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Ausgabe:

1965

Spalte:

349-352

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Der babylonische Talmud 1965

Rezensent:

Baumbach, Günther

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349

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 5

350

Mayer, Reinhold: Der babylonische Talmud ausgewählt, übersetzt
und erklärt. München: Goldmann [1963]. 606 S. 8° = Goldmanns
Liebhaberausgaben. Lw. DM 22.—; Ldr. DM 30.—. = Goldmanns
Gelbe Taschenbücher, Bd. 1330/1331/1332. Kart. DM 7.20.

Es dürfte wohl außer Zweifel stehen, daß wir als Deutsche
nach den unendlichen Leiden und Qualen, die wir über die
Juden in der ganzen Welt gebracht haben, nun in ganz besonderer
Weise die Verpflichtung zu einem Umdenken gegenüber
diesem Volk, zu einem Neuanfang eines sachgemäßen Verstehens
der Besonderheit des Judentums haben. Will man aber die
Eigenart des jüdischen Volkes begreifen, dann ist es erforderlich
, sich mit dem die Grundlage der jüdischen Lebensführung
bildenden Talmud intensiv zu beschäftigen. Leider ist
dieses Werk für einen Außenstehenden so schwer verständlich
und darum nur den wenigsten bekannt, daß es dem vergangenen
Regime leicht möglich war, diesen Lebensquell
des Judentums durch aus dem Zusammenhang gerissene
und entstellt wiedergegebene Zitate zu trüben und damit
das Judentum zu verunglimpfen. Die dringende Aufgabe
unserer Zeit muß deshalb darin gesehen werden, den Talmud
durch eine sachgemäße Auswahl, eine zuverlässige Übersetzung
und eine das Verstehen der oft sehr schwierigen Texte erleichternde
Erklärung der Allgemeinheit in Deutschland zugänglich
zu machen. Nach H. J. Schoeps (Jüdische Geisteswelt.
Zeugnisse aus zwei Jahrtausenden, Darmstadt 1953), R.R.Geis
(Vom unbekannten Judentum, Freiburg 1961) und K.Wilhelm
(Jüdischer Glaube. Eine Auswahl aus zwei Jahrtausenden,
Bremen 1961) hat sich nun auch — auf Anregung von Prof.
D. Otto Michel — R. Mayer dieser Aufgabe unterzogen, sich
aber dabei auf den Babylonischen Talmud (bT.) beschränkt.
Als Ziel seiner Auswahl gibt M. an, „die Schönheit und
Menschlichkeit" des bT. „zum Ausdruck kommen" zu lassen,
chne jedoch dabei „Härten und Schwierigkeiten zu verschweigen
" (S. 50). Dementsprechend überwiegen aggadische
Stoffe, während der umfangreichere halachische Stoff „auf einige
Proben beschränkt ist . . ., so daß die Proportionen um der
Lesbarkeit des Buches willen umgekehrt sind" (ebd.). Die
Gliederung der Auswahl ist darum nicht durch den Aufbau
des bT. bestimmt — dieser wird in der „Einleitung" mit einer
kurzen Übersicht über den Inhalt der einzelnen Ordnungen
und Traktate geboten (S. 31—47) —, sondern ist dem agga-
dischen Stoff angepaßt und vom Fünfbuch Moses her beeinflußt.

Der 1. Teil, überschrieben „Urzeit" (S. 56—85), beginnt mit
der „Erschaffung der Welt" (S. 56—68), geht dann über zur
„Erhaltung der Welt" (S. 69—72) und hat seinen Höhepunkt in
dem Unterabschnitt „Gebot und Freiheit" (S. 72—85).

