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Ausgabe:

1964

Spalte:

781-782

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Niebuhr, Reinhold

Titel/Untertitel:

Froemmigkeit und Saekularisation 1964

Rezensent:

Henschel, Martin

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Seite 1

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781

Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 10

782

N i e b u h r, Reinhold: Frömmigkeit und Säkularisation. Übers, v.
W. Neuser u. St. Wilms. Gütersloh: Gerd Mohn [1962]. 144 S.
8". Lw. DM 11.80.

Die Fragen des Heraufkommens, des Wesens und der Bedeutung
der modernen Säkularisation und ihres Verhältnisses
zum christlichen Glauben hat sich nach dem 2. Weltkrieg besonders
Fr. Gogarten zum Thema genommen. Man könnte nun,
von dem deutschen Titel verführt, von vorliegender Schrift
eine amerikanische Analogie dazu erwarten. Aber Niebuhr behandelt
nicht derartige allgemeine Grundsatzfragen. Sein Thema
sind vielmehr die spezifischen Beiträge, die die Frömmigkeit
und die Säkularität jeweils für sich allein und auch in oft paradoxem
Zusammenwirken zur geistig-politischen Situation der
USA in der Mitte des Jahrhunderts und im Blick auf die Aufgaben
der nächsten Zukunft leisten. Diese Fragestellung, die
teils überwiegend in soziologischer Beschreibung, teils mehr in
Richtung auf grundsätzliche sozialethische Behandlung, immer
aber mit Berücksichtigung weitgreifender geschichtlicher Zusammenhänge
durchgeführt wird, beherrscht und eint die acht ersten
Stücke des Buches, die alle in sich geschlossen sind und
augenscheinlich ursprünglich gesonderte Vorträge oder Aufsätze
darstellen: Frömmigkeit und Säkularisation in Amerika; Die
Jahrhundertmitte; Das Hochschulwesen in Amerika; Rußland
und Amerika; Freiheit und Gleichheit; Rassische Vorurteile;
Christen und Juden; Vollkommenheit und Gemeinschaft.

Eine Inhaltsangabe im einzelnen würde hier zu weit führen
; darum sei nur noch auf einige beherrschende Gedanken
und bemerkenswerte Ergebnisse aufmerksam gemacht. Niebuhrs
sozialethisches Denken ist an dem alttestamentlichen Begriff
der Heiligkeit ausgerichtet, in dem „das Gewicht mehr auf der
Beziehung des Ich zur heiligen Gemeinschaft als auf der absoluten
Reinheit des Ich" liegt (114; auch heute noch erscheint
ihm dieser Zug in der jüdischen Lebenshaltung als ein Vorzug
vor der traditionell christlich geprägten (91 f.)). Darum hat
ein Ethos der individuellen Vollkommenheit vor einer Ethik
sozialer Gerechtigkeit zurückzutreten. — Überhaupt wird mit
großer Nüchternheit vor allen Formen eines radikalen Utopis-
mus gewarnt. So sind die Prinzipien der Gleichheit und Freiheit
nicht als total zu verwirklichende Ziele politischen Wollens zu
verstehen, denn so müßten sie sich gegenseitig ausschließen und
zerstören, sondern sie sind zu betrachten als notwendige Regulative
der Autoritätshierarchie und Meinungskonformität, die
in jeder konkreten Gesellschaft unvermeidbar sind. — Am Beispiel
der Rassengesetzgebung in den USA wird gezeigt, daß das
Recht nicht unabhängig von den geschichtlich gewachsenen
Gegebenheiten ist und also irgendwie abstrakt schlechthin gilt,
sondern daß da „Beziehungen zwischen gerichtlichen Entscheidungen
und den geschichtlichen Ereignissen" (81 f.) spielen, in
denen erst das Recht zur Verwirklichung kommt. — Als soziologische
Ermöglichung der den außenstehenden Beobachter immer
wieder überraschenden Verbreitung lebendiger Frömmigkeit
in dem andererseits doch überaus weltlichen Nordamerika werden
die spezifisch amerikanischen Typen der Sekten- und der
Einwandererkirche herausgestellt. In der Anonymität und Unsicherheit
einer im schnellen Wandel und Wachsen befindlichen
Gesellschaft boten und bieten sie einen Raum überschaubarer
Gemeinschaft. Als Kehrseite dieser Integration in „demokratischen
" kleinen Gruppen wird neben einem allgemeinen Hang
zur Sentimentalität speziell das Versagen gegenüber den durch
die Rassentrennung aufgeworfenen Fragen gerügt. Hier schneidet
die hierarchisch-autoritär strukturierte Katholische Kirche
neben rein säkularen Institutionen (Gewerkschaft, Sport, Theater
) viel besser ab.

