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Ausgabe:

1964

Spalte:

928-929

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Werner, Ernst

Titel/Untertitel:

Nachrichten über spätmittelalterliche Ketzer aus tschechoslovakischen Archiven und Bibliotheken 1964

Rezensent:

Řičan, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 12

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dienen kann, wenn er das (von ihm stark empfundene und betonte
) augustinische Thema des menschlichen Strebens nach der
Ruhe in Gott durchführt und zur Schau einer nach Gott als
ihrem letzten Ziel strebenden Kreaturwelt ausweitet. So sehr
aber Dionysius mit Thomas natürliche Erkenntnis auf Abstraktion
und nicht auf Illumination zurückführt (S. 62), 60 ist doch
in der weiteren Schau des Seins in seinem Ausgehen von und in
«einer entsprechenden Rückkehr zu Gott die Lichtmetaphysik in
ihrem neuplatonischen Glanz und nicht in ihrer aristotelischen
Umdeutung und Zurückdrängung (wie bei Thomas) maßgebend
(S. 59). Es zeigt sich zudem hier, was schon in der den drei
Kapiteln vorausgehenden „Einführung in das Verständnis der
Persönlichkeit und der theologischen Eigenart des Kartäusers"
(S. 9—47) festgestellt wird: „Während sich Thomas in zunehmendem
Maße vom Neuplatonismus löste und dem aristotelischen
Denken Raum gab, geht die Entwicklung des Kartäusers in die
umgekehrte Richtung (S. 44, vgl. S. 54).

Vielfache Belege für diesen interessanten Sachverhalt finden
wir im dritten Kapitel (S. 190—291), in dem der Verfasser
vom „Verhältnis der Natur des geschaffenen Geistes zur
übernatürlichen Begnadigung und Vollendung in der visio
beatifica" handelt, oft auf in der versprochenen Gesamtdarstellung
der dionysischen Gnadenlehre ausführlicher zu Erörterndes
zu sprechen kommt, anderseits aber auf Fragen der Gottebenbildlichkeit
der Seele im Sinne der augustinischen Trinitäts-
analogien (bei denen Dionysius bezeichnenderweise ihre Zurückdrängung
im späteren Werk des Thomas ignoriert, vgl. S. 247,
266, 272 f., 275) mit einer kenntnisreichen und liebevollen Ausführlichkeit
eingeht, die seinem Lehrer M. Schmaus Ehre macht.
Auf Einzelheiten kann hier leider nicht eingegangen werden.
Daß dieses Kapitel zu einem weniger scharf profilierten Ergebnis
kommt als das zweite, liegt in der Natur der Sache. Denn
nunmehr haben wir es nicht mit dem „neuzeitlichen" Dionysius
zu tun, sondern mit dem Dionysius, der nur „den von Augustinus
her beeinflußten Theologen der Hochscholastik" folgt,
wenn er in seiner Lehre von der menschlichen Gottebenbildlichkeit
„eine habituelle Anlage zu einer intutiven Gottesschau
und damit wohl auch eine positive natürliche Hinordnung auf
dieselbe vertritt" (S. 280).

Damit stellt sich aber die Frage, ob nicht Dionysius zu
6ich selbst (im Hinblick auf seine in eine ganz andere Richtung
weisende Sonderlehre) in „unversöhnlichem Widerspruch" steht
(ib.). Möglichkeiten, diesen Widerspruch auszugleichen, erwägt
der Verfasser, findet es aber befriedigender, hier „eine Nahtstelle
" festzustellen, an der sich zu erweisen scheint, daß
„Dionysius... als Theologe germanischen Blutes nicht im
gleichen Maße über das Geschick zur Systembildung verfügt...,
das den romanischen Theologen nachgerühmt wird" (ib.).

So richtig die Einsicht ist, daß wir Dionysius als Systematiker
nicht überfordern dürfen, so führt eine geschichtliche
Betrachtung des Problems uns wahrlich weiter, als der Verfasser
uns mit dieser Betrachtung des Germanischen und Romanischen
(die er glücklicherweise nicht näher ausführt) bringt. Hat diese
bekannte Verallgemeinerung von vielleicht in beschränkter
Weise brauchbaren Einzelbeobachtungen nicht mitunter z. B. dazu
beigetragen, daß die Systematik des Thomas überschätzt, die
des Albertus Magnus aber unterschätzt wurde? Sicher aber kann
man so der Eigenart des Kartäusers nicht gerecht werden, der
an Systemkraft sich ja auch nicht mit Albertus messen kann.
Daß es theologische Verdienste anderer Art gibt, hat der Verfasser
an Dionysius weitgehend in schöner Weise gezeigt. Nun
scheint mir aber, daß dieser, systematisch gesehen, unversöhnliche
Widerspruch in seinem Denken den Kartäuser als um so
bedeutenderen Vertreter der Theologie seiner Zeit in ihrer besonderen
Lage ausweist. Mit dieser bedeutsamen Widersprüchlichkeit
weist er über sich selbst hinaus und möchte als Vertreter
einer Epoche gewürdigt werden, der das von Aristoteles
gelernte „natürliche" Denken keine Rückkehr zu einmal in Frage
gestellten Harmonisierungen von Natur und Gnade erlaubte,
vielmehr zu immer kritischerer Erforschung dieses Unterschiedes
antrieb. Daß anderseits hier nicht kritische Philosophie um ihrer
selbst willen getrieben wurde, zeigt die (im Vergleich zum 13.

