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Ausgabe:

1965

Spalte:

381-384

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Haering, Hermann

Titel/Untertitel:

Theodor Haering 1965

Rezensent:

Beintker, Horst

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 5

382

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

H a e r i n g, Hermann: Theodor Haering 1848—1928. Christ und
systematischer Theologe. Ein Lebens- und Zeitbild. Stuttgart: Kohlhammer
[1963]. 528 S., 1 Titelb. gr. 8°. Lw. DM 38.—.

Von der bedeutenden Gestalt des Tübinger Systematikers
Theodor Haering, dessen Entwicklung und Wirken hier ausführlich
und zuverlässig aus den Quellen belegt wird, können für die
Gegenwart und die weitere Zukunft fruchtbare Impulse ausgehen.
Der sachkundige Biograph verfolgt dieses Ziel: ,,Es ist Sinn und
Pflicht einer Biographie, die mehr sein will als ein bloßes Lebensbild
, die Jahre des Wachsens und der Entfaltung . . . ausführlicher
zu behandeln als die Ernte, deren Größe eben durch die Darstellung
der Weise, wie es zu ihr kam, erst recht ihre Fruchtbarkeit
bekommt und für spätere Zeiten sich erhält. Was in den Hauptwerken
(Dogmatik und Ethik) an hinter ihnen stehenden Ideen
und Maßstäben des Urteils ab und an mehr thetisch auftritt,
erhält durch die Anschauung von seiner schmerzlichen Geburt
und seinen schwer erarbeiteten Zusammenhängen erst volle
Leuchtkraft und Wirkungsmacht" (25). Das ist eben wohl die
eigentliche Bedeutung zeit- und theologiegeschichtlicher Arbeit,
die in diesem Buch monographieartig getrieben wird, daß der
überzeitliche und somit zukunftswichtige Gehalt aus seinen Entwicklungen
heraus dargestellt und fruchtbar gemacht ist. Der Verf.
löst in elf Kapiteln seine Aufgabe vorbildlich. Im I. Kap. werden
zur Einführung die Eigenart schwäbischen Geistes und die württembergische
Kirchengeschichte gewürdigt und ein knapper, aber
recht eigenständiger und treffender Überblick über die Geschichte
der Theologie von der Reformation bis zu Ritsehl geboten (7—
2 5). Im II. Kap. werden Th. Haerings Herkunft und Knabenalter
in Stuttgart behandelt (26-5 3). Kap. III ,Jahre des Lernens
bis zur ersten ständigen Pfarrstelle in Calw (1862—1876)" enthält
interessante Details aus dem Uracher Seminar und dem Tübinger
Stift. Der Biograph läßt hier vielfach Quellen sprechen, die
für den Geist beider Institutionen wichtig sind. Auch geistesgeschichtlich
bedeutsame Gestalten (Strauß'Vischer/Märklin) und
damit wieder Entwicklungen aus der ersten Jahrhunderthälfte,
besonders aber die Lehreinflüsse auf Haering durch die Tübinger
Weizsäcker, Beck, Landerer, werden geschildert. Die theologische
Reise nach Berlin, Vikars- und Repetentenzeit, erste
Vorlesung und die Englandreise schließen diese Zeit ab. Kap. IV
,,Die Jahre im Pfarramt" (1876—1886) behandelt die Zeit in
Calw und in Stuttgart, Beziehungen zu Gerok und Ch. Blumhardt
und Freunden aus der Studien- und Repetentenzeit. Sachlich
interessieren hier die Seelsorgeprobleme (84—112).

Vom V. Kap. an werden die Darstellungen im Sinne der
Titelcharakterisierung Haerings ,,Christ und systematischer
Theologe" ergiebig. Mit dem „Erlebnis Ritsehl (1876 ff.) und
die Auseinandersetzung mit ihm" setzt Verf. ein (113—149).
Hier wird die Aufnahme, Wirkung und Diskussion um Ritsehl
und von Ritsehl wieder nach Quellen aus dem Freundeskreis
— z.B. J. Kaftan (164 ff.) — und bei Haering selbst nach seinen
ersten Veröffentlichungen dargestellt (1 5 3—18 3). Über die
Lehrtätigkeit in Zürich und danach Göttingen, die Analyse der
Zürcher Antrittsvorlesung „Die Theologie und der Vorwurf
der doppelten Wahrheit", auch über die „Bekenntnissynode" in
Eisenach (1892) und eine Fülle von Einzelzügen und Begegnungen
vor allem in der Göttinger Zeit als Nachfolger Ritschis berichtet
der Schluß dieses Kapitels. 1895 bringt die Rückkehr
nach Tübingen, wo H. über drei Jahrzehnte bis 1928 wirkte. Im
VI. Kap. wird über die Zeit bis 1918 ein Überblick gegeben
(220-273). Das VII. Kap. behandelt die „Systematischen
Hauptwerke und -Linien" (274-378). Im VIII. Kap. steht
..Der exegetische Forscher" (379-402), im IX. Kap. „Der Prediger
" (403—428) und im X. Kap. ,,Th. Haerings Stellung zu
Staat und Vaterland" (429—45 8) vor uns. Das XI. Kap. schließt
die Biographie und die Wiedergabe der Gedankenwelt Haerings
und seiner Zeit ab. „Alter und Ausklang" enthält die Stellungnahme
zu mancherlei turbulent Neuem und den abschließenden
Versuch Haerings in seinen fünf „Retraktationen" (in ZThK),
eine auf letzter Höhe stehende Rekapitulation seiner großen
Werke nach einzelnen in der Diskussion der Nachkriegszeit

