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Ausgabe:

1965

Spalte:

7-18

Autor/Hrsg.:

Elliger, Walter

Titel/Untertitel:

Thomas Müntzer 1965

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 1

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werden durch den neuen Schriftbeweis ohne weiteres „heilige
Schrift". Für diese Aufgabe genügt es, daß sie alte, wahre und
somit maßgebende Zeugen des ursprünglichen Evangeliums sind.
Dies gibt ihnen ihren die kirchliche Predigt normierenden
oder vielmehr: rechtfertigenden Sinn und macht sie gegen
jede verkehrte Lehre zum „Kanon" — obgleich Irenaus den
Begriff eines neuen schriftlichen Kanons, wie wir wissen, noch
ebensowenig kennt wie dessen spätere Bezeichnung als „Neues
Testament". Es sind erste Umrisse der neuen Norm, die hier
erkennbar werden; aber die wesentlichen Gesichtspunkte, die
ihre Geltung begründen, sind bei ihm trotzdem schon in aller
Klarheit gegeben.

Können wir uns noch zu ihnen bekennen? Natürlich handelt
es sich um Grundsätze, die Irenäus im Sinne jener fernen
Zeit bestimmt und entwickelt hat, und ihre Ausführung im
einzelnen kann heute nicht anders als überholt anmuten —
wir können seine „theologische" Begrüdung des Schriftprinzips
so wenig übernehmen wie die Methoden seines Schriftbeweises.
Aber ich glaube, daß der Grundgedanke seiner Substanz nach
trotzdem gültig und richtig bleibt. Wir haben ihn hier nur nach
der formalen Seite entwickeln können, und das ist im Sinne des
Irenäus gewiß eine Einseitigkeit. Gerade er drängt mit seinem
großartigen Instinkt für das Wesentliche immer auf die entscheidenden
Inhalte, die ihm das Neue Testament gegen alle
gnostischen Spekulationen bezeugt: die Einheit Gottes, die
wahre Erlösung durch Christus, die Güte der Schöpfung und die
Gewißheit einer leibhaftigen heilsgeschichtlichen Vollendung der
Welt. Dennoch bleiben auch die äußeren Kriterien, die Irenäus
gleichzeitig aufstellt, um das Recht des Neuen Testaments als Ur-
norm der Kirche zu sichern, wie mir scheint, für immer in Kraft;
die zeitliche Nähe zum Lirsprung und die sachliche Übereinstimmung
in dem einen Namen, der das Christentum und die
Kirche einmal und ein für alle Mal bestimmt und begründet hat.
Dazu muß die Ursprünglichkeit der tragenden Urkunden und
die Wahrheit ihres Inhalts in einem behauptet werden. Der
Zusammenfall dieses doppelten, historischen und systematischen
Moments begründet sowohl die geschichtliche Einmaligkeit des
Neuen Testaments gegenüber aller späteren, daraus erwachsenden
Theologie wie die Einheit seines Sinns als Zeugnis von dem
einen dadurch glaubwürdig und verbindlich bezeugten Herrn.
Diese Einheit ist für einen kritisch differenzierenden, historisch
denkenden Forscher heute gewiß nicht mehr so leicht zu haben,
wie es Irenäus erscheinen mochte; aber diese ursprüngliche
Einheit zu suchen und zu finden bleibt die Aufgabe aller Theologie
, die diese Bezeichnung verdient und die nicht einfach auf

beliebige Lehrmeinungen, auch nicht auf den Namen des Paulus
„getauft", sondern an Christus gebunden ist, der lebendig über
jeder Schrift steht — und in dieser Schrift allein verläßlich bezeugt
ist.

