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Ausgabe:

1965

Spalte:

187-189

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Léon-Dufour, Xavier

Titel/Untertitel:

Les évangiles et l'histoire de Jésus 1965

Rezensent:

Delling, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 3

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die Wirklichkeit als Opfer auf der Strecke liegen, wenn ein
einziger Pfeiler dieser Logik nicht solide unterbaut ist. Nichts
wäre mir lieber, als die heute so vielfach verspürte Faszination
der expliziten oder impliziten christologischen Gleichnisdeutung
teilen zu können. Doch muß ich mich dazu unfähig bekennen,
so sehr ich vom eschatologischen Aspekt der meisten Gleichnisse
überzeugt bin, und die von Jüngel vorgelegten konkreten
Deutungsversuche (142—169) erwecken in mir nur Verwunderung
. Zweifellos ist Jesu Verhalten so etwas wie ein oder gar
der Kommentar seiner Botschaft, und umgekehrt läßt sich etwa
aus dem Gleichnis von den verlorenen Söhnen Jesu Handeln
und Geschichte begreifen. In einer Meditation mag man das
eine jeweils zum Schlüssel des andern werden lassen. Daß aber
der von mir zu interpretierende Text mich dazu aufforderte
oder zwänge, nehmen meine Augen nicht wahr. Wieder beguckt
der Autor die Dinge offensichtlich aus einem höheren
Stockwerk als ich, eben sub specie aeternitatis, wohin ich mit
meiner Art von Wissenschaft noch nicht gelangt bin. Wo ich
ihn auf dem Erdboden festhalten möchte, verlangt er von mir
mitzufliegen. Linter diesen Umständen müssen wir einander
wohl auf der jeweils ergriffenen Bahn ziehen lassen und zufrieden
sein, wenn zuweilen unsere Schatten sich decken. Lk 17,
20 f. sagt mir nicht, daß die nahe Zukunft der Gottesherrschaft
in der Gegenwart als Nähe des Nächsten erscheint (195). So
ist) für mich auch die Frage nach dem Zeitraum nicht als
Problem aus der eschatologischen Thematik ausgeschieden
(173). Doch erkenne ich an, daß sie für Jesus kein Problem
war, und meine gerade deshalb, uns sei damit ein echtes Sachproblem
aufgegeben. Daß die Form der Gleichnisrede ein theologisch
relevantes Moment in Jesu Verkündigung sei, haben
bereits die Evangelisten empfunden. Daß man andererseits
dieser Bildform nicht eine Schlüsselposition für die Escha-
tologie einräumen darf, geht schon daraus hervor, daß die
Gemeinde die Gleichnisse allegorisiert, Paulus Vergleiche
im allgemeinen mißglücken, Johannes stattdessen Symbole
bringt und die nachapostolische Zeit sie als Illustrationsmittel
benutzt. Leicht wird dekretiert, die Sache präge sich ihre Form
und die Form sei Ausdruck der Sache. Vergessen wird dabei
nur, daß wir in einer unvollkommenen Welt leben. Jüngel
selbst gemahnt daran, wenn er sich zu solchen stilistischen Ungeheuerlichkeiten
versteigt wie in dem Satz: „Als die der
Gegenwart nahe Gottesherrschaft ist die Basileia eine .dynamische
Postexistenz', deren dynamis als Macht (sie!) bereits in
der Gegenwart wirksam ist" (196). Rund heraus: Ich ziehe
„Apokalyptik" einer „dynamischen Postexistenz" vor, bin abeT
ganz damit einverstanden, daß im Wort wie in der Macht der
Liebe die Basileia sich schon anzeigt, die Forderung Jesu escha-
tologisch begründet wird und die Konsequenz der Gabe Jesu
darstellt. Noch mehr bin ich damit einverstanden, daß
Jesu Botschaft nicht in eine Existentialdialektik aufgelöst
werden sollte (186 f.), weil nämlich alles an der Vorgegebenheit
des Evangeliums und damit auch Jesu vor unserem Existenzverständnis
hängt. Auch daß in der Gleichnisrede die Sammlung
der Hörer auf die Gottesherrschaft hin erfolgt (173), nehme
ich Fuchs und Jüngel ab. Man sieht, es gibt Berührungspunkte.
Die Scheidelinie wird durch die Frage markiert, ob die Inkarnation
der Horizont des Eschaton oder die Eschatologie der
Horizont der Inkarnation sei.

Tübingen Ernst Käsemann

Leon-Dufour, Xavier: Les evangiles et l'histoire de Jesus. Paris;
Editions du Seuil [1963]. 526 S. 8° = Parole de Dieu.

Das Buch eröffnet nach der Ankündigung des Verlags eine
Reihe von Kommentaren und Studien zur Bibel unter dem Titel
Parole de Dieu. Es wendet sich nicht unmittelbar an die
Spezialisten (gelegentlich wird der homme cultive angesprochen
[324]; manches 6etzt m. E. eine gewisse Bekanntschaft mit den
Problemen voraus), baut auf den neueren Ergebnissen der
Wissenschaft auf (9) und will den Leser — es wird mehrfach
auf den gläubigen Leser Bezug genommen — ebenso in die
kritische Methode wie in das Lesen der heiligen Texte einführen
(10), d.h. nach den späteren Ausführungen offenbar

