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Ausgabe:

1964

Spalte:

525-526

Autor/Hrsg.:

Adam, Alfred

Titel/Untertitel:

Gesichtspunkte für eine neue Darstellung der Dogmengeschichte 1964

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Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 7

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essen zu verantworten, sondern vor dem Gewissen des Bruders.
Nicht der ist frei, der tut, was er mit seinem Gewissen vereinbaren
kann, sondern der das tut, was er mit dem Gewissen des
anwesenden Nächsten vereinbaren kann 1. Kor 10,29. Die
Freiheit ist in die Nächstenliebe gebunden. Sie ist keine Freiheit
, die meinem Fleische, meinem Gelüsten einen Vorwand geben
kann Gal 5,13. Vollkommen steht der dialektische Freiheitsbegriff
hier vor uns. Ist so Freiheit die Freiheit der Nächstenliebe
, kann es nicht wundern, daß das Gesetz der Nächstenliebe
ein Gesetz der Freiheit genannt werden kann.

Deutlich zeigt sich nun jenes Verständnis bestätigt, das
M. Dibelius vom Jakobusbrief hatte. Jakobus ist kein Theologe
mit originalen Gedankengängen, er ist der Praktiker des frühen
Christentums.

Gesichtspunkte für eine neue Darstellung der Dogmengeschichte*

Von Alfred Adam, Bethel über Bielefeld

Vier Gesichtspunkte sollten bei einer Erneuerung der Epoche wird die Ernte der Zeit in der Konkordienformel und in

Dogmengeschichte berücksichtigt werden: den Beschlüssen der Dordrechter Synode eingebracht. An jedem

1. Die Aufgabenstellung sollte nicht auf den Begriff des dieser Haltepunkte entsteht die dogmengeschichtliche Aufgabe,
Dogmas oder der Dogmen eingeengt bleiben, sondern sollte das Wesen der verharrenden Kirche dogmatisch zu beschreiben.

, die Haupthematik der Epochen erfassen. Unter diesem Ober- 4. In den vorgetragenen Gliederungsaufriß kann die Neubegriff
ist sowohl die Dogmenentwicklung als auch die Ge- zeit dann eingefügt werden, wenn für sie eine eigene Hauptschichte
der Theologie in ihren Hauptzügen zu behandeln. thematik gefunden wird. Die Frage ist zu stellen: Gibt es über-
Dabei bleiben die bisherigen Hauptabschnitte erhalten: in der haupt eine Thematik, von der die Neuzeit einheitlich bewegt
Alten Kirche der Ausbau des trinitarischen Dogmas und danach ist? Vielleicht „Vernunft und Offenbarung", — das könnte für
des christologischen Dogmas; im Mittelalter die Dogmatisierung Aufklärung und Idealismus behauptet und durchgeführt werden,
der Heilsmittel; in der Reformation die Rechtfertigungser- versagte sich aber für die Zeit danach. Oder die Frage nach der
kenntnis. Kirche, — aber hier ergibt sich in der Behandlung keine ein-

2. Der Eingang der Dogmengeschichte sollte erweitert heitliche Linie: Die Lehre von der Kirche harrt noch ihrer Ent-
werden, indem sowohl die Fundamente im Neuen Testament faltung. Oder die Thematik des Heiligen Geistes, — aber dabei
als auch die Vorstufen im Alten Testament und Spätjudentum zerfließt alles, da jede Konkretion in eine andere Richtung
aufzuweisen sind. Dagegen kann der Überblick über die griechi- weist. Oder das Thema der Heiligen Schrift, — aber dieses
sehe Philosophie fehlen, da die Mitwirkung des philosophischen Thema ist der Kirche zu allen Epochen aufgegeben und von ihr
Denkens auf jeder Stufe darzustellen ist. Erweitert werden sollte auch aufgenommen worden; es ist kein Charakteristikum der
auch die Darstellung der altkirchlichen Entwicklung, indem die Neuzeit.

