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Ausgabe:

1965

Spalte:

214-215

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Emery, Pierre-Yves

Titel/Untertitel:

Le Christ notre récompense 1965

Rezensent:

Beintker, Horst

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 3

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kunft" verspricht, „da sie sämtlichen Ansprüchen gerecht wird"
(S. 13 5). Wir wagen das sogar im Blick auf die Klärung der
innerrömisch-katholischen Gegensätze und Spannungen zu bezweifeln
. Erst recht gilt das aber von dem Gespräch, das über
die Grenzen hinaus in einer erfreulichen Weise in Gang gekommen
ist.

Dabei wird auf protestantischer Seite wohl kein einsichtiger
Theologe bestreiten, daß auch wir in der Schriftfrage ebenso
wie in der Frage der Zuordnung von Schrift und Tradition noch
vor vielen unbewältigten Problemen stehen. Die Tradition hat
als Begriff und der Sache nach eine Aufwertung erfahren und es
geht nicht, daß die beiden Begriffe vernehmlich gegensätzlich aneinander
orientiert sind. Das widerspricht dem biblischen Sachverhalt
und Sprachgebrauch und wird auch dem faktischen Umgang
mit der Bibel in der Kirche, wie er in den Jahrhunderten
geübt worden ist, nicht gerecht. Gegen ein verabsolutiertes
Schriftprinzip, bei dem der geschichtliche Werdeprozeß der
Schriften des Kanons keine genügende Beachtung findet und wo
das im Ursprung gegebene Zueinander von Schrift und Kirche
nicht in Rechnung gesetzt wird, sind auch auf protestantischer
Seite längst Einwände erhoben. Folgender Satz von Beumer verdient
deshalb zweifellos Zustimmung: „Zeitlich vor der Schrift
gab es mündliche Verkündigung, und diese sollte weiterhin fortdauern
und nicht etwa durch jene abgelöst und verdrängt werden
" (S. 5). Wir würden vielleicht positiver formulieren und
noch betonter sagen: Das Geschriebene und so tradierte Wort
macht die mündliche Verkündigung möglich und fordert immer
neu dazu heraus.

Aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt legt sich
eine positive In-Beziehung-Setzung von Schrift und Tradition
nahe. Die Schrift hat als Kanon in der Kirche und nicht ohne
ihre Mitwirkung ihre Formung erhalten. K. Barth sieht darin
bekanntlich einen grundlegenden Bekenntnisakt der Kirche.
Darum impliziert die Schrift in ihrer konkreten kanonischen
Gestalt ein Stück kirchlicher Traditionsgeschichte. Da6 ist nicht
zuletzt auch deshalb bedeutsam, weil die Geschichte des kirchlichen
Bekennens andauert und die Kirche in ihrer heutigen
Verantwortung für die Bezeugung des Evangeliums schlecht
beraten ist, wenn sie diesen Bekenntnissen nicht die entscheidenden
hermeneutischen Hilfen für ihren Verkündigungsdienst
entnimmt.

Auch hier könnten wir wieder einen Satz von Beumer
positiv aufnehmen: „Falls der Eindruck entstehen sollte, als ob
die Schrift etwas von ihrer einzigartigen Würde durch die
.neben' sie gestellte Tradition einbüßen müßte, so ist das unberechtigt
" (S. 137). Aber wahrscheinlich liegen die eigentlichen
Schwierigkeiten des gegenseitigen Verstehens in dem Wörtchen
„neben", das Beumer in Anführungsstriche setzt. Streng genommen
tritt die Tradition als Bekenntnis der Kirche nicht
„neben" die Schrift, zu ihr hinzu, sondern aus dem von der
Schrift bezeugten Wort Gottes heraus. Vordergründig, faktisch,
da in späteren und in neuen Verhältnissen entstanden, steht die
kirchliche Bekenntnistradition neben der Schrift. Aber das darf
nicht im Sinne einer weiteren, wenn auch untergeordneten
Autorität verstanden werden. Das Bekenntnis konkretisiert nur
die eine Autorität des einen dreieinigen Gottes, zu dem sich
die Kirche grundlegend in der Kanonisierung der Schriften bekannt
hat.

Damit wird aber der Punkt sichtbar, wo die eigentlichen
noch nicht ausgeräumten Gegensätze liegen dürften. In welcher
Richtung ist eine Antwort auf die Frage nach der Autorität zu
suchen, die sich in der Schrift und der mündlichen Tradition
auswirkt? Letzlich sieht natürlich auch Beumer Grund und Ursprung
aller Autorität in dem Gott, dessen endgültige Offenbarung
in Jesus Christus zu den Menschen gekommen ist (vgl.
S. 3). Aber im Vorletzten — und das macht ihm die organische
Zusammenschau von schriftlicher und mündlicher Überlieferung
möglich (S. 1 34) und ist wohl auch die Ursache für den Schwebecharakter
des Begriffes der mündlichen Überlieferung — bekommt
für ihn die Kirche als die eigentliche Autorität das entscheidende
Gewicht. Der Kirche Christi ist nach Beumer das
Gotteswort der Offenbarung in seiner Ganzheit „anvertraut";

darum ist dies Wort „angewiesen" auf die Vorlage und die
Erklärung durch die Kirche. Und es bereitet dann auch keine
Schwierigkeit, die Bibel aus dem mündlichen Traditionsstrom
inhaltlich in diesem oder jenem Punkt zu ergänzen.