Es wäre jedoch zu überlegen, ob an den Anfang einer solchen
Sammlung nicht die wichtigsten rabbinischen Gottesaussagen (vgl. z. B.
die bei S.Funk, Talmudproben, 1921, S. 62—66, angeführten Stellen),
zumindest aber das „Höre Israel", gehört hätten; denn nur von diesem
Zentrum aus können die einzelnen rabbinischen Aussagen richtig verstanden
werden. Eine etwas zu einseitige Bevorzugung finden die Aussagen
über das Vergebungshandeln Gottes, während für sein Vergeltungshandeln
keine Belege aufgenommen wurden.

Der 2. Teil behandelt „Israels Geschichte" (S. 86—211), angefangen
bei Noah (S. 95 f.) und endend mit dem „Tempel und
seiner Zerstörung" (S. 147—177), wobei im Mittelpunkt die Verleihung
der „Weisung" und damit „Mose, unser Lehrer" steht
(S. 114-131). Mit „Ketzern und ihrer Bibel" (S. 177-190),
„Israel und den Völkern" (S. 191—202) und „Pro6eIyten" (S. 202
—211) befassen sich die drei Schlußabschnitte dieses 2. Teils.

Nur am Rande soll die Frage gestellt werden, ob der auf S. 118
—123 abgedruckte Text aus AZ 2a—3a nicht eher im 5. Teil seinen
legitimen Platz hätte, da er Gerichtsaussagen enthält. Ferner empfehlen
sich Hinweise auf Ned. 3 8a und BB 17a bei den Aussagen über
Mose, auf BM 30b, Jeb. 9b, Schab. 33b bei denen über die Tempelzerstörung
, auf Jeb. 48b.62a bei denen über Proselyten. Da ein besonderer
Abschnitt über die verschiedenen Richtungen innerhalb des
Judentums und deren unterschiedliche Schriftauslegung und Halacha
nicht vorhanden ist, hätten einige dafür wichtige Zeugnisse wie Mak. I,
6. 5b, Jad. IV, 6—8, Sanh. 90b u. ä. in diesem 2. Teil Aufnahme finden
können.

Im 3. Teil sind „die Meister" an der Reihe mit ihrer Unterrichtsmethode
, Schriftauslegung, Festlegung der Tradition, Änderung
von Geboten u. ä. Dieser umfangreichste Abschnitt (S.
212—404) enthält die wichtigsten Halachot und eine Zusammenstellung
des schönsten Spruchguts, u. a. den ganzen Traktat
Awot.

Bei dieser Auswahl ist als besonders positiv zu werten, daß M.
neben die 6chwer verständlichen, aber sehr gut erläuterten Halachot
auch einen Unterabschnitt „Von Wirklichem und Phantastischem"
(S. 3 54—370) gesetzt hat, wodurch der Leser vor der irrigen Vorstellung
bewahrt wird, „die Meister" seien blutleere und humorlose
Denker gewesen. Durch die Voranstellung des Unterabschnitts „Weisung
zum Leben" (S. 223—23 5) verdeutlicht M., daß das theologische
Bemühen der „Meister" auf die Schriftexegese gerichtet war. Die Notwendigkeit
dieser Bemühung tritt in dem Unterabschnitt „Über Gerichte
und Richter" (S. 2 5 5—268) zutage, die methodische Besinnung,
die für die Exegese unerläßlich ist, wird in den Belegen „Zu den
Regeln der Schriftauslegung" (S. 269—272) erkennbar. Der am Schluß
dieses 3. Teile6 stehende Abschnitt „Vom Leben der Meister" (S. 371
404) weist an Hand vieler Beispiele darauf hin, daß für die Meister
Lehre und Leben keinen Gegensatz, sondern eine Einheit darstellten.

Der 4. Teil behandelt „Alltag und Fest in Israel" (S. 405
—542) und macht dabei die große Bedeutung von Ehe und
Familie, Wohltätigkeit und Gebet sowie vom Schabbat sichtbar,
während den großen Festen verhältnismäßig wenig Raum eingeräumt
ist.

