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Ausgabe:

1964

Spalte:

942-943

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Martin Buber 1964

Rezensent:

Schoeps, Hans-Joachim

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Theologisdie Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 12

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fassung, daß sie unmittelbar aus ihr zu entnehmen sei, dann versinken
alle Aussagen und Ergebnisse der transzendentalen
Theorie Kants in ein mythisches Dunkel" (S. 46).

,,Es ist bezeichnend, daß Husserl hier bei Kant und anderweitig
immer wieder den Auedruck .mythisch' gebraucht (im Blick
auf Kants .Konstruktionen', s. S. 38), der ja in der positivistischen
Literatur zur Bezeichnung nicht verifizierbarer Theoreme gebraucht
wird ..." (S. 46).

Husserl ist aber dadurch Kant sehr verbunden, daß er das
Phänomen der Zeit zum Schlüssel des transzendentalen Problems
erhebt. Die Einheit der inneren Zeit des Bewußtseins ist
es, was die Einheit des Erlebnisstromes konstituiert. Womit die
Einheit des Erlebnisstromes nicht nur als bloße Bedingung der
Möglichkeit für Erfahrung vorausgesetzt, sondern als die
..synthetische Einheit de6 Erlebens stiftende Funktion positiv
aufgewiesen werden" kann (S. 61, vgl. S. 129 f.). Die Einheit
des Bewußtseins soll nicht einfach als nötig für Erfahrung
postuliert oder zur onti6chen Vorgegebenheit erklärt
werden, sondern aus einer Analyse der Strukturen der (transzendentalen
) Subjektivität selbst hergeleitet und positiv aufgewiesen
werden. Es kann dann auch „von einem Regreß im üblichen
Sinne (regressus infinitus, F.) nicht mehr die Rede sein.
Das Jetzt ist ein absoluter Fixpunkt, das nunc stans, wie Husserl
später sagt. .. Ein Rückgang hinter dieses aktuelle Jetzt, ein
.Regreß' hinter es ist nicht möglich, da es .hinter' ihm nichts
gibt, denn es ist der Ort, aus dem heraus alles in Erscheinung
tritt, also auch jeder Regreß iterativer Art" (S. 130). —

Es kann nicht die Aufgabe dieser Besprechung sein, auf die
Vielzahl der Detailprobleme und die Subtilitäten in der Auseinandersetzung
mit der Fachliteratur einzugehen. Statt dessen
seien zwei kritische Anmerkungen grundsätzlicher Art, nicht
die Arbeit Seebohms direkt, sondern die von ihr verfochtene
Sache betreffend, gestattet:

1) So sehr es Anerkennung gerade durch den Theologen erfahren
muß, daß Husserl (im Gegensatz zum Positivismus) auch
metaphysische Fragestellungen in den Rahmen
wissenschaftlicher Philosophie einbeziehen will („nicht die
Metaphysik überhaupt, sondern nur die schlechte, d. h. die
dogmatische Metaphysik" will er unmöglich machen, S. 159), so
muß doch eingewendet werden, daß jene Fragen, die Seebohm
als solche metaphysischen benennt, schlechterdings auf einer anderen
Ebene liegen als alles, was man sonst zum Gegenstands-
bereich der Phänomenologie zählen mag (besonders das Apriorische
als das Letztbegründende); nämlich: „die Fragen nach dem
Schicksal, dem Tode, dem Sinn der Geschichte, dem sinnvollen,
menschlichen Leben, kurz: die ethisch-religiösen Fragen" (S. 160).
Es gibt keine universale wissenschaftliche Methode, die in der
exakten Bewältigung auch dieser „ethisch-religiösen Fragen"
ihre Erfüllung und ihren Ausweis finden könnte, etwa Kants
Metaphysik der Sitten überbieten wollend. Wie sich überhaupt
von diesem Problem her die kritische Frage erhebt, ob
.Wesensschau' mehr als rein formale Strukturen in den Blick bekommen
kann (innerhalb welcher sich ja Kants Metaphysik der
Sitten durchaus hält). Zumindest kann Wesensschau so wenig
wie Wissenschaft überhaupt das Individuelle an Geschichte im
großen wie Geschichte im kleinen erfassen.

2) Darüber hinaus muß 60gar die Frage gestellt werden, ob
das philosophische bzw. erkenntnistheoretische Bemühen
um „Letztbegründung" nicht vielleicht nur Symbol dafür
sein kann, daß der Einzel Wissenschaftler vor der Aufgabe
6teht, über die Grundlagen und Wahrheit seiner Behauptungen
Rechenschaft abzulegen (logon didonai, S. 93). Letztlich
kann keine Philosophie dem Einzelwissenschaftler die Aufgabe
der „Letztbegründung" seiner Aussagen abnehmen; ja besteht
sogar die Gefahr, daß sich der Einzelwissenschaftler durch die
Philosophie vom Bemühen um „Letztbegründung" (im weitesten
Sinne) gerade dispensiert glaubt.

Hcrlin Hans-Georg Fritzsche

[B u b e r, M.:] Martin Buber. Hrsg. v. P. A. S c h i 1 p p u. M. F r i e d-

man. Stuttgart: Kohlhammer [1963]. XIV, 660 S., 1 Porträt
gr. 8° = Philosophen des 20. Jh., hrsg. v. P. A. Schilpp Lw
DM 68.-.

