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Ausgabe:

1964

Spalte:

670-672

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Strobel, August

Titel/Untertitel:

Die apokalyptische Sendung Jesu 1964

Rezensent:

Wilckens, Ulrich

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669

Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 9

670

von wirklich sachgemäßem, werkgetreuen Erkennen die Rede
sein" (S. 305).

Wie steht es jedoch mit dem theologischen Recht
des in dieser Hermeneutik 60 letztlich dezidiert antihistorisch
zum Zuge kommenden theologischen Anliegens selbst? B. geht
davon aus, daß das „tua res agitur" nur im Blick auf je geschehende
, nur in je gegenwärtiger Aktualität wirklich-wirksamer
Offenbarun gen ((), nicht aber im Blick auf vergangenes
Geschehen als solches gewahrt und verstanden werden könne.
Demgegenüber ist Zweierlei geltend zu machen. 1. Geschichte
überhaupt besteht wesentlich nicht nur in jeweiliger Aktualität
und der unübersehbaren Summe solcher aktualen Augenblicke,
sondern in dem Zusammenhang von Kontinuität und Kontingenz
. Von daher ist die Meinung, ein vergangenes Geschehen
(und sei es meiner Augenblickssituation noch so ferne) ginge
..mich" als solches überhaupt nichts an, schlicht irrig. Das gilt
für unser Verhältnis zum Urchristentum grundsätzlich ebenso
wie für das etwa zur griechischen philosophischen Tradition.
..Phänomene, die sich begeben und erst in ihrem Sich-Begeben
gültig und bindend werden" (S. 277), gibt es nicht; das gilt sowohl
für jede zwischenmenschliche Beziehung als auch für das
christliche Gottesverhältnis. Reine, lediglich im je sich Ereignen
als wirklich behauptete Kontingenz ist zutiefst unwirklich. Das
Verständnis von Offenbarungs- und Heilsgeschehen nach Maßgabe
solchen Verständnisses erweckt darum den tiefen Verdacht
der Unwirklichkeit des darin in Anspruch genommenen
Gottes. Gleiches gilt entsprechend von der hermeneutischen
Versicherung, daß „der Text redet und . . . sich als lebendig
(erweist), durch alle kritische Fragestellungen hindurch und über
sie hinweg ( ! )" (S. 293). Wie, so wäre zu fragen, wenn solcher
Gott, von dem B. konsequenterweise nur in anthropologisch
strukturierten Beziehungssätzen eigentlich zu sprechen
weiß (vgl. bes. S. 341, s.o. Sp. 667), meiner Erfahrung zufolge
..schweigt" und nur noch im Gegenzug gegen diese meine
konkret-wirkliche Erfahrung als redend und sich offenbarend
und also als wirklich lediglich behauptet werden kann?
Woran bemißt sich dann solche Behauptung hinsichtlich ihrer
Wahrheit? Wie kann B. sicher und überzeugend ausschließen,
daß der Gott, von dem er einem so gearteten Einwand gegenüber
zu sprechen weiß (vgl. z.B. S. 291), bei kritischer Nachfrage
in das bloße Beziehungsfeld der Existenz hinein verschwindet
, und so das christliche Ich doch in Wahrheit jener
„elende(n) Seele" bei Plutarch gleicht, deren Gott sich als Illusion
erweist und die so „schließlich doch nur mit sich allein
bleibt" (S. 125)? Worin also erweist sich das Extra me
Gottes, wenn nicht in der Wirklichkeit der Geschichte,
sondern im Augenblick jeweiligen in individueller Existenz
Sich Ereignens? Warum ist der von B. nur mehr behauptbare
Gott — Gott selbst, Jahwe, und nicht (allen Beteuerungen zum
Trotz) ein Nichts bzw. ein Nichten? Um hier nicht mißverstanden
zu werden: So wahr der Atheismus als Erfahrung zu unserer
modernen Geschichte hinzugehört, handelt es sich bei dieser
Anfrage des Rezensenten keineswegs um eine etwa leichthin
zugeworfene Frage bloß apologetischer Polemik aus scheinbar
sicherer Warte!

2. Beziehung zu dem Gott der gesamten christlichen Tradition
gibt es nur auf dem Grunde dessen, daß es Beziehung zu
Jesus und seinem Geschick (seine Verkündigung darin eingeschlossen
) gibt. Indem die historische Untersuchung es vermag
und so im Zusammenhang der Theologie im ganzen auch dazu
nötigt, Jesus und sein Geschick richtig allein in dem ihm eignenden
Geschichtszusammenhang in den Blick zu fassen, stellt
sich das Grundproblem moderner systematischer Theologie eben
doch so, wie B. es abwenden möchte (vgl. bes. S. 28 3ff., 294ff.):
nämlich als das Problem, Gottes Tun als seinen Selbsterweis
und dieses bestimmte Stück vergangener Geschichte und darin
Gottes Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Geschichte 60
ineinszudenken, daß Gott als der „Herr" der Geschichte selbst
wirklich und darin alle natürlich-geschichtliche Wirklichkeit setzend
erscheint. In dem so gestellten Problem ist einerseits das
im Urchristentum erneuert-bewahrte Erbe jüdischer Apokalyp-
tik immerhin der Sache nach impliziert, andererseits aber zugleich
damit auch die Kontinuität mit der Geschichte der modernen
Metaphysik (bei aller Nötigung zu kritischer Weiterführung
) nicht mit so leichter Hand einfachhin preisgegeben, wie
das bei B. geschieht. Im übrigen kann die Überlegenheit, mit
der B. a limine jede theologische Suche nach dem christlichen
Gott in Richtung auf das geschichtliche Damals (das natürlich
die damaligen Vorstellungsstrukturen mit einschließt) als intellektuell
unredlichen Anachronismus an den Pranger stellt
(als „Naiv-Spielen" S. 290 f., sogar als Apologetik „in lahmer
Weise" S. 292), nur als beträchtliche Unaufmerksamkeit beurteilt
werden. So geht es nicht! Das Problem ist als solches
gewiß nicht gering, und es wird vielleicht sogar noch hart darüber
zu verhandeln sein, ob überhaupt und wie es lösbar ist:
Aber daß es nicht gelöst werden kann, indem man es in dieser
Weise negiert, ist gewiß.

