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Ausgabe:

1965

Spalte:

228

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Sass, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Untersuchungen zur Religionsphilosophie in der Hegelschule 1830-1850 1965

Rezensent:

Sass, Hans-Martin

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227

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 3

228

kritisiert. An den Arbeiten von Dibelius wird abgelehnt, daß er den
Stoff nur auf ganz wenige Gattungen aufgeteilt hat, die sich einander
ausschließen, und ihnen nur einen Sitz im Leben zugewiesen hat.
Damit wird auch das ganze konstruktive Vorgehen von Dibelius abgelehnt
, vor allem deshalb, weil die Grenzen zwischen den Gattungen
oft fließend sind und es Mischformen gibt. Nicht zuletzt die Arbeit
von Held zu den Wundergeschiditen des Matthäusevangeliums macht
die Konstruktion von Dibelius hinfällig, denn Held hat nachgewiesen,
daß die Wundergeschichten bei Matthäus Paradigmencharakter, bei
Markus aber Novellencharakter tragen. Bultmanns Stilanalyse wird
zwar weitgehend akzeptiert; es wird aber abgelehnt, aus dem Sitz im
Leben und den Gattungsbezeichnungen einen historischen Wertmesser
zu machen. Es wird aber auch das konservative Argument abgelehnt,
der Sitz im Leben sei das Leben Jesu selbst. Die These Bultmanns
und Bertrams von einer weitgehenden Umformung des Bildes des
historischen Jesus in den synoptischen Evangelien und von einer
außerordentlich umfangreichen Neuproduktion von Traditionen durch
die Gemeinde wird in dieser Form nicht akzeptiert. Mit Grundmann,
Dahl und Bomkamm wird dem Begriff der Gemeindetheologie der
negative Charakter genommen, den er vor allem bei Bultmann hat.
Er wird verstanden als das konstitutive Element der Traditionsbildung
überhaupt, als. die Voraussetzung dafür, daß die Erinnerung an Jesus
überhaupt in der Überlieferung festgehalten worden ist. Insgesamt gesehen
wird das Recht der Formgeschichte verteidigt, der weiteren Erforschung
der Einzelstücke zu dienen, um dadurch gleichzeitig der
Redaktionsgeschichte das Material für eine Gesamtschau der einzelnen
synoptischen Evangelien zu liefern, aber auch, möglichst alle Ein-
reihungsmöglichkeiten der Einzelstücke aufzuzeigen.

Im II. Hauptteil stellt das 1. Kapitel (S. 305—337) zunächst die
redaktionsgeschichtliche Methode dar und arbeitet dann ihre methodischen
Unterschiede zur Formgeschichte heraus. Das 2. Kapitel (S. 338
—481) setzt sich nacheinander mit den einzelnen Arbeiten zu Matthäus
, Markus und zum lukanischen Doppelwerk auseinander. Dabei
wird die Kirche des Mt nicht als judenchristliche Gemeinde verstanden
(gegen Bornkamm und G. Barth), sondern als eine bereits aus dem
Verbände des Judentums gelöste Gemeinde (mit Trilling und
Strecker). In diesem Zusammenhang werden die Spannungen im Matthäusevangelium
zwischen Universalismus und Partikularismus (mit
Trilling) aus dem Unterschied zwischen verarbeitetem Traditionsmaterial
und letzter Redaktion erklärt.. Es wird ferner die Meinung
abgelehnt, daß 6ich im Matthäusevangelium der Kampf zwischen
einer libertinistischen und einer nomistisch-orthodoxen Partei spiegelt
(mit Strecker gegen G. Barth und Baumbach).

Gegenüber Marxsen wird nachdrücklich zurückgewiesen, das
Markusevangelium aus einem Sitz im Leben in Galiläa zu Beginn des
jüdischen Krieges zu erklären. Stattdessen wird die altkirchliche Tradition
von der Entstehung des 2. Evangeliums in der heidenchristlichen
Gemeinde zu Rom verteidigt.

Conzelmanns Deutung des lukanischen Doppelwerkes wird zwar
im Prinzip akzeptiert, aber es wird seine Deutung der „Mitte der
Zeit" als einer satansfreien Zeit (mit Baumbach) zurückgewiesen;
Conzelmanns Nadiweis einer heilsgeschichtlichen Periodisierung im
lukanischen Doppelwerk wird (mit Strecker) auch bei Mt und in Ansätzen
auch bei Mk festgestellt. Die gegenwärtige Actaforschung
(Haenchen, Vielhauer, Wilckens) wird ebenfalls kurz dargestellt. Es
wird zwar an der Arbeit von Wilckens akzeptiert, daß die Missionsreden
der Apg die kennzeichnenden Merkmale iukanischer Theologie
tragen, es wird aber dennoch für möglich gehalten, daß dabei traditionsgeschichtlich
älteres Material verarbeitet worden ist, denn über
das größere oder geringere Alter der judenchristlichen Missionspredigt
ist dadurch doch noch nichts ausgemacht, daß sich für 6ie im Neuen
Testament sonst keine Parallelen eines gleichen kerygmatischen Typus
finden. Außerdem wird an Stellen wie Apg. 20,21; 26,20; 28,23
nachgewiesen, daß das von Wilckens postulierte Schema einer Heiden-
und Judenpredigt sich gar nicht konsequent durchführen läßt.

Im III. Teil finden bei der Darstellung des Problems der Parusie-
verzögerung vor allem Beiträge von Grässer, Cullmann, Michaelis,
Meinertz, Bornkamm, Jeremias, Conzelmann, Bartsch und Kümmel Berücksichtigung
. Grässer wird zwar gegen die harte Kritik Cullmanns
verteidigt, aber nicht alle von ihm herangezogenen Stellen werden als
beweiskräftig für das Problem der Parusieverzögerung anerkannt
(Wachstums- und paradigmatische Gleichnisse). Vor allem wird kritisiert
, daß Grässer nicht unterschieden hat zwischen den Stellen, an
denen die Parusieverzögerung als Faktum vorausgesetzt wird und
den Stellen, an denen dies Faktum als Problem empfunden wird.

