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Ausgabe:

1964

Spalte:

831-834

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Richter, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Richterbuch 1964

Rezensent:

Reventlow, Henning

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Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 11

832

Richter, Wolf gang: Traditionsgesdiiditliche Untersuchungen zum
Richterbuch. Bonn: Hanstein 1963. XX, 411 S. gr. 8° = Bonner
Biblische Beiträge, hrsg. von F. Nötscher und K. Th. Schäfer, 18.
DM 32.-.

Die Exegese des Richterbuches gehörte im Verhältnis zu
anderen Teilen des Alten Testaments in den letzten Jahrzehnten
eher zu den vernachlässigten Gebieten; wissenschaftliche
Kommentare in deutscher Sprache sind seit vielen Jahren nicht
erschienen, und auch die Zahl der Einzeluntersuchungen
zu Abschnitten aus dem Richterbuch war verhältnismäßig
gering. Um so mehr ist es zu begrüßen, daß mit der vorliegenden
Arbeit, die den Teildruck einer von der Kath.-Theol.
Fakultät der Universität Bonn angenommenen Dissertation
darstellt, zu einem wesentlichen Abschnitt dieses Buches, den
Kap. 3—9, eine eingehende literarkritische und traditionsgeschichtliche
Untersuchung veröffentlicht wird. Dieses umfangreiche
Werk verdient aber auch aus dem Grunde besondere
Beachtung, weil es methodisch völlig neue Wege beschreitet;
die hier aufgestellten stilkritischen Maßstäbe können über den
engeren Rahmen des Richterbuches hinaus für die alttestament-
liche Gattungsforschung weitere Bedeutung gewinnen.

Ausgehend von der vom Verf. übernommenen Voraussetzung
, daß uns der heutige Text des Richterbuches als Teil
eines deuteronomistischen Gesamt-Geschichtswerkes vorliegt,
also die deuteronomistischen Rahmenstücke vorher ausgeschieden
werden müssen, wenn man zu einer älteren Form des Buches
vordringen will, behandelt das Werk nur die älteren Schichten
von Ri 3—9, während die deuteronomistischen Abschnitte einer
späteren Untersuchung vorbehalten bleiben (vgl. 321, Anm. 15 —
nur 397 f. wird ein Ausblick auf diesen Bereich gegeben).
In diesen Kapiteln möchte der Verf. ein in der Endform einheitliches
und von den übrigen Teilen des Richterbuches
unterschiedliches Werk sehen, dem er nach den in ihm behandelten
Helden die Bezeichnung ,,Retterbuch" geben möchte (321,
vgl. XIII und die Überschrift 1).