Aber das ist vielleicht etwas eilig gesagt und bedürfte,
um nicht unkritisch mißverstanden zu werden, einer weiter
ausholenden Eröterung. Nur auf einen, wie mir scheint, wesentlichen
und charakteristischen Punkt dieses irenäischen Schriftverständnisses
mödite ich zum Schluß noch einmal ausdrücklich
hinweisen. Das ist die eigentümliche Verbindung
der Schriftautorität mit der lebendigen Verkündigung der
Kirche, wie sie mir in dieser Klarheit in der alten Kirche sonst
nicht wieder begegnet ist. Sie macht sich schon in der merkwürdigen
methodischen Differenz zwischen seinen zwei erhaltenen
Werken bemerkbar, von der unsere Betrachtung ausging
. Irenäus spricht wiederholt von dem xavebv t?)c äb/ßeiag,
der „Richtschnur der Wahrheit", von und mit der die Kirche
lebt. Er meint damit weder ein Corpus heiliger Schriften noch
eine unbewegliche Glaubensformel oder eine Summe dogmatisch
verbindlicher Sätze; es ist die lebendige Gotteswahrheit selbst,
die, vom Geist getragen, in der Christenheit von jeher gegenwärtig
war und die in der unmittelbaren Verkündigung und im
Martyrium noch immer den Geist und den Glauben allein erweckt
und wirkt. Insofern ist Irenäus kein ultraprotestantischer
Dogmatiker, der das Leben der Kirche nur mit dem Buch
und den Buchstaben seines Kanons begründen kann. Für ihn
ist, von hier aus gesehen, die unmittelbare Vollmacht lebendig
fortwirkender Überlieferung die primäre und entscheidende
Wirklichkeit. Aber noch viel weniger ist Irenäus darum ein
modernkatholischer Theologe, dem das Zeugnis der Schrift im
Ernstfall nicht zu genügen scheint, so daß es an die Auslegung
einer bestimmten Tradition und Kirche gebunden wird.
Bei ihm sind es vielmehr die Ketzer, die den Beweis aus der
Schrift mit der Begründung beiseite sdiieben, daß die Wahrheit
nur dann wirklich gefunden werde, wenn man sich gleichzeitig
in die Tradition ihrer Gemeinschaft stelle, quia non possit
cx his inueniri ucritas ab his, qui nesciant traditionem. Für
Irenäus ist das Neue Testament zum Erweise des ganzen
Evangeliums Christi durchaus klar und beredt genug. Er bekennt
sich zu einer Wahrheit, die in der lebendigen Verkündigung
dem Geist und in der kritischen Auseinandersetzung der
Schrift vertrauen läßt. Damit steht er in gewisser Weise über
den Parteien, ein wahrhaft ökumenischer Kirchenvater, dessen
Zeugnis wir Evangelischen als Schüler Luthers am allerwenigsten
zu scheuen brauchen.

Thomas

Von Walter E

Schillers Wort über Wallenstein könnte man auch auf
Müntzer übertragen: Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt
, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. Durch
drei Jahrhunderte und länger noch sah man in ihm fast ausschließlich
den gefährlichen Irrlehrer und dämonischen Schwarmgeist
, den demagogischen Verführer des Volkes, den zu Mord
und Brand hetzenden Aufrührer. Es ist das Bild, das Luther
und Melanchthon in den Grundlinien und bis in die Einzelheiten
hinein vorgezeichnet und durch ihre Autorität schlechthin
gültig gemacht haben. Ihr Verdammungsurteil wurde im
Zeitalter der Orthodoxie wenn möglich noch schärfer akzentuiert
und galt noch unbedingter, und auch Pietismus und Aufklärung
haben es kaum ernsthaft in Frage gestellt oder modifiziert
. Bis in unser Jahrhundert hinein blieb Müntzer weithin
die leibhaftige Verkörperung satanischen Geistes, der die Seelen
mit seinen Lehren vergiftete, die Massen mit seiner Agitation
zur Empörung wider alle christliche Ordnung in Kirche, Staat
und Gesellschaft trieb. Erst vor rund 150 Jahren begann man,
dem ein anderes Bild gegenüberzustellen, das den bisher Ver-

') Als Referat gehalten auf der Tagung der Lutherakademie im
August 1964 in Bautzen.

Müntzer1

1 i g e r, Soest

femten in einem besseren Lichte zeigen sollte. Man stellte
v/eniger den religiösen Propheten als den sozialen Revolutionär
heraus, dessen fortschrittlicher Geist und tatbereites Wollen
eine angeblich urchristlich-kommunistischc Gesellschaftsordnung
in Freiheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen trachtete.
Im Grunde hat man dabei nur das Vorzeichen vor der großen
Klammer verändert: wo vorher ein Minuszeichen stand, das
pauschaul alles und jedes seiner Worte und Taten negativ bewertete
, setzte man nun ein Pluszeichen, das ihn ebenso pauschal
zu einem Avantgardisten der Volksbefreiung aus geistiger und
physischer Knechtschaft machte. Erst in den letzten Jahrzehnten
gelingt es langsam, in sachlicher Würdigung seiner Person und
seines Werkes dem nahe zu kommen, wer Müntzer war und was
er wollte, also ein einigermaßen getreues Bild seiner Strebungen
und Leistungen zu gewinnen, das frei ist von den parteiischen
Verzerrungen, die Haß und Gunst, theologische Blickverengving
wie politische Ideologie hineinzutragen bis heute nicht müde
werden. Es ist kein Zweifel, daß wir auf dem Wege sind zu
einem besseren Verständnis dieser eigenwilligen Persönlichkeit,
die wahrlich keine Randfigur nur im Geschehen der Reformation
gewesen ist. Nicht zuletzt dadurch für uns mehr als
nur interessant, daß er einer von denen ist, die Luther Ent-