Der letzte Abschnitt hebt die Bedeutung heraus, die beide Forschungsmethoden
in der heutigen Jesusforschung haben. Dabei wird gezeigt,
wie Bultmann (mindestens bis zu Käsemanns Vortrag) besonders die
Diskontinuität zwischen historischem Jesus und geglaubtem Christus
betont hat, wie aber seine Schüler die K o n t i n u i t ä t in der Diskontinuität
zwischen Jesus und Christus hervorheben und wie die
konservativere Forschung mehr Wert auf die Kontinuität zwischen
beiden legt und sich dagegen wehrt, Jesus mit Hilfe moderner Philosophen
« zu deuten.

Saß, Hans-Martin: Untersuchungen zur Religionsphilosophie in der
Hegeischen Schule 18 30—18 50. Phil. Diss. Münster 1962. 301 S.

Die Arbeit stellt sich die Aufgabe, dem Schicksal von Hegels
Gedanken über Religion und Christentum, wie sie sich in seinen
„Vorlesungen über die Philosophie der Religion und die Beweise
vom Dasein Gottes" niederschlagen, bei seinen Schülern nachzugehen
. Sie skizziert zunächst den Hegeischen Gedankengang und
setzt seinen hier vorgelegten Ansatz von dem der anderen großen
Werke, der „Phänomenologie", der „Logik", der „Enzyklopädie" und
der „Rechtsphilosophie" ab.

Sie untersucht dann unter einheitlichen Gesichtspunkten die
religionsphilosophischen Ansätze derjenigen orthodoxen und freisinnigen
Theologen, Pantheisten, Theisten, Atheisten und Radikalen,
die sich in dem Sinne auf Hegel berufen, daß sie, wenn nicht
adäquate Interpretationen, so doch legitime Weiterführung Hegelscher
Gedanken zu bringen vorgeben, Es wird untersucht, inwieweit dieser
Anspruch der Schüler jeweils gerechtfertigt ist, welche Ansätze sie von
Hegel übernehmen oder umwandeln und welche der von Hegel versöhnten
Gegensätze sie jeweils besonders akzentuieren. Die Arbeit
versucht, auf diesem Wege eine neue Würdigung und Aktualisierung
des Hegeischen theologischen Ansatzes vorzubereiten.

Auf Grund neuen, zum Teil bisher unbenutzten handschriftlichen
Materials werden die verschiedensten Gruppen der Schüler behandelt:
Daub, Marheineke und Biedermann; Richter; Strauß, Noack und Vatke,
Göschel und Gabler; Feuerbach; Rüge, Bayrhoffer und Carove, Bruno
und Edgar Bauer, Stirner, Marx und Karl Schmidt; Rosenkranz, Erdmann
, Conradi, Schaller, Hinrichs und Michelet; ferner kurz Ullmann
Chr. H. Weiße als Repräsentanten der Vermittlungstheologie und des
spekulativen Theismus.

Nach einer Darlegung der verschiedensten Ansätze wird deren
Zusammensdiau und Kritik versucht. Dabei geht es um die grundsätzliche
Frage nach dem Bemühen der Spekulation um die Fragen
der Religion und des Glaubens, um die Frage nach dem Verhältnis
der Spekulation zur Theologie, Christologie, Anthropologie, zur Lehre
vom Bösen, von der Geschichte, der Kirche und den letzten Dingen,
schließlich um die Frage nach dem „Wesen des Christentums" im
spekulativen Sinne und dem von der Spekulation behaupteten „refor-
matorisdien Prinzip".

Die Arbeit kommt zu dem Schluß, daß das Schicksal des Hegel-
schen Philosophierens sich bei seinen Schülern nicht in deren Stellung
zur Methode, sondern zum System entscheidet. Diese Entscheidung für
oder gegen das System ist identisch mit ihrer Entscheidung gegen oder
für den „Säkularismus" im Sinne Gogartens. Die Althegelianer bewahren
die heilige Trinität als das absolute, der Welt transzendente
Sein, das Prius Gottes in Schöpfung, Erlösung und Vollendung der Welt
und bauen im Sinne des christlichen Dogmas und des Hegeischen theologischen
Ansatzes die denkende Selbstgewißheit des menschlichen
Geistes und dessen Selbstsein in den göttlichen Heilsplan ein, in dem
der Mensch nur in und durch Gott Sein und Wahrheit hat und in dem
er zur Tat der Verherrlichung Gottes aufgerufen ist. — Der Ansatz
Feuerbachs wird in seiner Genese von der Hegeischen Religionsphilosophie
neu interpretiert. — Die Junghegelianer setzen das menschliche
Ich mit seinem „natürlichen Selbstbewußtsein" als Erstes, welches aus
sich heraus das Sein schafft. Das Sein ist in das menschlich-natürliche
(Feuerbach), das kritisch-rein-vernünftige (Bauer) und das sozial-politische
(Marx, Rüge) Sein des Menschen als eines säkularen Wesens
zurückgenommen. Die Transzendenz wird als Emigration des menschlichen
Wesens aus seinem je eigenen Sein als Folge eines verkehrten
oder kranken Verhältnisses zur Welt und zu sich selbst kritisiert. Die
Vollendung des Seins liegt in der Überwindung der religiös-metaphysischen
Seinsdopplung, die in Wahrheit als eine Entfremdung des
Seins erkannt wird, und in der Erfüllung mensdilich-säkularer Ziele.