Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1964

Spalte:

146-149

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schnell, Hugo

Titel/Untertitel:

Die überschaubare Gemeinde 1964

Rezensent:

Krusche, Werner

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

145

Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 2

146

sönlichkeit schlechterdings vorbildlich. In seinem „turmhoch aufragenden
Charakter" vereinigt Jesus Mut mit Tiefblick für die
- gefährliche - Situation, Macht mit Demut, Strenge des Urteils
mit fast frauenhafter Zartheit, Zugänglichkeit mit Verschlossenheit
, die Kraft blühender und ungehemmter Männlichkeit
mit der Sanftheit zartester Frauennatur (S. 44 ff.). „Hinter
die Wiederentdeckung der Evangelien als des Bildes eines Menschen
können wir niemals wieder zurückgehen" (S. 53). Damit
haben wir „ein brauchbares Bild davon, wie die menschliche
Natur in ihrer menschlichen Vollkommenheit aussieht" (S. 66).

Wer in der Tradition vor allem der deutschsprachigen
theologischen Arbeit steht, kann sich eines starken Unbehagens
diesen Sätzen gegenüber nicht erwehren. Zwar begrüßt er, daß
das vere homo in seinem vollen Gewicht genommen wird: Der
Mensch vermag nicht nur Gott, sondern auch sich selbst nur in
Jesus Christus zu erkennen. Bedeutet das aber, daß uns die
Evangelien das Bild eines vollkommenen Menschen mit allen
seinen einzelnen Charakterzügen geben? Unsere Erkenntnis vom
Verkündigungscharakter der Evangelien verbietet den Versuch
einer „Biographie" Jesu und damit auch eines „Charakterbildes"
Jesu. Wir können einfach nicht mehr hinter Martin Kahler zurück
: „Schon allein die Feststellung des äußeren Verlaufs bietet
nicht geringe Schwierigkeiten und führt vielfach nicht über
Wahrscheinlichkeiten hinaus. Aber der Biograph stellt sich
andre, schwierigere Aufgaben. Nicht jeder versagt sich die
Verhandlung solcher Fragen, welche die Neugier kitzeln, während
ihre Beantwortung doch ohne Wert für die Hauptsache
bleibt; als solche erscheinen die Erörterungen über Jesu Schönheit
oder- Häßlichkeit; über sein früheres Familien- und Arbeitsleben
; mir fällt auch die Untersuchung über sein Temperament
oder seine Individualität unter diesen Gesichtspunkt . . . Die
Quellen aber enthalten von dem allem nichts, auch gar nichts.
(Der sog. hist. Jesus und der geschichtliche bibl. Christus, 21896,
S. 50 f.) Dazu kommt, daß doch nicht ein normatives Bild von
Jesus — selbst wenn die Evangelien so etwas hergäben - rettet,
sondern die Existenz dieses Jesus. Der Glaube an das Mensch
gewordene Wort ist die Christusverbundenheit, in der der
Glaubende unabhängig von seinem Charakter, unabhängig von
seinem psychischen und moralischen Zustand zu dem neuen
Menschen geschaffen wird, der Jesus Christus schon ist.

Es wäre ungerecht, wollten wir nicht die ausdrückliche
Versicherung des Verfassers an dieser Stelle zur Kenntnis nehmen
, daß er gerade keine dogmatische Darstellung des christlichen
Glaubens beabsichtige, sondern eine Hypothese aufstelle,
um in ihrem Lichte beobachtbare Phänomene zu prüfen (S. 35).
Man muß jedoch einwenden, daß diese Hypothese gerade eine
so nicht zu verifizierende dogmatische Aussage darstellt. Sieht
man aber wirklich von der „Hypothese" ab, so bleibt die sehr
praktische Frage, ob das Bild vom harmonischen Menschen
überhaupt Norm und Ideal ist. Warum sollte der Mensch „harmonisch
" sein? Die ihm gebotene konkrete Existenz könnte
wesenhaft in Mißklang und Einseitigkeit bestehen, in Zornausbruch
und Verzweiflung über menschliche Unverbesserlichkeit.
Geht man diesen Gedanken nach, steigt bald die Vermutung
auf, daß das hier vorgetragene Idealbild vom menschlichen
Charakter überhaupt nicht aus den Evangelien, viel eher aus
einem, natürlich mit christlicher Tradition verwobenen, idealistischen
Humanismus stammt.

Trotz allem kann das Buch, wenn man von seinem grundsätzlichen
Fundament absieht, für Menschen, die mit seelischen
Konflikten nicht fertig werden, und für Seelsorger, die mit solchen
Menschen zu tun haben, hilfreich sein. Sein Wert scheint
mir zu sein, daß konkrete Ratschläge für konkrete Lebensnötc
gegeben werden.

Rostock Heinridi B e n ck e r t

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Schnell, Hugo: Die überschaubare Gemeinde. Berlin-Hamburg:
Luth. Verlagshaus 1962. 123 S. m. Abb. 8° = Missionierende Gemeinde
, H. 5. Kart. DM 4.20.