Es ist der große Vorzug der gesammelten Aufsätze, daß
sie nicht nur gelesen, sondern beantwortet und diskutiert werden
wollen. Zumal in) der vorliegenden Sammlung ist der leidenschaftliche
Wille des Verfs., sich selbst und den Lesern nichts
zu ersparen und um der Sache willen eine scharfe Sprache zu
sprechen, ebenso wenig überhörbar wie die Gewährung der
Freiheit zu entsprechender Meinungsäußerung des Lesers. Der
Rezensent hat diese Freiheit in aller Dankbarkeit und Hochachtung
in Anspruch nehmen zu dürfen und zu sollen geglaubt.

Berlin Ulrich Wilckens

Strobel, August, Doz. Dr.: Die apokalyptische Sendung Jesu. Gedanken
zur Neuorientierung in der kerygmatischen Frage. Rothenburg
o. d. Tauber: Martin-Luther-Verlag [1962]. 52 S. 8° = S.-A.
aus dem Jahrbuch d. Martin-Luther-Bundes 1962 („Theologische
Konsequenzen der apokalyptischen Reichsverkündigung Jesu").
Diese Vorlesung ist als exegetisch-systematischer Diskussionsbeitrag
gedruckt. Verf. will kritisch zeigen, „in welche unhaltbare
historische Position 6ich die derzeitige Forschung
hineinmanövriert hat" (S. 10): Ihr „Dilemma" besteht darin,
daß bestimmte systematische Voreingenommenheit (Verf. richtet
sich vorwiegend gegen die sog. „kerygmatische" Theologie,
aber z. T. auch gegen Exegeten wie W. G. Kümmel, J. Jeremias
und R. Schnackenburg, betont dagegen aber seine Übereinstimmung
mit der neueren Arbeitsrichtung E. Käsemanns) die religionshistorische
Sicht des Urchristentums wesentlich beeinträchtige
und z. T. verfälsche. Das zeige sich besonders in der Interpretation
Jesu. Während Jesu Botschaft „historisch exakt . . .
nur als .apokalyptischer Büß- und Verheißungsruf' bestimmt
werden" könne (S. 14), verfolge die gegenwärtige Forschung dem
entgegen weithin das Interesse, Jesus von der Apokalyptik zu
distanzieren, indem sie ihn z. B. der „prophetischen" Tradition
zuordne, die es als solche jedoch zur Zeit Jesu längst nicht mehr
gegeben habe. Gewiß unterscheide sich Jesus von der apokalyptischen
Tradition, aber die Unterschiede seien als solche eben
nur innerhalb des geschichtlichen Bereiches der Apokalyptik
richtig beschreibbar. Jesus hatte „ein außerordentliches eigentümliches
Selbst- und Sendungsbewußtsein" (S. 14). Er erwartete
„bis zum letzten Atemzug" (S. 22) „die Enthüllung der
Basileia Gottes in himmlischer Größe und Herrlichkeit" als
„unmittelbar bevorstehend" (S. 22). Er verstand sich selbst als
den Menschensohn, der im Zusammenhang des baldigen Anbruchs
der Endereignisse seine Erhöhung als seine Inthronisation
erwartete (S. 26); und diese Erwartung war „streng termingerichtet
" (S. 23), wenngleich Jesus — darin durchaus in apokalyptischer
Tradition stehend, statt ihr entgegen zu sein — den
Termin der nahen Endereignisse selbst von sich aus zu bestimmen
ablehnte (S. 27 f.). Die nachösterliche Kirche hat die seine
Erhöhung betreffende Erwartung als unmittelbar im Zusammenhang
seines Todes erfüllt erfahren (Verf. schließt 6ich S. 26,
Anm. 74 Bertrams These an), während die sichtbare kosmische
Gottesoffenbarung ausblieb (S. 29). Die kirchliche Überlieferung
mußte deswegen „mehr und mehr in verlängerten Zeitkategorien
denken" (S. 31) und hat so das abendländische Geschichtsbewußtsein
wesentlich geprägt: „Der Christ unserer Tage wird
an der Apokalyptik gerade deshalb nicht vorbeigehen können"
(S. 33). Gegenüber der Interpretation der Apokalyptik bei
Schürer, Bousset, Volz und neuerdings Rössler versteht Verf.
die jüdische Apokalyptik als gemeinjüdische, wenn auch in ver-