großen Aufwand philologischen Materials
nach; in Text und Anmerkungen ist alles vorhanden, was
sprachlich weiter helfen kann, sowohl für das eine wie für das
andere Wort. Darüber hinaus wird von der Wortwahl ausgehend
der Stil des 1. Pt. einer gründlichen Analyse unterzogen
mit dem Ergebnis, daß nur ein Rhetor so schreiben konnte.