Der erste Teil (1—318) bietet eine eingehende Exegese der
in Frage kommenden Stücke in Ri 3—9, und zwar behandelt ein
erster Abschnitt (1—29), Kap 3, ein zweiter (29—112) Kap. 4—5,
während in einem dritten (112—246) Kap. 6—8 zusammengenommen
werden, die wie üblich als eine kompositioneile Einheit angesehen werden
. Kap. 9 wird dagegen für sich gestellt (246—318), da die Beziehungen
zu Kap. 6—8 erst auf eine verhältnismäßig späte Bearbeitung
zurückgehen. Die Behandlung der einzelnen Komplexe ist regelmäßig
in die beiden Hauptabschnitte Literarkritik und Gattungskritik gegliedert
, wobei die grundsätzlich richtige Auffassung zugrunde liegt,
daß über einen Text Klarheit über seinen literarischen Aufbau
herrschen muß, wenn er zum Gegenstand gattungsmäßiger Untersuchungen
gemacht werden soll. Allerdings muß man dazu bemerken,
daß die Urteile über die Bestandteile des Textes und die Abgrenzung
seiner Einheiten weitgehend aus den formgeschichtlichen Merkmalen,
die sich aus ihm gewinnen lassen, erhoben werden, sodaß 6ich diese
Trennung recht schnell wieder aufhebt. Es wird weitgehend mit
literarkritischen Maßstäben, wie dem Aufweis von Spannungen und
Widersprüchen innerhalb des Textes gearbeitet; wesentlich ist aber
nicht diese Destruktion, sondern die Komposition, die aus den
Gattungsmerkmalen aufgebaut wird. Die von einem Teil der Forschung
(besonders Budde und Eißfeldt) vertretene Aufgliederung des
Richterbuches in zwei durchlaufende, mit den Pentateuchquellen J und
E gleichzusetzende Quellen, wird wohl mit Recht abgelehnt, das
eigene Verfahren wird man demgegenüber als eine Art Ergänzungshypothese
bezeichnen können: ein ältester Kern oder mehrere Einzelstücke
dieser Art werden als von einem Rahmen umgeben oder
durch später eingefügte und hinzugesetzte Stücke aufgefüllt angesehen
, die jeweils die Tendenz ihrer Grundlage entscheidend umbogen
. Die Ergebnisse dieser Analysen werden im Anschluß an die
Einzelauslegung in einem zusammenfassenden Abschnitt: „Die Komposition
der Rettergeschichten" (319—343) dargeboten. Die älteste
Schicht im Richterbuch bilden danach eine Reihe von Erzählungen,
die zunächst unverbunden nebeneinanderstehen und auch verschiedener
Herkunft sind, zum Teil auch schon in Erzählungskränzen zusammengefaßt
waren, als sie von dem „Verfasser" des vordeuteronomistischen
Retterbuches übernommen wurden. Solche Erzählungen 6ind: 3,
15b—26; 4, 17a. 18—21; 6, IIa. 18f. 2124; 8. 2lbß. 24—27a; 6,
27b—31abot; 8, 5—9. 14—21ab« ; 9, 26—40; 7, IIb. 13—21 Erzählungskränze
: 9, 26—40. 46—54; 8, 5—9. 14—21aba (vgl. die Synopse
der Gattungen 3 83 ff.). Diese Erzählungen haben keine Tendenz,
ihnen fehlt jedes politische oder religiöse Interesse. Lediglich die
Beschäftigung mit den Taten beliebter Helden, die Freude an

ihrer Person, am Erzählen und Hören bilden den Anlaß der Darstellung
von Begebenheiten, die den Hörern ansdieinend noch gut
vertraut waren. Aus dieser Gattung entwickelt sich durch Verallgemeinerung
und Typisierung in Formeln und Redewendungen der
Bericht (4.10. 12—16. 22; 9, 39 f.); Schemata wie das des Heiligen
Krieges wirken ein, die Erzählung wird zum Beispiel für die Gegenwart
(vgl. 54 ff.). Die weiteren Gattungen werden auf den Verfasser
des „Retterbuches" selbst zurückgeführt: die konstruierte Erzählung
(wie 4,4a, 6—9; 6, IIb—17; 7,25—8, 3,; 9,1—6; 9,42—45; 9,7.
16a.19b—21), welche die Formen der echten Erzählung nur nachahmt,
oft theologische Motive einbringt und schon der Verknüpfung der
Einzelabschnitte dient, der konstruierte Bericht (3, 13. 27—29; 6, 33f + 7.
1.23 f.; 8,10—13), der das Schema des Heiligen Krieges aufgreift
und dadurch die Einzelstücke, denen er beigefügt wird, in einen
Gesamtzusammenhang einordnen will, die Schilderung (6,2b—5), die
einem ähnlichen Zwecke dient. Im Grunde stehen sich also zwei
Welten gegenüber: die ureprünglidien, tendenzlosen, ungebundenen
Erzählungen und die Arbeit des Verfassers, der diese Stücke aufgreift
und zu einem einheitlichen Werk zusammenschweißt, das nun auch
einem einheitlichen Ziele dient.