Eigenart der syrischen Theologie mit einbezogen wird. Als einheitliches Thema, das alle Abschnitte der Neuzeit

3. Der Rückblick auf die Abfolge der Epochen zeigt, daß beherrscht, ist allein die Frage nach dem Reich Gottes zu nen-
an jeder Wende zu einer neuen Hauptthematik eine kirchliche nen. Die eschatologische Frage in der Zuspitzung auf das ProGruppe
beim Alten verharrt und konservativ das Neue ab- blem des Reiches Gottes ist das heimliche Thema der Neuzeit,
lehnt. Am Abschluß der trinitarischen Epoche bleiben die das nicht nur von der Theologie aufgenommen worden ist, son-
Monophysitenund die Nestorianer zurück. Am Ende der christo- dem selbst die sogenannten säkularen Bewegungen umtreibt,
logischen Epoche ist für die griechische Kirche die Dogmen- Von diesem Thema aus läßt sich auch eine Einheit der Neuzeit
entwicklung zu Ende. Am Ende des Mittelalters ist die römische erkennen, ähnlich der Einheit, die das Mittelalter verkörpert.
Kirche nicht mehr in der Lage, die reformatorischen Neu- Wie die Lösung im einzelnen auszusehen hat, kann sich
entwicklungen zu verstehen. Am Ende der reformatorischen erst in der Darstellung selbst erweisen; gelingt sie, dann wird

*) Sektionsreferat, gehalten auf dem Wiener Evang. Theologen- Jie dogmengeschichtliche Analyse ihren Anteil zum Aufweis der

kongreß Oktober 1963. tinheit der Geistesgeschichte beigetragen haben.

Zum Verständnis Aleanders*

Von Gerhard Müller, Marburg/Lahn

1924 erschien in der Zeitschrift für Kirchengeschichte Paul über seine frühere Vergangenheit. Während die Reformation

Kalkoffs Aufsatz „Zur Charakteristik Aleanders", in dem Ale- den 42jährigen Luther verliebt mache und den Mönch veran-

ander als gewissenlos, maßlos eitel und geschwätzig hingestellt lasse, sich mit einer Nonne zu verbinden, werde aus Aleander,

wird. Kalkoff meinte, Aleander habe „zu Jähzorn und grausa- dem Humanisten der Renaissance, ein katholischer Priester

mer Gewalttätigkeit" geneigt und sei ein „unverbesserlicher ßtrenger Sitten.

,Epikuräer' " gewesen, „bei dem die Religion von jeher nur Diese beiden extremen Beurteilungen Aleanders sind inMittel
zum Zweck war". Auch der alternde Aleander fand vor zwischen in der Forschung aufgegeben worden. Hubert Jedin
Kalkoff kein Erbarmen. Er nennt ihn einen „alternden Libertin" meinte, daß auch nach 1527 noch Defekte in Aleanders Cha-
und behauptet, Aleander habe „religiösen Libertinismus" ver- rakter vorhanden seien, distanzierte sich aber zugleich auch von
treten1. Demgegenüber hatte Jules Paquier gemeint, für Alean- den vielfach unbewiesenen Invektiven Kalkoffs'1. Franco Gaeta
der sei der Wormser Reichstag zu einem Wendepunkt gewor- hat ihn in seiner 1960 erschienenen Schrift über Aleander in
den. Von da ab werde er ein wirklicher Katholik, der merke, Venedig einen Konformisten genannt, der voller Furcht gewe-
daß er sein Leben bessern müsse. In dem Maße, in dem Luther sen sei, sich Mächtige zu Gegnern zu machen. Im Grunde sei
von jener Zeit ab tadelnswerter werde, erhebe Aleander sich Aleander nur politisch interessiert und ohne wirkliche Religiosi-

- tat gewesen4. Ähnlich 6charf äußerte sich vor kurzem Guiseppe

*) Sektionsreferat, gehalten auf dem Wiener Evang. Theologenkongreß
Oktober 1963.

*) Paul K a 1 k o f f, Zur Charakteristik Aleanders, in : Zeit- 2) J(ules) Paquier, L'Humanisme et la Reforme. Jeröme Aleandre

schrift für Kirchengeschichte Bd. 43 (1924), S. 209—219, besonders de sa naissance ä la fin de son sejour ä Brindes (Paris 1900), S. 347

S. 210—214. Kalkoff hat auch über andere Männer des 16. Jahr- —354 und besonders S. 348 f., Anm. 2.

hundert« scharfe Urteile gefällt, die er nicht begründete, vgl. z.B. *) Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 1,

über Albrecht von Mainz die von Hans Volz kürzlich zusammen- 2. Aufl. (Freiburg/Br. 1951), S. 520, Anm. 2.

gestellten Äußerungen (Erzbischof Albrecht von Mainz und Martin *) Franco Gaeta, Un nunzio pontificio a Venezia nel Cinque-

Luthers 95 Thesen, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlidien cento (Girolamo Aleandro), Civiltä Veneziana Bd. 9 (Venedig-Rom

Vereinigung Bd. 13, 1962, S. 200, Anm. 43). 1960), S. 105—107.