Martin Buber ist oft als ein dialogischer Denker bezeichnet
worden. Dieses außerordentliche Buch bestätigt den Sachverhalt:
29 Autoren aus Amerika, Frankreich, Israel und Deutschland,
Juden, Protestanten, Katholiken antworten auf Buber und Buber
antwortet ihnen in einem Schlußwort, teils weil er sich zu
einem Gedankenaustausch gedrängt fühlt, teils weil er Mißverständnisse
abwehren will. Der Abdruck autobiographischer
Fragmente und eine Bibliographie (1897-1962) erhöhen den
Wert des Bandes.

Der Theologe Buber (Fackenheim, Kaplan, Fritz Kaufmann),
der Philosoph und philosophische Anthropologe Buber (Harts-
horne, Wheelwright, Jean Wahl, Pfuetze, A. W. Schneider), der
Ethiker (Fox, Friedman), der Erkenntnistheoretiker (Levinas),
der Geschichtsphilosoph und politische Denker (Jakob Taubes,
Robert Weltsch), der Bibelinterpret (Glatzer, Muilenburg), der
Pädagoge (E. Simon) und der Psychologe (Färber) werden eingehend
behandelt. Als Typus des „Klassikers" wird Buber von
K. Kerenyi betrachtet. Das dialogische Prinzip seines Denkens
beschäftigt Gabriel Marcel, Helmut Kuhn, N. Rotenstreich und
angewandt auf die moderne Naturwissenschaft C. F. von Weizsäcker
; seine Beurteilung des Christentums wird von Emil
Brunner, Max Brod, H. U. von Balthasar erörtert und sein so
wichtiges Verhältnis zur Mystik und zum Chassidismus von
Hugo Bergmann und Riwka Schatz-Uffenheimer. Insbesondere
der letztgenannte Aufsatz ist von einiger Bedeutung, weil hier
offenbar eine gute Kennerin des Chassidismus 6charfe Kritik an
Bubers Darstellung und Methodik übt. Obwohl der große Mann
in seinem, Schlußwort widersprochen hat, glaube ich, daß Frau
Schatz-Uffenheimer mindestens mit der Bemerkung recht hat,
daß „der Chassidismus keinen Augenblick das gnostische Bewußtsein
abgestreift und nie vergessen (hat), daß unsere Welt
als solche aus dem .Bruch' hervorgegangen ist" (278). Sie stellt
die Frage, ob Buber nicht zu viel von seiner Dialogik in die
Quellen hineininterpretiert habe und ob es sich beim Chassidismus
nicht streckenweise weniger um Begegnung als um
mystische annihilatio handelt. Auch einige Bemerkungen von
Hugo Bergmann weisen in diese Richtung, wenngleich gewiß
feststeht, daß der Chassidismus keine einheitliche und keine
widerspruchsfreie Geistesbewegung war. Zentralmotiv dieser
chiliastischen Erweckungsbewegung war die Umkehr. So wird
vom „Heiligen Juden" der Ausspruch tradiert: „Kehret um,
kehret eilig in der Umkehr um, denn die Zeit ist kurz und es
ist keine Muße zu weiterer Seelenwanderung mehr, denn die Erlösung
ist nahe". Buber zitiert das (erstmalig?) in seinem
Schlußwort und berichtet, daß ihm dieser Predigtanruf noch in
seiner Jugend zugekommen sei.

Alle Positionen des Bandes versucht Walter Kaufmann in
seinem abschließenden Beitrag „Bubers religiöse Bedeutung" zusammenzufassen
. Hier finden sich über Bubers Wirkung, zumal
in den USA, sehr interessante Beobachtungen, die daher wörtlich
wiedergegeben seien:

„Bubere gegenwärtiger Erfolg in den Vereinigten Staaten ist
trügerisch. Zwar i6t man sich seines hohen geistigen Ranges bewußt,
man zollt ihm Achtung, aber wenige haben ein Ohr für das, was er
zu sagen hat. Man schreibt ihm eine Anthropologie und eine Theologie
, eine Ethik und eine Epistemologie zu, man sudit „Prinzipien"
biblischen Glaubens bei ihm und ist ein wenig irritiert über den
Mangel an systematischem Aufbau, an klar formulierten Prinzipien
sowie über seine übermäßig persönlichen Deutungen.

Die Juden sind stolz auf ihn und halten mit ihrem Ärger zurück,
und die Christen, fast hungrig nadi einer verehrungswürdigen jüdischen
Gestalt, der sie ihre Achtung zeigen können, ihre Vorurteilslosigkeit
und ihr Entsetzen über das seinem Volk zugefügte Unrecht, unterdrücken
gleichfalls ihren Unwillen. Außerdem schickt es sich nicht,
religiöse Menschen zu kritisieren. Aber Bubers Urteile über Fragen
des NT gehen Juden und Christen gegen den Strich: manchen Juden
ist er nicht jüdisch genug, während viele junge jüdische Intellektuelle
so stark unter dem Einfluß der modernen protestantischen Theologie
stehen, daß sie Bubers Anschauungen von einem recht christlichen
Standpunkt aus infrage stellen" (5 86 f.).