Hasselhorn, Johannes: Kirche auf dem Land. Berlin-Hamburg:
Luth. Verlagshaus 1962. 123 S. 8° = Missionierende Gemeinde,
H. 4. Kart. DM 4.20.

Ulrich, Heinrich-Hermann: Seelsorge im modernen Tourismus. Im
Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Volksmission und in Verbindung
mit Kirchlichem Außenamt und Innerer Mission und Hilfswerk
der Evangelischen Kirche in Deutschland hrsg. Gladbeck/Westf.:
Schriftenmissions-Verlag 1962. 136 S., 16 Taf. 8°. Kart. DM 5.80.

Die Frage nach der missionarischen Struktur der Gemeinde
wird heute überall mit großer Dringlichkeit gestellt. Die Antworten
, die gegeben werden, reichen von dem Versuch, die
heutige Struktur der Volkskirche zu konservieren und die in
ihr vorhandenen Möglichkeiten zu intensivieren, bis hin zu dem
Programm einer revolutionären Auflösung aller kirchlichen
Organisation und einer völligen Sich-Hineinopferung der einzelnen
Christen in die Welt. In die verworrene und verwirrende
Vielfalt programmatischer Entwürfe hinein, die weithin dem
Unbehagen über die mangelnde missionarische Kraft der Gemeinde
entsprungen sind, gibt die Studie von H. Schnell
eine ebenso einfache wie überraschende Antwort. Es ist der
Vorzug dieser trefflichen Arbeit, daß hier nicht Impressionen
und Improvisationen dargeboten werden, sondern eine klare,
überzeugende und realisierbare Konzeption vorgetragen wird.
Wie schon der Titel der Studie ankündigt, sieht der Verf. in
der Bildung überschaubarer Gemeinden die unabdingbare Voraussetzung
für ein fruchtbares missionarisches Handeln der Kirche,
ohne die alle in ihrer Ernsthaftigkeit und Notwendigkeit gar
nicht zu bestreitenden Reformen und Experimente evangelistischer
, liturgischer und taktischer Art schließlich ins Leere
stoßen.

Der Verf. sieht die Fehlentwicklung damit beginnen, daß
die Kirche auf die mit der revolutionären Bevölkerungsentwicklung
im 19. Jhdt. gegebene Herausforderung in falscher Weise
reagierte, nämlich mit dem Festhalten an dem überkommenen
Parochialgefüge und der Bildung von Massengemeinden, deren
Spezifikum „die Überdimensionierung der Seclenzahl, aber auch
die Überdimensionierung des flächenmäßigen Umfangs" (S. 11)
ist. Die Massengemeinde — nicht die säkularisierte Umwelt —
ist schuld an der Entkirchlichung der Massen. Angesichts der
nun schon stereotyp gewordenen Selbstkritik der Kirche, sie
habe die Massen verloren, weil sie die Bedeutung der sozialen
Frage nicht erkannte, wird man Schnells Frage zu hören haben:
..Ist der Arbeiter aus der Kirche ausgezogen, oder haben nicht
vielmehr die in die Städte strömenden Menschenheere die
Kirche nicht gefunden? Die Kirche war für sie nicht präsent.
Sie hatte keine Auffangstellungen geschaffen" (S. 27). Freilich
wird man hier gegenfragen müssen, ob die damalige Kirche, auch
wenn sie der Bevölkerungsbewegung vorausgeeilt wäre oder
wenigstens mit ihr Schritt gehalten und in den neu entstehenden
Industriestädten und -vierteln Kirchen gebaut und Pfarrer eingesetzt
hätte, in ihrer Strukturierung wirklich auffangfähig gewesen
wäre. Indessen ist der Zusammenhang zwischen Massengemeinde
und Entkirchlichung gar nicht zu leugnen. Der Verf.
weist anhand von statistischem Material überzeugend nach, daß
die Gemeindegröße ausschlaggebend für die Kirchlichkeit ist.
Aber nicht diese kirchensoziologischen Tatbestände sind der
ausschlaggebende Grund für Schnells Forderung nach der Bildung
überschaubarer Gemeinden, sondern die Tatsache, daß die
Massengemeinde dem ntl. Verständnis der Gemeinde und des
Hirtenamtes widerspricht, insofern hier das Moment des Personalen
nicht zum Zuge kommen kann. In der überschaubaren Gemeinde
ist dies der Fall; für sie gilt der Grundsatz: „der
Pfarrer muß in der Lage sein, seine Gemeindeglieder zu kennen
". „Als wünschenswerte Norm der überschaubaren Gemeinde
hat die Pfarrei mit 1 000 Gemeindegliedern, einem Pfarrer und
einem eigenen Gotteshaus zu gelten" (S. 41). Bei einer Seelenzahl
von mehr als 2 500 Gemeindegliedern ist eine persönliche,
alle Glieder der Gemeinde erreichende Scelsorge unmöglich. Bei