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Ausgabe:

1964

Spalte:

871-872

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Wendland, Heinz-Dietrich

Titel/Untertitel:

Der Begriff christlich-sozial 1964

Rezensent:

Karrenberg, Friedrich

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nicht nur als Glaube, sondern auch als Religion anerkennt. Dann
wird man beipflichten können, daß die Eingliederung der
Religion in die Kultur und die gegenseitige Integrierung
Aufgaben ersten Ranges sind. Die Anerkennung neuer Kulturstufen
durch die Kirche wird energisch gefordert und darum
ein freiwilliges Ghettochristentum mit dem „Anstrich eines
religiösen Sektierertums" verworfen. Daß der Weg der kirchlichen
Zukunft über echte, neue Gläubigkeit geht, dessen ist
6ich Laloux bewußt. Der christliche Soziologe ist aber erst
dann beruhigt, wenn die Integrierung des kirchlichen Christentums
in Kultur und Gesellschaft geschah. Darum wird mit
größtem Ernst der Milieueinfluß und seine Lenkung erforscht.
Überraschend ist, daß die Gründe de6 Abfalls vom Christentum
weniger in den neuen Arbeitsverhältnissen als dem sinkenden
religiösen Familienklima gesehen werden. Bedeutet doch
die Heirat in der Regel den kirchlich aktiven Abfall der
Frau, der in späteren Jahren nur zum Teil rückgängig gemacht
wird. Die Kirche in einem immer unchristlicher werdenden Land
hätte die Pflicht, „das unbedingte Recht der Nichtchristen
anzuerkennen, nach ihrer eigenen philosophischen und eventuell
religiösen Anschauung zu leben. Eines der Hauptziele der
missionarischen Seelsorge ist daher die Gewinnung von echten
Christen." Es sei noch auf die behauptete Tatsache verwiesen,
daß die Entchristlichung der Stadt der des Dorfes vorausging.
Das wird im Regelfall zutreffen. Wir vermerken jedoch, daß
im östlichen Deutschland die Entwicklung einst weithin umgekehrt
verlaufen ist. Wie verschieden kann die geschichtliche Entwicklung
sein! Nicht zuletzt ist wertvoll, daß der Leser mit
einer Fülle soziologisch-seelsorgerlichen Schrifttums französischen
Ursprungs bekannt gemacht wird.

Rostock Gottfried Holtz

Wendland, Heinz-Dietrich: Der Begriff Christlich - sozial. Seine
geschichtliche und theologische Problematik. Köln-Opladen: Westdeutscher
Verlag [1962]. 60 S. gr. 8° = Arbeitsgemeinschaft f.
Forschung d. Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften,
H. 104. Kart. DM 4.80.

Der interessanten kleinen Abhandlung, die sich auf den
evgl. Bereich beschränkt, liegt ein Vortrag zugrunde. Darin hebt
der Verfasser zunächst die geschichtliche Bedeutung der Christlich
-sozialen in ihrer Zeit hervor. Sie besteht z. B. darin, daß
man sich der Privatisierung und Spiritualisierung der christlichen
Existenz widersetzt und einen, das Gesellschaftliche als Aufgabe
umschließenden Begriff von Diakonie entwickelt hat. Auch daß
man das enge Bündnis von Kirche und Staat als belastend empfunden
und dies in dem Zick-zack-Kurs des Evangelischen Oberkirchenrats
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderds 6elbst zu
spüren bekommen hat, ist sicher positiv zu werten.

Es ist auch richtig, daß ein unübersehbares Maß kirchlicher
sozialer Arbeit, eine Fülle sozial-politischer Aktionen bis hin
zur Bildung neuer Institutionen in Kirche und Staat, zu neuen
Akten der Gesetzgebung ohne den schöpferischen Impuls der
Christlich-sozialen niemals in Bewegung gesetzt worden oder
ins Leben getreten wäre.

Der Verfasser sieht selbstverständlich die zeitbedingten
Grenzen dieser Konzeption: in der Vorstellung vom christlichen
Staat und christlichen Volk, in der vorschnellen Identifizierung
von Sozialismus und Atheismus (mit Ausnahme von Todt, der
aber praktisch kaum Bedeutung gehabt hat), in der Angst vor
allem Revolutionären, in ihrem im Anfang auch wohl schwer
zu behebenden Mangel an soziologisch zureichender Analyse der
Gesellschaft. Auch „die Idee eines Diakonats aller Gläubigen"

— wichtiger, schreibt Wendland, als der Gesichtspunkt des allgemeinen
Priestertums —, die Umwandlung der passiven in eine
dienende Gemeinde, die sich in die Welt, in die Gesellschaft
hineingibt, hineinopfert — ist nicht ernsthaft realisier* worden.

