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Ausgabe:

1964

Spalte:

138-142

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Shanahan, William O.

Titel/Untertitel:

Der deutsche Protestantismus vor der sozialen Frage 1964

Rezensent:

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm

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Theologische Litcraturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 2

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Verknüpfung und Kommenrierung vor dem Leser aus. Es ist
zunächst die Rede vom Begriff der Askese, von dem Ideal der
Armut, von dem Urteil über Familie, Ehe und Kind, und von
der allgemeinen Lebensform in der griechischen Philosophie
(S. 3—19); das griechische Denken führe an verschiedenen Steifen
nicht nur zur Askese, sondern schon zu Eremitentum und
Klosterwesen (S. 19). Das Übergreifen dieser Bewegung in den
Orient wird dann gezeigt anhand von Chairemons Schilderung
des ägyptischen Priestertums, von Plutarchs Beschreibung der
Isisreligion, von Philo und seines Bildes von den Therapeuten,
und anhand der essenischen Bewegung (S. 19—31). In diese schon
von asketischen Tendenzen bestimmte Welt sei nun das Christentum
eingetreten, habe die Tendenzen nach und nach aufgenommen
, sich angepaßt und weitergebildet. Die Demonstration dieses
Gedankens erfolgt durch die Etappen I. Kor., Lukas, Past.,
Asketentum in den Gemeinden, Eremitentum (Antonius), Kloster-
Wesen (Pachomius) hindurch (S. 31-60). Kräftig werden dabei
von L. auch die wirtschaftlichen Aspekte der Entwicklung unterstrichen
.

Vieles an L.s Darlegungen ist überzeugend, die aufgezeigten
Parallelen sind verblüffend. Aber der Gesamtanschauung
vermag ich nicht völlig zu folgen. Dem eigenen Urteil L.s: „es
bleibt bei der vorgetragenen Auffassung kein unerklärbarer
Rest" (S. 66) zuzustimmen, habe ich doch Hemmungen. M. E.
decken sich nämlich Stoff und Tendenz der Darstellung nicht
vollkommen. Daß da irgendetwas nicht ganz stimmen kann,
wird dem Leser ziemlich deutlich spürbar bei der Behandlung
Johannes' des Täufers (S. 27*), der Essener (S. 28-31), des Antonius
(S. 48-53) und des Pachomius (S. 55-60). Auch daß man
bei der Behandlung der Askese die Gnosis völlig ausklammert,
Wie L. es tut und S. 66 f. begründet, erscheint mir nicht unbedenklich
. Das soll nicht etwa heißen, daß die frühchristliche
Askese der Gnosis entstamme. Aber die Gnosis kennt die Askese
; bei den Gnostikern entspringt die Askese aus ihrer Weltanschauung
; diese Weltanschauung ist aber nicht spezifisch griechisch
. Wenn das richtig ist, müßte L.s Auffassung etwas modifiziert
werden. Mir schwebt etwa folgende Konzeption vor:
Zunächst sind da die verschiedenen einzelnen Verhaltensweisen
und Verhaltensmöglichkeiten: Verzicht auf Besitz, Enthaltung
bestimmter Nahrungs- und Genußmittel, sexuelle Abstinenz;
und alles in verschiedenen Graden und aus verschiedenen Motiven
. Aber das ist noch keine eigentliche Askese und gibt es
als eine allgemein menschliche Möglichkeit überall. Diese Verhaltensweisen
werden zu eigentlicher Askese erst, wenn eine
Entweltlichungstendenz bzw. eine negative Daseinshaltung bzw.
eine kulturfeindliche Weltanschauung sich ihrer bemächtigt, sie
zu ihrem Ausdrucksmittel macht, und sie dabei und dadurch
summiert, verschärft, ergänzt und fortbildet. Eine solche Daseinshaltung
als Wurzel und Beziehungspunkt einer asketischen Praxis
ist" gegeben in bestimmten Ausprägungen der griechischen
Philosophie mit ihrem Dualismus Leib /Seele, die die hellenistische
und christliche Welt weitgehend beeinflußt haben. Das
ist der Aspekt, den viele von L.s Belegen klar erkennen lassen,
und das Richtige an L.s eigener Auffassung. Aber diese griechische
Philosophie ist nicht die einzige derartige Weltanschauung
. Neben ihr stehen z. B. je als besondere Wurzel einer asketischen
Praxis die gnostische Weltanschauung und ein radikal
verstandenes Christentum, bestimmt von den entsprechend verstehbaren
Partien urchristlicher Schriften. Verschiedenheit der
Wurzel der Askese hindert natürlich nicht, daß die Ausdrucksmittel
und sekundären Einzelbegründungen austauschbar bzw.
übertragbar sind. Die Askese hat im übrigen jeweils auch ihre
sozialen, wirtschaftlichen (von L. schön herausgestellt) und
Psychologischen Motive.

