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1964

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Philosophie, Religionsphilosophie

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Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 1

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Husserl damals für seine „reine Phänomenologie" ausgegeben
hat: „Zu den Sachen selbst!", so unterscheidet er sich doch
radikal von jener Freiburger Schule und ihren heutigen Fort-
und Umbildnern. Für ihn gilt unausweichlich die Strenge des
Begriffs (statt metaphernreicher, angeblich sachnaher Deskrip-
tion); für ihn gibt es keine „Horizonte", keine „Chiffern",
keine tiefsinnig vieldeutigen Ausdrücke (die meist nur Reste
von Wort-Magie sind), keine wissenschaftlich aufgemachte
„Welt-Dichtung", keine „flotte philosophische Romanschreiberei".
Er durchschaut als Konstruktion, was Husserl „phänomenologischen
Befund" nennt; er hat viele Grundprobleme bisheriger
Philosophie entwurzelt, indem er sie als falsch gestellte Fragen
— entstanden aus unzureichender Distinktion — erkannte.
Als der Neukantianismus in seiner Sünden Maienblüte stand,
blieb er, Rehmke, unsuggestibel, nüchtern, kritisch. Der Glanz
der kristallklar scheinenden Begriffsschlösser des Idealismus
vermochte ihn nicht zu blenden. Er hatte den Mut, jahrtausendalte
Denkgewohnheiten als Irrtümer zu entlarven; er war ein
begnadeter „Selbstdenker" (um das zuerst von Kant gebrauchte,
später von Schopenhauer in Umlauf gebrachte Lobewort anzuwenden
), keiner vorhandenen Schule angehörend oder verpflichtet
, daher auch keinem der gängigen Ismen einordenbar.

Ich sage: nur wer Rehmkes heilig nüchterne Untersuchungen
ein wenig kennt, wird vor der Lesung der Heydeschen
Traktate nicht a priori zurückschaudern. Denn hier wiederholen
sich die — heut so unbeliebten — Tugenden des Lehrers: das
„Pathos der Pathoslosigkeit" (Rickcrt), der „Scharfsinn, der auch
da noch Unterschiede zu sehen imstande war, wo dem Ungeschälten
... gar nicht mehr Verschiedenerlei vorzuliegen schien"
(Heyde), die unerbittliche, von Autoritäten und Traditionen
schlechthin unabhängige Sachbezogenheit (die „Philosophie der
absoluten Ehrlichkeit" nannte es Husserl).

Aber wir wollen hier keine laudatio schreiben, sondern
zur Lektüre des Buches verlocken: der Leser findet da — wie
bei Rehmke — wiederum die These von der Ortlosigkeit und
Unräumlichkeit des Bewußtseins, die Verwerfung jedweder
Erkenntnistheorie, gründend in dem Satz: „Wissen ist beziehungsloses
Haben", während „das in die Irre gehende Vorurteil"
fast der ganzen philosophischen Vergangenheit doch lautet.
Wissendes und Gewußtes seien zweierlei. (Nebenbei: Hegel
hätte auf die diesem beziehungslosem Haben innewohnende
Dialektik aufmerksam gemacht.)

Der Leser findet weiterhin überall — wenngleidi impli-
cite — die Grundüberzeugung, daß Philosophie aus eigenem
Ursprung lebt (was man sonst auch den „autonomen Ernst"
der Philosophie zu nennen pflegt); die schweren Fragen, die
sich daraus für den aus christlichem Glauben Philosophierenden
ergeben, werden freilich nicht erwogen (genau so wenig wie
die Folgen der irrtümlichen Lokalisation der Seele — dieser
nach Rehmke „philosophischen Erbsünde" — für die theologische
Anthropologie). Aber diese Rücksichten auf das Christliche sind
nicht zu erwarten.

Für den theologischen Leser ist es ein unüberbietbares
Geschenk, hier endlich einmal eine metaphysik-freie, eine
nicht-religiosierende, d.h. kein absolutum, also keinen Gott-
Ersatz bietende Philosophie vor sich zu haben; so etwas wie
das Sein, das Eine, das Urgeheimnis, der Weltgrund, das Heilige
, das Numinose, das Umgreifende, die Transzendenz usw.
kommt hier nicht vor (vielleicht konnte gerade deshalb Koepp
in RGG2 einen so wohlwollend neutralen Bericht über Rehmkes
„Grundwissenschaft" geben?).

Zum Schluß noch einige konkrete Hinweise. Heyde tritt
wie sein Lehrer für die — heut oft für altmodisch gehaltene —
cartesische Urdistinktion ein: Descartes' ..Erkenntnis der schlecht-
hinnigen Wesensverschiedenheit von Leib und Seele muß in
vollem Umfang aufrechterhalten bleiben, da sie, ohnehin sachlich
begründet, auch nicht formallogisch der Tatsache der leibseelischen
Einheit widerstreitet, so daß sich die in sich widerspruchsvolle
Umdeutung der .Einheit aus Leib und Seele'
(Vereintheit) zur .Einheit von Leib m i t Seele (Einsheit)' von
selbst verbietet". In diesem Zusammenhang wird auch die Leib-
Seele-Geist-Lehre kritisiert (im Hinblick auf Klages, für den das

sprachliche Bild als Erkenntnisersatz fungiert); die überlieferte
Trichotomie wird als sachfremd verworfen. Überzeugend scheinen
uns Heydes Ausführungen über das Mißliche, weil Sach-
inadäquate der — zumal seit N. Hartmann üblichen — Schicht-
Metapher innerhalb der Lehre vom Psychischen.

Weitere Klarstellungen beziehen sich auf die moderne,
höchst dilettantische Leugnung der Kausalität: aus der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis, daß für bestimmte Geschehnisse
(innerhalb des Gegenstandsbereichs der Mikrophysik) Ursächlichkeit
nicht erwiesen ist, wird roh-populär (aber auch bis in
apologetisch interessierte theologische Kreise hinein) der falsche
Satz von akausalen Vorgängen in jenem Bereich; exakt gefor-
melt: aus dem „Nichtfeststellen, daß eine Ursache vorliegt",
wird das „Feststellen, daß eine Ursache nicht vorliegt".

Ein Meister- und Musterbeispiel schärfsten und philosophisch
folgenreichsten Distingierens ist der Aufsatz „Unter-
schiedenheit": es geht hier um das Auseinanderhalten von:
Unterschiedenheit (rund — Kugel), Verschiedenheit (rund —rot),
Geschiedenheit (Straße — Graben), Ausgeschiedenheit (Fischbecken
— Betrachter). „Die Verwandlung der Unterschiedenheit
in die Verschiedenheit bis zur Geschiedenheit" wird als „Wurzel
allen Übels" nachgewiesen, nämlich vieler Irrtümer in den
Einzelwissenschaften, aber auch in der Philosophie. Der alte
Universalienstreit z. B. erscheint hier in klärendem Licht, aber
auch das heut als obsolet geltende Problem der Erkenntnis der
sogenannten Außenwelt.

Es bleibt übrig, auf die Untersuchungen über „Relativität
der Wahrheit", „Vom Sinn des Wortes SINN", „Typus", „Induktion
", „Form und Stoff" nur eben hinzuweisen. Das Ganze:
ein schier unausschöpfbares Arsenal philosophischer Kampfbereitschaft
gegen den Unfug, Mythen des „Seyns", überhaupt
emotionale Unaussprechlichkeiten als Philosophie und Wissenschaftsverachtung
als Tiefe auszugeben.

Berlin Helmutli Bürgert

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