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Ausgabe:

1965

Spalte:

19-22

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Otto, Walter F.

Titel/Untertitel:

Das Wort der Antike 1965

Rezensent:

Mann, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 1

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RELIGIONSWISSENSCHAFT

Otto, Walter F.: Das Wort der Antike, hrsg. und mit einem Vorwort
versehen von K. v. Fritz. Stuttgart: Klett-Verlag 1962. 394 S.
8". Lw. DM 3 8.—.

— Mythos und Welt, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von
K. v. Fritz. Textrevision u. Bearb. d. Anhangs v. E. Schmalz-
riedt. Ebda. [1962]. 317 S. 8°. Lw. DM 34.—.

Die beiden Bände enthalten diejenigen Aufsätze und Vorträge
von Walter F. Otto, welche „bei seinem Tode in wesentlich
fertiger und publikationsreifer Form vorlagen" (W.d.A. S. 5). Es
finden sich darunter Aufsätze, die schon einmal veröffentlicht
wurden und heute meist unerreichbar geworden sind, daneben
eine große Zahl von Erstveröffentlichungen. Einige Partien sind
stichwortartig gehalten, gedacht als Kollegnotizen für Einschübe,
grundsätzlich besteht aber jeder Einzelbeitrag aus einem zusammenhängenden
Text. Die Manuskripte sind mit großer Sorgfalt
ediert, Schreib- und Druckfehler wie offensichtliche Errata
sind korrigiert. Aufs ganze gesehen liegt ein überaus lebendiges
Bild vom Schaffen des Gelehrten wie auch vom Werden seiner
Grundidee vor. Erscheinungsnachweise mit redaktionellen Erläuterungen
, eine Bibliographie und zwei Namenregister vervollständigen
die Bände, die aus den 25 000 Seiten des Manuskriptnachlasses
das Veröffentlichungsreifste in einer so glücklichen
Auswahl darbieten (W.d.A. 15 Aufsätze, M.u.W. 22 Aufsätze),
daß der Leser einen klaren Einblick in Walter F. Ottos Gesamtschau
erhält.

Walter F. Otto hat wesentlich dazu beigetragen, daß die
klassische Altertumswissenschaft über eine bloß positivistische Religionskritik
und eine rein historistische Schau hinausgekommen
ist. Er hat sich leidenschaftlich eingelassen in die Erörterung der
geschichts- und religionsphilosophischen Grundfragen seiner
Wissenschaft. Er hat daher auch viel Widerspruch gefunden und
mußte ihn finden. Aber dies lag eben an der Eigenart seines
Gegenstandes; Anschauungen über Grundprobleme lassen sich
nicht auf unanfechtbare Formeln zuschneiden. So finden sich
manche Aufsätze in den beiden Bänden, die man, je nach persönlicher
Grundeinstellung, mit Freude, mit Unbehagen oder gar
mit entschiedener Ablehnung lesen wird. Ganz fehlt jenes Element
des persönlichen Engagements bei keinem der Aufsätze,
und das gibt der nicht seltenen Polemik Ottos einen leidenschaftlichen
Zug. Doch finden sich auch Untersuchungen, in
welchen das Handwerkliche der philologischen Forschungsarbeit
ganz im Vordergrund steht. Der lebendige Zusammenhang beider
Bereiche, der religionsphilosophischen Wesensschau und der
exakten philologischen Detailarbeit, macht gerade die Eigenart
von Walter F. Ottos Forschen und Denken aus.

Die Stoffanordnung ist nicht chronologisch, sondern sach-
gruppenmäßig vorgenommen. Darin liegt kein Nachteil, die
Chronologie läßt sich anhand der Erscheinungsnachweise mühelos
überschauen. Dafür treten dann einige große Gebiete klar geordnet
heraus, die für Walter F. Ottos Forschungsarbeit besondere
Bedeutung hatten. Im ersten Band sind die Themenkreise
bestimmt zunächst durch die Göttergestalten, und vor allem
durch Apollon, dann durch die klassische Tragödie und schließlich
durch den Mythos; im zweiten Band durch Goethe, durch
Hölderlin, durch Nietzsche, und wieder durch den Mythos. Dazu
kommt im zweiten Band einiges Persönliche, das zugleich Ottos
Verbundenheit mit anderen Wissenschaftsgebieten zeigt: zu
nennen ist besonders die Würdigung von Leo Frobenius sowie
der Nachruf für Richard Wilhelm.