Berlin Hans-Martin Schenke

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Sh an ah an, William O.: Der deutsche Protestantismus vor der
sozialen Frage 1815—1871. Aus dem Amerikanisdien übersetzt von
Dieter Voll, München: Kaiser 1962. VIII, 491 S. gr. 8°.
DM 21.50; Lw. DM 26.—.

Der amerikanische Theologe Shanahan S. J. will in diesem
I. Band eines bereits auf Fortsetzung angelegten Werkes die
Versuche des deutschen Protestantismus zur Bewältigung der
sozialen Frage auf dem Hintergrund der nationalen Geschichte
von 1815 bis 1871 darstellen. Ein zweiter Teil soll die Entwicklung
vom Zeitalter Bismarcks über den Aufbruch der
religiös-sozialen Bewegung und die Bemühungen der beiden
Blumhardt bis hin zur Gegenwart erfassen. Der Vorzug der
Darstellung Shanahans besteht in der Geschlossenheit des
Bildes, das er zu entwerfen vermag. So füllt sein Buch eine
wirkliche Lücke aus, obwohl die wertvollen Darstellungen von
K. Kupisch „Vom Protestantismus zum Kommunismus" (1953)
und „Das Jahrhundert des Sozialismus und die Kirche" (1958)
weiterhin trotz ihrer nur ausschnittweisen Behandlung der
sozialpolitischen Problematik Beachtung verdienen. Die Lektüre
des Werkes von Sh. gewinnt zweifellos durch Beiziehung der
Kommentare und Quellenstücke bei G. Brakelmann: Die
soziale Frage des 19. Jahrhunderts, 2 Teile, Luther Verlag,
Witten 1962. Das in acht Hauptkapitel gegliederte Werk ist
von Dr. Dieter Voll flüssig übersetzt worden. Eine Bibliographie
fehlt leider noch. Die Besprechung muß sich zunächst
in ausführlicher Kritik äußern. Später kann sie sich kürzer
fassen.

Der Verfasser schildert zunächst die Schwierigkeiten, die
einer einheitlichen sozialpolitischen Konzeption des Protestantismus
entgegenstanden. Mit der Verschiedenheit der theologischen
Richtungen hängt die Tatsache zusammen, daß die Initiative
zur Bewältigung der sozialen Frage in der Regel von
einzelnen Persönlichkeiten ausging. Offizielle kirchliche Äußerungen
blieben selten oder unbestimmt. Das Erbe des Staats-
kirchentums der Aufklärung wirkte sich hemmend aus. Ansätze
in Luthers Sozialethik wurden ins Konservative verbogen.
Weltliche Interessen und rationale Betrachtungsweise als Folgen
der Aufklärung führten zu einer Kulturoffenheit des Protestantismus
, der jedoch nach des Verfassers Meinung nicht die
religiöse Orientierung fehlte. Pietismus und Idealismus, gegen
dessen einseitige Ableitung sich Sh. ausspricht, vereinigen sich
in der Person Schleiermachers. Mit Recht stellt der Verfasser
fest, daß Schleiermachers soziale Verbesserungsvorschläge als
Vermächtnis an eine christlich-soziale Bewegung größeres Verständnis
verdient hätten. Ritsehl macht hierin eine erfreuliche
Ausnahme. Hegels Philosophie findet bei Sh. wenig Verständnis
. M. E. wird er Hegel weder philosophisch noch hinsichtlich
der Frage nach der Auswirkung der Hegeischen Philosophie
gerecht, wenn auch der Kritik zuzustimmen sein wird, daß
von Hegel die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft
nicht genügend geklärt worden sind. Hegels Philosophie der
Geschichte müßte erneut auf sozialethische Ansätze hin untersucht
werden. Verf. zeigt ja selbst eine unausgeglichene Beurteilung
der Hegeischen Position gegenüber Klassendenken und
Armut. Ich meine, genügend positive Aspekte in ihr entdecken
zu können (vgl. S. 27). Unter die „Stimme der Stillen" ordnet
Shanahan auch den Beitrag des Pietismus von Spener bis Zin-
zendorf ein, wobei statt an 6ich ganz wohlgelungener Referate
über die kirchengeschichtliche Bedeutung des Pietismus i. allg.
sich eine schärfere Herausarbeitung der sozialethischen Problematik
empfohlen hätte. Der konstruktive Beitrag des Pietismus
ist nur ungenügend erfaßt. Das ist um so bedauerlicher, als
reiche Forschungsergebnisse der neueren Zeit darüber vorliegen.
Richtig erkennt der Verf. die Bedeutung der eschatologischen
Problematik in ihrer Auswirkung auf die sozial- bzw. die nur
individual-ethischen Programme. Übrigens ist von diesem Aspekt
her auch am besten die politische Einstellung des Protestantismus
im 19. Jahrhundert zu verstehen. Leider hat sich Verf.
nicht entschließen können, diesen Aspekt konsequent im Auge
zu behalten. Was hätte das füT die richtige Beurteilung der
sozialethischen Programmatik bei Luther bedeutet, die Sh. in