Zu diesem Abschnitt wäre zu bemerken, daß man nicht nur Aussagen
mit der häufig in rabbinischen Texten vorkommenden abwertenden
Zusammenstellung; „Frauen, Sklaven, Kinder" vermißt, sondern
auch solche, die den schroffen Gegensatz zwischen den „Genossen"
und den „Laien" zum Ausdruck bringen. Der Schabbat-Abschnitt läßt
kaum die Fülle der verschiedenen Schabbat-Halachot mit den Verboten
und Strafandrohungen ahnen. Die vorliegende Auswahl unterstreicht
demgegenüber einseitig den göttlichen Geschenkcharakter des
Schabbat und zeigt damit einen wichtigen, von den christlichen Theologen
bisher fast ganz vernachlässigten Aspekt des jüdischen Schabbat-
Verständnisses.

Im 5. Teil, überschrieben „Endzeit" (S. 543—5 82), sind die
unterschiedlichen Aussagen über die Erlösung, das Kommen des
Messias, die Auferstehung und das Gericht zusammengestellt.

Schon durch den im Verhältnis zu den anderen Teilen knappen
Umfang dieses Abschnittes bringt M. zum Ausdruck, daß im Judentum
der Eschatologie weit weniger Bedeutung zukommt als im
Christentum. Die besondere Ausprägung der rabbinischen Eschatologie
tritt dadurch in Erscheinung, daß zwischen die Belege, die von der
„Erlösung" und vom „Messias" handeln, zwei Abschnitte geschoben
wurden, die die „Rückführung der Verbannten" und das „Land Israel"
in seiner eschatologischen Bedeutsamkeit zum Thema haben.

Die von M. gebotene Übersetzung der talmudischen Texte
versucht — in Anlehnung an die Sprache der Buber-Rosenzweig-
schen Bibelübertragung — der Eigenart der hebräischen Lautgestalt
im Deutschen zu entsprechen, wodurch der Eindruck der
Fremdartigkeit der zitierten Texte verstärkt wird. M. übernimmt
darum Bubers Wiedergabe von tXVFt mit „Weisung" von pi"i£
mit „Bewährter", von rnplli "fsrt mit „in Bewährung wandeln",
von *ru mit „gasten", von mtOTB "TWO mit „Verwahrung
wahren", von N72^ mit „bemakeln", von !"Q*11 Ffm mit
„fruchten und mehren" und von „Urim und Tummin" mit
„Lichtende und Schlichtende" und gestaltet die Übersetzung
wichtiger rabbinischer Begriffe neu (z. B. von Iii"1 mit „Leidenschaft
", von fSBttK mit „Rechtsgeheiß", von "pl mit „Beruf
skampf"). Das Streben Ms., durch eine unkonventionelle
Übertragung zum Aufhorchen auf die alten Texte zu zwingen,
kommt auch darin zum Ausdruck, daß er solche traditionellen
religiösen Termini wie Sünde, sündigen, Gottloser, Buße und
Gerechtigkeit fast ganz vermeidet. Da zudem hebräische Wortspiele
im Deutschen oft in sehr geschickter Weise nachgeformt
werden, verdient diese Übersetzung große Beachtung.

Nicht schön klingen jedoch im Deutschen die Wendungen: „Man
erlegt der Gemeinde... eine Verfügung auf" (S. 172), „der wird geschweigt
" (S. 177 f.), „ich lasse Wiederkehr kehren" (S. 208), „frühlings
" (S. 427), „sommers" (S. 470) usw., „allander" (S. 308), „wegen
mir" (S. 277), „wir wären gesessen" (S. 309 u. ö.) und „randhaftes
Judentum" (S. 379 A. 934). Auffällig ist, daß M. zwar in der „Worterklärung
" den Ausdruck „Halacha" anführt, jedoch innerhalb der
einzelnen talmudischen Texte „Halacha" nicht immer unübersetzt läßt,
sondern mehrfach „Lebensregel" schreibt. Wäre es nicht besser gewesen
, um Mißverständnisse zu vermeiden, durchgängig diesen Aus-