Nur weniges aus der reichen Auswahl kann in diesem
Rahmen besonders hervorgehoben werden. Der erste Aufsatz des
ersten Bandes behandelt die „Herkunft des griechischen Menschen
". Hier geht es um die homerische Wende in der griechischen
Religiosität. Im Heldenleben sind die Götter Griechenlands
zum ersten Mal „erschienen", in der homerischen Dichtung
werden wir Zeugen von der „UrofTenbarung der Olympischen
Götter" (W.d.A. S. 14), vor allem des einzigen Gottes, den die
Hellenen aus dem Norden in die neue Heimat mitgebracht
haben, des Zeus. Das Neue liegt darin, daß diese Götter nun,
seit Homer, „ein Wesen haben, dem der Kult eigentlich nicht

mehr entspricht" (S. 24), das heißt der Kult der vordorischen
Zeit. Im alten Kult stellt der Mensch durch die Vereinigung mit
der Gottheit in der gemeinsamen Mahlfeier die „goldene Zeit"
wieder her; im neuen Verhältnis jedoch begegnet der Mensch
dem Göttlichen in der „absoluten Freiheit des Menschlichen"
(S. 38). In dieser Freiheit liegt die größte Götternähe, zugleich
die größte Götterferne, hier ist eigentlich die „Religion" zu
Ende, von hier aus ist es andrerseits nur ein Schritt zur „Freigeisterei
" (S. 39). Es bedarf wohl keines Hinweises auf die Relevanz
dieser Schau auch für die Theologie.

Apollon ist für Walter F. Otto, im Gegensatz zur Anschauung
mancher Religionswissenschaftler, immer ein Sonnengott
gewesen, was in zwei Aufsätzen ausführlich begründet wird,
vor allem durch historisch aufschlußreiche Analysen der Beinamen
Smintheus und Karneios (Apollon Karneios ist kein
„Hirtengott" sondern der „Sehergott", der einst die Dorer in
die Peloponnes führte, W. d. A. S. 83). Apollon ist als vorgriechischer
Sonnengott verwandt mit Schamasch und Horns, und
eben diese letztere Beziehung läßt auch den Geburtsmythos ins
richtige Licht treten: mit dieser Frage beschäftigt sich der Auf-
Gatz über Leto und den Drachen; und über den Horus-Seth-
Mythos wird auch die schon von Dieterich und Bousset festgestellte
Verwandtschaft des delischen Mythos mit Apoc. 12 versländlich
(W. d. A. S. 127 f.).

Die Zahl des Chaos ist die Fünf; ein Hesiod-Aufsatz, Karl
Reinhardt gewidmet, stellt die Fünfheiten der Nachtgeburten dar
und erweist so die Authentizität wichtiger Teile der Theogonie.

Schlechthin großartig ist die Deutung der Antigone und
des Oidipous Tyrannos wie der Kolonostragödie als Offenbarung
der „Wahrheit des Göttlichen" (W. d. A. S. 249).

Das griechische Geschichtsdenken wird an Herodot und
Thukydides erläutert und, auf Grund des Fehlens einer teleologischen
Einheit, dem israelitischen und römischen gegenübergestellt
.

Der den Theologen wohl am stärksten unmittelbar angehende
und herausfordernde Aufsatz ist der letzte des ersten
Bandes über den Mythos und das Wort. Logos ist das Wort als
„das Bedachte, Überlegte, zur Überredung Dienende" (S. 357);
also letztlich als das Vernünftige, Folgerichtige. Epos, Vox ist
das Wort als „Verlautbarung der Stimme". Mythos aber ist
mehr. Mythos ist die „Geschichte" im Sinn des „Geschehenen
oder Geschehenden und Seinsmäßigen", ist das als „einstmalig
Berichtete, aber seinem Wesen nach Zeitlose, Ewige" (W. d. A.
S. 35 8). Mythos ist das letztlich „Wahre", und so liegt in ihm
die „Urerfahrung, die man auch Offenbarung nennen kann"
(S. 359). Stark betont Otto die Erkenntnisse von Pettazoni:
heutige Primitive machen einen ganz genauen Unterschied
zwischen den „ursprünglichen und echten Mythen" und bloßen
„geistreichen und tiefsinnigen Darstellungen und Erzählungen"
(S. 3 51). Ob man Walter F.Otto in den Folgerungen zustimmt
oder nicht, der Theologe wird wieder einmal daran erinnert,
daß die Entmythoiogiskrungsdebatte weithin an Unklarheiten
über das Wesen des Mythos gelitten hat und noch leidet.

Die ursprüngliche Wahrheit des Mythos ist auch der Oe^tffi
stand des Eranosaufsatzes im zweiten Band (Der ursprünglich.-
Mythos im Lichte der Sympathie von MerisJi und Welt, M.u.W.
S. 230 ff.). Walter F. Otto sieht den GruiKi/eWcr moderner
Mytheninterpretation in der Voraussetzung, daß der Mythos auf
eine besondere, prälogische o. ä., „Denkweise" zurückzuführen
sei (233 ff.). Im Mythos offenbart sich vielmehr das „Übermenschliche
": „Nicht irgendwelche, wenn auch noch so bedeutende
und lebenswichtige Wirklichkeiten, sondern das Sein, von
dem alle Wirklichkeit getragen wird" (S. 240). Darum muß es
möglich sein, der Wahrheit des ursprünglichen Mythos auf ursprüngliche
Weise gewiß zu werden.

Walter F. Otto erhärtet diese These durch die tiefsdiürfende
vergleichende Analyse dreier Mythen: des von Orpheus, von
Oidipous und von Kronos und Uranos. Am schlagendsten belegt
er am Orpheusmythos im Vergleich mit späteren Umdichtungen
bis hin zur Gluck-Oper, was daran „Urwissen der Menschheit"
(S. 245) und was im Gegensatz dazu bloß märchenhafte AI-