Jahrhundert rückläufige) Bewegung zu Augustin, zu neuplatonischen
, mystischen Formen der Theologie. Gerade der Verfasser
hat gezeigt, daß Dionysius, obwohl er zunächst als das Gegenteil
eines „Renaissancemenschen" erscheinen mag und eisern an
der „via antiqua" festhält, dennoch die vom 13. Jahrhundert so
verschiedene Weise, in der seine Zeit überall die Natur und
den Menschen „an sich" betrachtet, nicht verleugnet. Es ist
nicht nur legitim, sondern zutiefst notwendig, daß die Theologen
dieser Zeit andere Mittel einsetzen müssen, um die sich
hier verstärkende Spannung auszugleichen, daß sie darum auch
nach Versicherungen des Göttlichen streben, die eine über sich
selbst nicht hinausweisende Ontologie des Natürlichen ihnen
nicht bieten kann.

Wenn eine solche Sicht des Kartäusers ihm und seiner Zeit
gerecht wird, dann steht er nicht mehr vor uns als einer, der
sich an Thomas und Bonaventura genügen ließ, sondern als einer,
der, trotz weitgehender Unterschiede, auch mit den Nominalisten
seiner Zeit mehr gemein hatte, als er selber wahrhaben
mochte. Man darf dem Verfasser nicht vorwerfen, daß er sich
Ausblicke in dieser Richtung erspart hat. Immerhin hätte er
offener, weniger konventionell und oberflächlich den Nominalismus
(via moderna) ins Auge fassen können, als er das beiläufig
tut (S. 42 f. und — etwas substantieller — S. 109). Später nimmt
er Gelegenheit, in einer (an sich wertvollen) Bemerkung darzutun
, daß des Kartäusers Gebrauch des Begriffspaares „potentia
absoluta / potentia ordinata" vom occamistischen Gebrauch sehr
verschieden ist (S. 190 f., vgl. S. 196 ff.). Aber nun orientiert
er auch nicht gerade sehr genau darüber, wie und mit welcher
Tragweite Dionysius sich dieser Begrifflichkeit bedient. Ein
genaueres Eingehen auf dieses Problem (und auch auf andere,
z. B. des Kartäusers Identifikation von natürlicher Fassungskraft
und natürlichem Verlangen [S. 168 und 198] und die damit
gegebene Wendung des Problems der Potentialität, oder
seine Betonung des freien Willen Gottes in der Gnadenmitteilung
[S. 203]) hätte zu aufschlußreichen Konfrontiationen mit anderen
Vertretern der Spätscholastik (Nominalisten und anderen)
führen können.

Es trifft sich gut, daß kürzlich ein anderer „letzter
Scholastiker", Gabriel Biel, die erste eingehende Würdigung
seiner gesamten Theologie erfahren hat2. Dabei ergab sich in
genauerer und weitergehender Weise, als es bisher zu sehen
möglich war, daß auch die späten Nominalisten in gewissen
Punkten „neuzeitliche" Theologen (gerade vom Gesichtspunkt
neuzeitlicher katholischer Theologie aus) waren. Im Vergleich
zu Dionysius handelt es sich um andere Punkte, aber um
parallele Entwicklungen. Mit diesem Blick ins „andere Lager"
wird die Bedeutung des Kartäusers nicht geschmälert, sondern
unterstrichen.

Die technische Ausarbeitung (z. B. in den sehr sorgfältigen
Literaturhinweisen) und die äußere Form dieses Buches entsprechen
den hohen Maßstäben der Reihe, in der es erschienen
ist.

San Anselmo/ California, U. S. A. Martin Anton Schmidt

2) Heiko A. Oberman: The Harvest of Medieval Theology:
Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism. Cambridge/Massachusetts
1963. Die deutsche Ausgabe (Spätscholastik und Reformation,
Band I: Gabriel Biel und die Blüte der Theologie im Spätmittelalter)
soll noch 1964 in Zürich (EVZ-Verlag) erscheinen.

Werner, E.: Nachrichten über spätmittelalterliche Ketzer aus
tschechoslovakisdien Archiven und Bibliotheken. S.-A. aus Wissenschaftliche
Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts
- und Sprachwiss. Reihe, 12. Jg. (1963), H. 1, S. 215—284,
6 Taf. gr. 8°.

E. Werner handelt über vier Handschriften, die in Prag und
Olmütz aufbewahrt werden als Zeugnisse von dem Wirken und
der Lehre der Waldenser und der Freien Geister im 14. und
15. Jahrhundert. Diese schon aus anderen Editionen bekannten
Dokumente (Inquisitionsakten Peter Zwickers und Martins von
Prag vom J. 1391; 39 Artikel 6emikatharischer Waldenser,
datiert vom 3. Januar 1428 in Eger; irrige Thesen des Karmelitermönches
Wilhelm von Hildernissen aus Brüssel, datiert vom