auch in ihr geistliches (spirituel) Verständnis, und die Frage beantworten
: wie erreichen wir durch die vier Evangelien hindurch
nun tatsächlich (en verite) Jesus? (8). In diesem Sinn der Auskunft
über Jesus in seiner Eigentlichkeit ist von den Evangelien
Historizität zu erwarten (31; übrigens: die Behauptung ihrer
Irrtumslosigkeit schließt nicht Ungenauigkeiten im Detail aus,
sondern meint die Wahrheit der sachlichen Aussage [24]). Der
Epilog zeigt als Ergebnis des Buches auf, daß der Jesus der
Geschichte und der Christus des Glaubens nicht einander
entgegenzustellen sind (490), auch nicht für den Historiker, der
seinerseits die wirkliche, objektive Bedeutung der einmaligen
Person Christi zu erhellen hat (490), und der dabei auf das
Vorhandensein eines objektiven Transzendierenden stößt, das
ihm nicht etwa in der Gestalt eines restlichen brutum factum
begegnet, sondern als lebendige Wirklichkeit (488). Durch das
Kerygma der Urchristenheit hindurch (und nur so) erreicht er
wirklich Jesus (490). Indem das Werk des Historikers die Antwort
der ersten Christen auf die durch Jesus gestellte Frage
wiedergibt — ohne damit vom Glauben zu dispensieren! —,
bleibt es dem des Evangelisten verwandt (493).

Der Weg der Ausführungen, der auf das Thema ,Die Begegnung
mit Jesus Christus, unserem Herrn' zugeht (Kap. XIV), verläuft in
vier Abschnitten. Der erste handelt vom viergestaltigen Evangelium.
In der Bildung des Kanons der Vier wird der Kirche — bereits vor
Marcion — deren einmaliger Charakter bewußt (43); sie sind nur die
.geronnenen' Zeugen der lebendigen mündlichen Tradition der Kirche,
der besten Exegese der Vier (50). In Kap. II wird das Bezogensein der
Briefe des NTs (Paulus, Hebr., 1. Joh.) auf die historische Person
Jesu, im Ganzen und in Einzelheiten, aufgezeigt. In Kap. III ist von
der Bedeutung der Kenntnis der Umwelt Jesu für die Beurteilung der
Vier die Rede; auch von ihrer begrenzten Bedeutung: mit dem von
dem modernen Gläubigen gewünschten Nachweis vom Bereich des
Archäologischen usw. her, daß „die Bibel recht hat", ist über die
Wahrheit der Schrift nicht entschieden (79).

Der zweite Teil erörtert vor allem die historische Zuverlässigkeit
der einzelnen Evangelien, deren Eigenart jeweils charakterisiert wird,
vom Gesichtspunkt der Literarkritik aus (100). Das Joh.-Ev. — das
substantiell auf den Apostel zurückgeht (103) — verkündigt durch die
Geschichte der Vergangenheit hindurch das Evangelium für die Gegenwart
(116); es eröffnet den Blick für die wahre Dimension der Ereignisse
, die die Geschichte Jesu ausmachen (118), aber so, daß die beiden
Zeiten der Offenbarung vor und nach Ostern unterschieden bleiben
(115). Einerseits ist die Interpretation des vorösterlichen Geschehens
von der Auferstehung her bedeutsam, andererseits die ständige Rück-
beziehung auf das vorösterliche Geschehen im Aufzeigen des Geheimnisses
Jesu (125); das wird dann in mehrfacher Beziehung konkretisiert.
Schließlich wird für bestimmte äußere Züge in der Darstellung des
Joh.-Ev.s die historische Zuverlässigkeit hervorgehoben. — Das Matth.-
Ev. kann als eine Katechese bezeichnet werden, in der Jesus von
Nazareth und der Auferstandene unmittelbar zum Leser redet (204).
Es ist das Evangelium der Kirche, hinter der Matth, zu verschwinden
strebt (170), die im Matth.-Ev. bis in Redaktion und Theologie
hinein am Werk ist (155) — es ist die judenchristliche; mancherlei
palästinische Besonderheiten in der Gestaltung des Matth.-Ev.s im
einzelnen werden aufgezeigt —; und es ist das Evangelium von der
Kirche. — Für das Mark.-Ev. steht die Frage der historischen Zuverlässigkeit
insbesondere im Blickfeld; bestimmte Stoffe werden auf die
persönliche Erzählung durch Petrus zurückgeführt (177). Mark, will —
unter dem Gesichtspunkt: Jesus, durch den Gott über den Satan triumphiert
(184 f.), ist Gottes Sohn — berichten, was sich vor Ostern ereignet
hat; daher der sparsame Gebrauch der Titel Jesu (181), der
seine Messianität vor seinem Tode verbirgt (182). Mark, ordnet den
Stoff, den er z. T. schon gruppiert überkam, im Hauptteil nicht chronologisch
, sondern nach katechetischen Gesichtspunkten (18 5 f.). —
Daß Luk. der Mann der apostolischen Tradition ist (191), zeigt sich
nicht zuletzt in der sorgfältigen Wiedergabe seiner Quellen (195 f.).
Luk. wird zum Theologen der Geschichte (199 f.) dadurch, daß er den
Plan Gottes aufzeigt in den drei Zeiten der Geschichte, der Israels,
der Jesu, der der Kirche (205). Die Darstellung der zweiten ist ganz
auf Jerusalem ausgerichtet (200—203). Die dritte ist insbesondere
durch Pfingsten bestimmt (211). — Kap. VIII charakterisiert die
literarische Gattung der Vier.

Der dritte Abschnitt _des Weges führt zunächst zurück zu den
vorsynoptischen Traditionen. In Kap. IX wird nach kurzer Behandlung
der synoptischen Frage — ausführlich erörterte sie L.-D. in A. Robert
-A. Feuillet, Introduktion ä la Bible II (1959), s. ThLZ 85 (1960)
109—111 — in bestimmtem Anschluß an die Formgeschichte von der
Tradierung de6 Stoffes in kleinen Einheiten gehandelt (236—241). In
Kap. X wird vorerst betont, daß die Tradition auf die Zeugen der