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Ausgabe:

1964

Spalte:

863-866

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Kähler, Martin

Titel/Untertitel:

Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert 1964

Rezensent:

Steck, Karl Gerhard

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863 Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 11 864

Kahler, Martin: Geschichte der protestantischen Dogmatik im —81) gewidmet, mit eigenen Analysen der ,Reden' der ,Kurzen
1,9. Jahrhundert. Bearb. u. mit einem Verzeichnis d. Schriften Darstellung' und der .Glaubenslehre'. Kahler arbeitet den Wan-
M. Kählers hrsg. v. E. Kahler. München: Kaiser 1962. 314 S. del bei Schleiermacher bis zur Feststellung von Widersprüchlich-
8U = Theologische Bücherei, Neudrucke und Berichte aus dem keiten heraus (S. 59 u. 63), beschuldigt ihn des Agnostizismus
20. Jh., Bd. 16: Systematische Theologie, u. Berlin: Evang. Verlags- (S. 70) und beklagt das Fehlen des Begriffs der Offenbarung
anstalt. 314 S., 1 Titelb. 8°. (S. 68), erkennt Schleiermacher neben Hegel aber doch zu, daß
Der neuere Protestantismus hat wohl eine besondere Eigen- er für das ganze Jahrhundert die bleibenden wissenschaftlichen
tümlichkeit darin, daß er sich seines geschichtlichen Weges immer Impulse gegeben habe (S. 240), und bezeichnet als das, ,,was
neu bewußt zu werden sucht. Sofern er sich wesentlich als von Schleiermacher geblieben ist: Selbständigkeit des religiösen
Theologie versteht, hat er nie aufgehört, die eigene theologie- Lebens, und zwar nicht so, daß es nichts mit Verstand und nichts
geschichtliche Entwicklung zu erforschen und zu beschreiben. mit Sittlichkeit zu tun hat, aber Selbständigkeit und Ursprüng-
Auch in den Zeiten der Diastase zur Theologie des 18. und lichkeit des religiösen Lebens gegenüber der Wissenschaft und
19. Jahrhunderts ließ sich die Kontinuität des geschichtlichen der Moral... Die unbedingt zentrale Stellung der Person Christi
Selbstbewußtseins nicht unterbrechen. Auch das Nein zur eigenen im Ganzen des Christentums . . . Die Überwindung der Indivi-
Vergangenheit, soll es sinnvoll sein, schließt ja ein verant- dualisierung der Religion, ihrer Auffassung als bloße Privat-
wortliches Urteil ein. An K. Barths Beiträgen zur Theologie des religion, und die Betonung dessen, daß Religion Sache der
18. und 19. Jahrhunderts kann man das ablesen. Erst recht ist Gemeinschaft sei" (S. 82).

seit 1945 das Interesse am 19. Jahrhundert wieder lebendig ge- Die .Vermittlungstheologie', eindrucksvoll und zutreffend
worden, mögen die Motive dieses Interesses auch nicht immer charakterisiert als Versuch der „Vermittlung zwischen wissenganz
deutlich und unbedenklich sein, schaftlicher Bildung und geschichtlichem Christentum" (S. 86 ff.),

Unter diesen Umständen kommt der posthumen Veröffent- umfaßt nach Kähler den ganzen Bereich der Hegelianer und
Iichung von Martin Kähler über die Geschichte der protestanti- R. Rothes, der kirchlich-pietistisch bestimmten Theologen, unter
sehen Dogmatik ungewöhnliches Interesse und hohe Bedeutung denen C. I. Nitzsch und A. Neander besonders herausgehoben
zu. Rudolf Hermann hatte sie (auf dem Berliner Theologentag werden, und schließlich der ,humanitaristischen' Vermittlungs-
Juni 1960) „mit viel Vorfreude erwartet". Ernst Kähler, Martin theologen, bei denen nicht Bildung und Kultur christianisiert,
Kählers Enkel, hat trotz mancher Bedenken, über die er selbst sondern das christliche Erbe nach den Kriterien der Philosophie
Rechenschaft gibt (S. 7 ff.), aus seinem Besitz die nach einem gestaltet wird. Zu ihnen rechnet er u. a. Carl Hase, aber auch
Stenogramm übertragene Umschrift der Vorlesung eines (unbe- F. Chr. Baur und seine Schule. Während Richard Rothe von
kannt gebliebenen!) Hörers aus dem Jahre 1898 bearbeitet und Kähler aus der Nähe geschildert und daher etwas herb kritisiert
veröffentlicht. Er hat ihr angefügt ein 1904 entstandenes Kapitel wird, bleibt Baur und seine Schule faktisch am Rande. Kähler hat
über Hermann Cremer (S. 277—282) und einen zwar 1893 ge- für seine Leistung offenbar wenig Interesse und Verständnis,
druckten, aber ganz unbeachtet gebliebenen zusammenfassenden £s folgt der dritte Abschnitt über „die positive Dogmatik
Bericht M. Kählers über .Systematische Theologie' (S. 282-289). des 19. Jahrhunderts" (S. 147-192): „Positiv heißt: geschichtlich
Mit einem Bericht über den ungedrudeten Nachlaß und einer geworden und überliefert. Positivisten sind also diejenigen,
erstmalig möglichst vollständigen Kähler-Bibliographie schließt welche geschichtlich Gewordenes und Überliefertes als maßer
die Ausgabe ab. Es sei noch erwähnt, daß die studentische gebend ansehen" (S. 147). Kähler meint damit die Biblizisten
Vorlesungsnachschrift Martin Kähler selbst vorgelegen hat, der und die konfessionellen Theologen. Er beschreibt den Weg von
sie mit vielen Korrekturen versah. Wir haben es also mit einer der Vermittlungstheologie zu diesem Positivismus anhand der
hinreichend authentischen und autorisierten Quelle zu tun. äußeren Entwicklung von Welt und Kirche anschaulich genug:

M.Kähler (1835—1912) verfolgt mit seiner Vorlesung ein von „Nun stellte das Jahr 48 die ungeheure Aufgabe des praktischen
ihm selbst sehr deutlich ausgesprochenes erzieherisches Anliegen. Lebens vor die Seele ernster christlicher Menschen .. . (Hinweis
Er will verhindern, daß die zeitgenössischen Hörer gegen Ende auf Wichern!) . . . Nun liegt es auf der Hand, daß man für eine
des Jahrhunderts nur mehr A. Ritsehl und seine Schule sehen, kritisch behandelte Bibel, für eine Dogmatik, welche lauter Prowährend
dahinter alle frühere theologische Leistung und Ent- bleme enthält und keine Antworten, überhaupt für eine Theowicklung
ins Wesenlose versinkt. „Da ich nun weiß, daß nicht Iogie, die sich aus Problemen zusammensetzt, und für ein
nur vieles vor Ritschl da war, was heutzutage bloß noch als von Christentum, das rein in der subjektiven Überzeugung des Indi-
Ritschl herkommend gekannt wird und was doch Ritsehl von an- viduums beruht — daß man dafür keine Propaganda im großen
deren empfangen hat, sondern daß auch vieles da war, was Stile führen konnte. Und daher erklärt es sich, daß etwa vom
Ritschi beiseite gestellt hat und nun für seine Anhänger so gut Jahr 48 ab Konfessionalismus und Biblizismus in der Kirche popu-
wie gar nicht mehr vorhanden ist, habe ich es für meine Pflicht lär wurden. Für eine Bibel, über deren Geltung ich nicht erst im
gehalten, zu erzählen, was die systematische Theologie bis zu Zweifel sein muß, für ein Vertändnis des Christentums, das von
Ritsehl heran erlebt und erarbeitet hat" (S. 15). Es gelingt ihm, der Reformation herkommt und in sich beständig und zuver-
die Fülle der Autoren und Richtungen, der Fragen und der Lö- lässig ist — dafür läßt sich hinterher die ganze Kraft einsetzen.
6ungsversuche vor der Ritschl-Zeit auch dem heutigen Leser an- Dann hält die Untersuchung nicht erst auf, sondern man kann
schaulicher und deutlicher zum Bewußtsein zu bringen, als dies jns Leben hineingehen; und eine solche Auffassung hält zürn
. E. allen bisherigen Darstellungen (von Carl Schwarz 1856 bis sammen. Und daher ist zugleich mit dem Positivismus alles das
zu Karl Barth 1947 und Horst Stephan-M. Schmidt 1938 i9602) ausgebildet, was große Arbeit der evangelischen Kirche an den
gelungen ist. Er hat „auch alles das mitgemacht und miterlebt, Massen, an dem verbreiteten Bewußtsein usw., oder wie man
was zwischen Schleiermacher und Ritsehl war, ich erzähle nicht jetzt sagt, an der Volksseele gewesen ist" (S. 195).
aus Büchern . . . sondern sozusagen aus dem Erlebnis meines per- Kähler nerm(. für den Biblizismus G. Menken, J. T. Beck,
sönlichen Fleisches und Blutes, was von Schleiermacher bis Ritsehl W Geß (mit erstaunlicher Betonung (S. 167 u. ö.)), C. A. Auber-
geschehen ist. Denn wenn ich freilich auch Schleiermacher nicht ien und R. Kübel; für den Konfessionalismus, dessen Wurzeln er
mehr gekannt habe, sondern nach seinem Tode geboren bin, so in Nationalismus, Geschichtsromantik, Unionsfeindlichkeit und
stehe ich doch mit meinen Anfängen durchaus noch unter seiner katholisierenden Neigungen findet (S. 168 f.), nennt und bebeherrschenden
Wirkung" (S. 14 f.). handelt er Vilmar, Kliefoth, Löhe, Hengstenberg, Martcnsen und

Nach einer sehr knappen Einleitung über „die geschichtlichen Lurhardt und betont bei ihnen allen, in welchem Maße sie entVoraussetzungen
der protestantischen Theologie und die Bedin- gegen dem eigenen Programm .modernisierten' und sich in fak-
gungen ihrer Entwicklung" (S. 18—40), in der Albrecht Bengel tischem Gegensatz zur reformatorischen und orthodoxen Lehre
fast zum Drehpunkt zwischen Alt- und Neuprotestantismus wird setzen; schließlich G. Thomasius. Hofmann und Kahnis. Hofmann
und in der die Fragestellungendes 18. Jahrhunderts wohl etwas zu bekommt seinen eigentlichen Platz allerdings erst später. Man
sehr auf Schleiermacher hin tendierend gezeichnet werden, be- spürt, Kählers Herz schlug nicht in diesem Kapitel, wohl aber
kommt dieser einen ersten recht umfangreichen Abschnitt (S. 41 sein kritisches Empfinden, und gelegentlich wird er hier etwas