stehenden Richtungen" zu den Themen: „Wesen der Religion;
Erhörbarkeit des Bittgebets; Der Gedanke des Urfalls; Ist unsere
Sündhaftigkeit persönliche Schuld?; Noch einmal das ,Wie'
der Auferstehung Jesu". — Die beiden letzten Schriften, „Von
ewigen Dingen" (1923) und „Zur Frage der Heilsgewißheit"
(1928), und manche persönliche Quelle bieten Einblick in
die theologischen Probleme zur Zeit der revolutionär gärenden
Krisentheologie, deren „theologischer Rigorismus" für Haering
nur die Kehrseite der „revolutionären Dialektik der außerchristlichen
Welt" (508) war. — Im Schlußwort (511-519)
knüpft der Verf. an sein Vorwort und die Einleitung an und
erklärt, inwiefern ihm gerade Leben und Theologie eines so
bescheidenen und heute wenig einflußreich erscheinenden
Mannes für diese Zeit des Überganges wesentlich war. Er faßt
in sechs „Richtpunkten" zusammen, was für Folgerungen aus
dieser Zeit für die Theologie zu ziehen sind, zum Wesen der
Theologie in Unterscheidung von Religion und Offenbarung,
Glauben und Wissen, mittelalterlichem und neuzeitichem Weltbild
. — Namenregister und ausführliches Inhaltsverzeichnis
machen das Werk leicht benutzbar. Es hätte beigegeben werden
können eine Bibliographie, nicht nur der Arbeiten Haerings,
sondern aller in diesem Werk erwähnten und kommentierten
Schriften.

Mit der letzten Anregung verbindet sich implizit die Feststellung
, daß wir es hier mit einer Berichterstattung und
Charakterisierung eines ganzen Zeitraumes, kurz mit einer
Studie der Universitäts-und Theologiegeschichte im 19. und dem
Anfang des 20. Jahrhunderts zu tun haben. Dabei ist die biographische
Aufgabe und die Erhellung der Zeit vom Einzelleben
her, ja oft vom Detail aus, in glücklicher Zusammenstellung
gelungen. Es wird nicht unter dem Zwang gearbeitet, ein ganzes
Jahrhundert und alles, was Bedeutung hat, in knappen Abrissen
zusammenzudrängen. Vielmehr entfaltet sich und oft in Einzelstudien
von dem schwäbischen Theologen und seinem Werk
aus die Gedankenwelt und auch die Geistes- und Lebensart der
Zeit von 1848 bis fast an die Gegenwart. — Es ist nicht möglich
, über den Theologen und Denker Th. Haering hier Einzelnes
zu erörtern. Seine Dogmatik und Ethik, seine Beziehungen
und Unterschiede zu Schlatter und Kähler, seine besondere Stellung
, nicht nur in der Apologetik, neben W. Herrmann und
Kaftan, Reischle, Wehrung und Troeltsch, seine Ritschl-Vereh-
rung und Ritschl-Kritik, müssen an Hand dieses vorgelegten
Materials studiert und bewertet werden. Jedenfalls ist die Hand
des Historikers von Beruf zu spüren, der den Leser mit nahezu
fünfhundert Personen bekannt macht. Zwar zählt ein Teil zur
Literatur zu diesem Zeitraum, aber auch diese werden jeweils
näher vorgestellt. —

Wie nicht anders möglich, zieht der echte Historiker vielfach
und besonders zum Schluß seine allerdings erschreckende
Bilanz. Freilich gelingt dem Lauten und Radikalen und dabei
nicht immer sachlich Argumentierenden in der Geschichte zunächst
oft ein Erfolg. Sollen Barth und Gogarten vom Historiker
vor allem als negativ eingreifend und aufhaltend beurteilt
werden? Angesichts der genauen Kenntnis der vorher
wirkenden Gedanken und der mühsam errungenen und doch
von ihren Lehrern bereitgestellten Ergebnisse des Ringens mit
dem geistigen Umbruch kommt es zu diesem Urteil. Dieses Ergebnis
des Verf.s, so zurückhaltend und sorgsam begründet es
vorgelegt wird, hat Aussicht auf besonderes Interesse. Ich
zitiere in Auswahl:

„Viele Theologen sind heute noch der Meinung, die Theologie
der Vorkriegszeit, insbesondere die Dogmatik... sei durch einen
breiten Graben von der nach 1914 oder 1918 getrennt. Das Stichwort
ist dann vielfach der Begriff existentiell, den solche Urteile im besonderen
der letztgenannten Periode zuteilen. Hiergegen wird das mehrfach
in unserem Buch ausgesprochene Urteil gestellt, daß existentiell,
d. h. auf Sein und Nichtsein eines Theologen gestellt, jede Theologie
war und ist, die den Namen echt verdient . . . Ein zweiter oft gebrauchter
, jetzt schon wieder stark abklingender Begriff zur Bezeichnung
des Unterschiedes jener angeblichen zwei Perioden in der Theologie
der letzten hundert oder hundertfünfzig Jahre ist .dialektisch'.
Inwieweit er überhaupt dauernd brauchbar ist — er wird wohl als
Begriff zur Bezeichnung ganzer Wissenschaftsrichtungen wieder verschwinden
— bleibe hier dahingestellt. Doch sei nochmals ausdrücklich