Daß das vordeuteronomistische „Retterbuch" einem einheitlichen
„Verfasser" zuzuschreiben ist, ist die wichtigste literarische
These des Werkes. Hierin unterscheidet es sich von anderen
Ansichten, die diese Zusammenfassung der Traditionen erst
den deuteronomistischen Kompilatoren selbst zuschreiben möchten
. Doch ist auch diese These an sich nicht neu; neu ist
nur die Beschränkung auf Kap. 3—9; die Zugehörigkeit der
Jephta-Geschichten 10, 17—12, 6 zu diesem Buch wird ausdrücklich
abgelehnt (323 ff.), und die Simson-Kapitel 13—16 kommen
gar nicht erst in den Blick. Über den „Verfasser" weiß Richter
noch allerlei zu sagen. Die Tendenz seines Werkes ist darauf
gelichtet, die Tradition des Jahwekrieges (Heiligen Krieges)
gegen eine nüchternere Auffassung der Spätzeit zu verteidigen
und in der Gestalt des Gideon den Retter und nägid gegenüber
dem späteren Königstum zu idealisieren. In Fortführung
von Buber1 wird negativ diese Tendenz in antimonarchischer
Polemik gesehen, wie sie besonders in der entgegen der ursprünglichen
Absicht der Erzählung abgewerteten Gestalt des
Abimelek Kap. 9 sichtbar wird (3 36 ff.). Als Ort der Abfassung
wird das Nordreich (wegen der geographischen Angaben und den
Notizen über die an den berichteten Vorgängen beteiligten
Stämme), als Zeit die Zeit Jehus (die 70 ermordeten Halbbrüder
Abimeleks sollen auf die 70 von Jehu getöteten Ahab-
Prinzen anspielen [340]) vermutet. Diese Thesen darf man
wohl doch mit starken Fragezeichen versehen, wie auch die
Behauptung antimonarchischer Tendenz, die von Ri 9 her nicht
verallgemeinert werden darf (Ri 9 scheint dafür ein zweifelhafter
Beleg; deutlicher ist sie in 8, 22 f., einer aber isolierten
Notiz (vergl. 23 5 f.), die auch ein späterer Einschub sein
könnte). Noch zweifelhafter ist die Behauptung eines besonderen
nägid-Amtes, das mit dem Retter-Amt in den Jahwekriegen
identisch sein soll, dem allein ursprünglich die Salbung
als Amtseinführung gebührte, während zum Königtum Wahl und
Akklamation gehört hätten (289 ff.). Die Bezeichnung rpC72
(289, Anm. 87) ist an so zahlreichen Stellen der Königspsalmen
(2.2; 18,51; 18,51; 20,7; 28,8; 84,10; 89,39. 52; 132,10.
17) belegt, daß man ihr unmöglich eine ursprüngliche Beziehung
auf das Königtum absprechen kann. Von einer vorköniglichen
Salbung (zu den vorisraelitischen Parallelen, vgl. 289, Anm. 86)
als Amtseinsetzung in Israel ist nichts bekannt5.

Auch sonst enthält die Arbeit manche unsicheren Konstruktionen
. Dazu würde ich auch die These rechnen, daß alle festen
Formschemata, wie sie in zahlreichen Exkursen im Laufe der Exegese
behandelt werden, vor allem die zum Bereich des Heiligen
Krieges gehörigen (zu diesem 177 ff.), wie auch die „Übereignungsformel
" (21 ff.) und die „Retterformel" (149 ff.), nicht zu
den gewachsenen Teilen des Richterbuches gehören, sondern erst
durch den „Verfasser" in retrospektiver Tendenz hineinkonstruiert
wurden. Auch das Urteil über 6, IIb—17 mit seinem Be-
rufungsformular (144 ff.) scheint mir aus diesem Grunde schief,
sosehr die literarische Abgrenzung im Kontext berechtigt ist.

*) M.Buber, Königtum Gottes, 31956, S. 13—35.
2) Vgl. zu dem Problem neuerdings E. Kutsch, Salbung als Rechtsakt
im Alten Testament und im Alten Orient. BZAW 87. Berlin 1963.