Die mit dem Aufsatzband vermittelten Gedanken und Einsichten
geben so zumindest Auskunft über amerikanisch-protestantisches
Selbstverständnis. Schon darum gebührt ihm dankbare
Aufmerksamkeit. Ich meine darüber hinaus, daß man den
die ökonomische und politische Wirklichkeit stark berücksichtigenden
Ausführungen auch inhaltlich in den Grundzügen wird
zustimmen müssen. Dem sich allenfalls aufdrängenden Einwand,
daß die Frömmigkeit in dieser soziologischen Befragung auf
ihre soziale Leistungsfähigkeit hin doch etwas einseitig und

flach beurteilt werde, stellt sich der neunte Beitrag des Sammelbandes
entgegen: Mysterium und Wirklichkeit. Hier wird in
der Erörterung der drei Mysterien der Schöpfung, der menschlichen
Freiheit und der Sünde, für die alle das Christus-Symbol
als offenbarender Schlüssel geltend gemacht wird, ein umfassenderer
Horizont, eine tiefere Sicht spürbar.

Dem Buch ist ein empfehlendes Vorwort von W. Schweitzer und
ein Register beigegeben. Zu bemängeln ist allerdings die Übersetzung,
die dringend einer Überprüfung bedarf. S. 116 ist der amor Dei zweimal
als Femininum behandelt! Oft finden sidi Satzfügungen, die nicht
in Ordnung sind. Eine Satzreihe, wie die folgende (S. 115), läßt den
Leser ratlos: „Der Universalismus der Liebe, wie ihn das Evangelium
lehrt, läßt keine Sozialethik zu. Denn eine Sozialethik erfordert eine
Unterscheidung zwischen den verschiedenen Nahzielen, den festgesetzten
Zwecken und den Gemeindeinteressen. Jesu Liebesuniversalismus
läßt uns erkennen, daß es sich stets um nahe und vorläufige Ziele
handelt und daß sich die Loyalität stärker an die enge als an die universale
Gemeinschaft wendet. Doch muß betont werden, daß der
Liebesuniversalismus einer Sozialethik nicht entgegensteht."

Plaue/Thür. Martin Henschel

Michalson, Carl: Japanische Theologie der Gegenwart. Gütersloh
: Gütersloher Verlagshaus G. Mohn [1962]. 143 S. gr. 8° =
Missionswiss. Forschungen, hrsg. v. d. Deutschen Gesellschaft f.
Missionswiss., Bd. 2. Lw. DM 19.80.

Bücher, die über das theologische Gespräch in den verschiedenen
Teilen der Welt informieren, sind für unsere ökumenische
Orientierung äußerst wichtig. Das Thema der „Bodenständigkeit
" einer Theologie im Sinne des Herauswachsens aus
und der Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der Vergangenheit
und der Gegenwart eines Landes ist in ökumenischen
Kreisen viel diskutiert. Wir erwarten von Theologien,
die von ihrer Situation stärker geprägt sind, eine Bereicherung
und größere Vollständigkeit des ökumenischen Gespräches.

Deshalb schaut man auf diesen Band mit besonderer Erwartung
. Und es ist dem Verfasser sehr zu danken, daß er sich
der großen Mühe unterzogen hat, viele Aspekte der gegenwärtigen
japanischen Theologie aus einer Sprache, die ihm selbst
fremd ist, herauszuarbeiten.

Was der Verfasser in 5 Kapiteln vorlegt, scheint mir für
den, der nach der Eigenart der japanischen Theologie sucht, besonders
im Hinblick auf das erste und das dritte Kapitel interessant
zu 6ein. Unter dem Thema „Die Theologie der Bibelauslegung
" wird zunächst von der „Non-church-Bewegung" gesprochen
, die nach der Vision ihres Gründers Uschimura die
Verheißung hat, als reine Form des biblischen Christentums
die ganze Christenheit zu verjüngen. Für diese Bewegung, die
einen großen Anhang unter akademisch gebildeten Männern
und Frauen hat, sind die Lehren von der Kirche und von der
Bibel von entscheidender Bedeutung; aber so, „daß die religiöse
Bedeutung der Kirche praktisch in der Lehre von der Bibel als
einziger Quelle christlicher Existenz aufgeht" (S. 14).

Damit wird einerseits Kritik am kirchlichen Leben Japans
wie der ganzen westlichen Christenheit geübt, es wird von einer
„versteinerten Wirklichkeit" gesprochen, in der der Geist Gottes
nur schwer wirken kann. Und andrerseits wird ganz grundsätzlich
die These vertreten, daß in der Bibel nichts von einer
Idee der Institution, der geistlichen Autorität und der Ämter
oder gar des Sakramentalismus zu finden sei. Der Zusammenschluß
von Christen, die von der einzigen Quelle, der Bibel
leben — und mit einem Zusammenschluß, in diesem Sinne mit
einer Kirche muß gerechnet werden — soll sich unter allen Umständen
von diesen Fehlentwicklungen fernhalten.

Dieser Anschauung tritt ein Theologe wie Zenda Watanabe
entgegen, indem er in seiner „Lehre von der Schrift" zeigt, daß
nur im Lesen der Bibel innerhalb der Kirche willkürliche Auslegung
, sei es als unabhängige Forschung im wissenschaftlichen
Bereich, sei es als Interpretation in fundamentalistischer Verfahrensweise
, vermieden werden kann.

Spiritualisierunng und Individualisierung des Kirchenverständnisses
, das Problem der autoritativen Norm für die
Schriftauslegung, der Beschreibung des Glaubensinhaltes in Begriffen
der personalen Relationen sind Fragen, die in Japan
aus einer „Kritik an der Kirche" und aus dem Willen zu völli-