Interessant ist die positive Würdigung Friedrich Naumanns
und die Meinung Wendlands, Hegels Einsicht in den Charakter
der bürgerlichen Gesellschaft und die industrielle Arbeit hätte

— wenn sie darauf zugegangen wären — den Christlich-sozialen

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hilfreich sein können. Ich habe im Blick auf beide stärkere
Bedenken.

Wendland weiß selbstverständlich, daß die Formel „Christlich
-sozial" der Vergangenheit angehört; zwar könne man aus
der Polemik der Christlich-sozialen gegen den Liberalismus und
Sozialismus ihrer Zeit manches lernen. Aber inzwischen hat sich
ja vieles geändert. Vollends würde sich die Kirche von denjenigen
abschließen, mit denen sie ihren kritischen Dialog über die
Grundfragen unserer Gesellschaft zu führen hat, wenn sie 6ich
mit der christlich - sozialen Tradition identifizieren würde, was
aber auch nicht geschieht.

Der Aufsatz von Wendland gewinnt dadurch, daß die Diskussion
mitgedruckt ist, die 6ich an den Vortrag angeschlossen
hat und in der auf die Unklarheit des Begriffs „sozial" und auf
die (biblisch jedenfalls) problematische Anwendung des Begriffs
„christlich" auf Sachen, Organisationen und Programme hingewiesen
wurde.

Und wie fragwürdig der Bindestrich ist, das wissen wir
seit K. Barth.

Bedauerlich finde ich, daß die Literatur aus dem Bereich
der DDR zu diesem Thema überhaupt nicht berücksichtigt worden
ist.

Velbert/Rhld. Friedriib Karrenberg

B o n d y, Robert E.: Die soziale Problematik der modernen Gesellschaft
in amerikanischer Sicht (Die Innere Mission 53, 1963 S. 88
—98).

C a r r i e r, Herve: Vers une Psycho-Sociologie religieuse (Sciences
Ecclesiastiques XIII, 1961 S. 99—104).

E 1 k i n d, David and Sally: Varieties of Religions Experience in Young
Adolescents (Journal for the Scientific Study of Religion 2, 1962
S. 102—112).

Fürstenberg, Friedrich: Kirchliche und weltliche Lebensformen
(Zeitwende XXXIV, 1963 S. 378—385).

Golomb, Egon: Seelsorgsplanung in der Großstadt. Entwurf eines
Organisationsmodells. (TThZ 72, 1963 S. 129—149).

Hertz, Karl H.: Max Weber and American Puritanism (Journal for
the Scientific Study of Religion 1, 1962 S. 189—197).

Klausner, Samuel Z.: Images of Man: An Empirical Inquiry
(Journal for the Scientific Study of Religion 1, 1961 S. 61—73).

Kolb, William L.: Images of Man and the Sociology of Religion
(Journal for the Scientific Study of Religion 1, 1961 S. 5—22).

Lazerwitz, Bernard: Membership in Voluntary Associations and
Frequency of Church Attendance (Journal for the Scientific Study of
Religion 2, 1962 S. 74—84).

Nash, Dennison, and Peter Berger : The Child, the Family, and
the „Religious Revival" in Suburbia. Journal for the Scientific
Study of Religion 2, 1962 S. 85—93).

Luckmann, Thomas: Das Problem der Religion in der modernen
Gesellschaft, Institution, Person und Weltanschauung. Freiburg/Br.:
Rombach 1963. 84 S. 8° = Soziologie, Schriftenreihe zu grundsätzl.
u. aktuellen Fragen, hrsg. v. A. Bergstraeßer.

O'D e a, Thomas F.: Five Dilemmas in the Institutionalization of
Religion (Journal for the Scientific Study of Religion 1, 1961 S. 30
-39).

S a 1 i s b u r y, W. Seward: Religiosity, Regional Sub-Culture, and
Sozial Behavior (Journal for the Scientific Study of Religion 2,
1962 S. 94—101).

Scharfenberg, Ingeborg und Joachim: Hierarchisches Amt oder
Dialogischer Dienst? Zur Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft
(Zeichen der Zeit 17, 1963 S. 315—322).

Stanley, Manfred: Church Adaption to Urban Social Change: A
Typology of Protestant City Congregations (Journal for the Scientific
Study of Religion 2, 1962 S. 64—73).

Wendland, Heinz-Dietrich: Christlicher Dienst in der Welt des
raschen sozialen Umbruchs (Zeitwende XXXIII, 1962 S. 664—674).

Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 11