Es sei nicht verschwiegen, daß Beumer mit diesen Worten
„die Erhabenheit des göttlichen Wortes unangetastet" lassen
will. „Die Kirche bringt lediglich die Autorität Gottes zur
Geltung, sie spricht potestate vicaria, nicht potestate propria"
(S. 136). Dennoch scheint uns hier eine fundamentale Tatsache
übersehen zu sein und nicht zur Geltung zu kommen. So gewiß
Gott der Kirche sein Wort zur Vorlage und Weitergabe an die
Welt anvertraut hat, so gewiß bleibt es das Zeugnis von seinem
Wort, das auch die Kirche richtet und regiert. Gemessen an
Gott, dem Ursprung und Herrn aller Offenbarung, eignet auch
dem Kanon der Bibel nur eine sekundäre Autorität; aber wir
halten am protestantischen Schriftprinzip, auch wenn es stärker
inklusiv als weithin üblich gefaßt werden muß, doch folgendes
für unaufgebbar: Das prophetische und apostolische Zeugnis,
das die Kirche im Kanon der Heiligen Schrift von Generation
zu Generation weitergibt, verkörpert für alle Zeiten die
Autorität Gottes, die in der Kirche und ihr gegenüber gilt. Wo
der Dreieinige Gott Autorität ausübt, da schafft er Raum für die
Freiheit seines Heiligen Geistes. Diese Freiheit schärft den Blick
für die echte, in der Schrift begründete Bekenntnistradition der
Kirche, aber sie macht auch kritisch gegenüber neueren Dogmen, die
auf spekulativem Wege oder aus der mündlichen Überlieferung gewonnen
werden. Der kritische Maßstab ist dabei kein moderner
philosophisch-theologischer Agnostizismus, sondern die eine
Wahrheit Gottes in Jesus Christus, die im Geist für alle Zeiten
unüberholbar ist und keiner Ergänzung bedarf.

NeuenHettelsau Wilhelm An d e rs e n

E m e r y, Pierre-Yves: Le Christ notre recompense. Gräce de dieu et
responsabilite de l'homme. Neudiätel: Deladiaux k Niestie [1962].
2 53 S. 8° = Collection de Taize.

Der Lohn, der für den protestantischen Raum in religiöser
Hinsicht nur mit Vorbehalten erörtert werden kann, wird hier
Gegenstand weitgesteckter Untersuchungen. Der Titel des
Buches: „Christus, unser Lohn. Die Gnade Gottes und die Verantwortlichkeit
des Menschen", kündet die neutestamentliche,
dogmatische und ethische Bezogenheit der Arbeit an. So untersucht
der erste Teil den „Sinn der Werke nach dem NT" (Le
sens des oeuvres selon le Nouveau Testament). Näheren Aufschluß
geben schon die Themen der vier Kapitel darin: Die Gnade und
die Werke (13—26); Die Werke und das Heil (27—39); Das
Thema des Lohnes (untersucht und erläutert an den Begriffen
„Krone", „Bezahlung" (retribution), „Schatz" (tresor) u. a.
(40—52); Das Heil, ein Gnadengeschenk (Le salut, un don
gratuit) (53—68). Im letzten Kapitel kommt an dem Jesuswort
von den „unnützen Knechten" die Problematik des Lohngedankens
heraus. Auch wird der Lohngedanke bei Jesus und im
Judentum (63—68) behandelt. Den Anmerkungsapparat, der eine
sachbezogene Interpretation der Lohnproblematik vom NT aus
in systematisch-theologischen Ausprägungen bereits im ersten
Teil belegt, bringt Emery jeweils am Ende der Hauptteile (69 ff.;
132 ff.; 219 ff.; 248). Der zweite Teil „Elements de Synthese
sur la recompense" (75—136) hat sechs Kapitel und handelt die
unannehmbaren Lösungen von Werk und Gnade ab (Pelagianis-
mus, Semipelagianismus, Quietismus, Entleerung des Lohngedankens
), sodann die Gnade als Teilhabe am Leben Christi,
ferner die Liebe, die nach einem zitierten St. Bernhard-Wort
ihren Lohn in sich selbst hat. Kapitel IV befaßt sich mit der
Gnade, „die sich in der Zeit entfaltet und das irdische Leben
aufwertet (valorise)". Kap. V befaßt sich mit „Gnade und
Verantwortlichkeit" und Kap. VI mit dem Zusammenwirken von
Mensch und Gott, in dem die Wirkungsweise des Heiligen
Geistes gesehen wird. Auch dieser zweite Teil sucht sich ständig
auf die Interpretation biblischer Zitate zu begründen. Der dritte
Teil versucht von theologiegeschichtlichen Ausprägungen des
Problems von Gnade und Verantwortlichkeit bei Augustin,
Thomas und Calvin her die ökumenischen Perspektiven zu erhellen
. So die Einteilung der vier Kapitel, die sämtlich unter der