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Ausgabe:

1964

Spalte:

517-520

Autor/Hrsg.:

Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

Hellenistisch-christliche Missionsüberlieferung und Jesustradition 1964

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Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 7

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heit des Textes an und für sich? Für wen und wo wäre sie
dann wahr? Gemessen an den vielen ernsthaften und auch
weniger ernsthaften Versuchen eines Absolutheitsbeweises für
das Christentum ist es immer noch ein brauchbarer Satz: „Das
Unwiderstehliche am Wort Jesu ist meine Erfahrung der
personalen Verbindlichkeit". Das kann in gleicher Weise vom
Propheten- oder Apostelwort, vom Psalm oder Brief, gesagt
werden. Es spricht jeweils aus, in welcher Tiefe und Klarheit
der Mensch sich erkannt weiß. Andere Gründe — der Vergleich
mit religiösen Texten; die Sonderstellung mancher biblischen
Zeugnisse — sind nicht stark genug, um die sachliche Verbindlichkeit
des Textes zu erklären. Der Rückgriff auf irgendwelche
Begriffe als solche kann dem fragenden, dem skeptischen, dem
angefochtenen Hörer keinen Eindruck machen oder Hilfe gewähren
. Die Verbindlichkeit des Textes ist ja nicht herstellbar
oder ableitbar. Sie muß frei geschehen, im Sinne des „Ubi et
quando visum est Deo".

Das führt aber, von der Seite des Hörers gesehen — und
diese nur kann ich beurteilen, weil ich der Hörer bin — zum
Satz: Daß die schaffende Kraft des Textes und sein Wahrheits-
anppruch nur zu erörtern ist als Augenblick der Inpflichtnahme
und als Weise der Betroffenheit. Sein Ort ist das „in Gottes
Wort gefangene Gewissen", aber nicht als moralische Instanz,
sondern als der ganze Mensch. So ist die Verbindlichkeit des
Textes eine eigentlich personale. Und das Zeichen
dafür, daß man das versteht, ist der Verzicht auf Beweise; auch
im Kreis der Betroffenheit kann man nur drin stehen oder
draußen. In der Tat: Nicht die historische, sondern die geschichtliche
, und das heißt die geschehende Wahrheit
ist die Vollmacht der Predigt. Für den
Mann im Zeugenstand bedeutet das: „Rede! Wir werden hören.
Dein Wort muß genügen!" Jeder Versuch, in den freien Wettbewerb
der Sache eine Vorgabe einzuschmuggeln, mittels deren
man im Rennen zu heimlichem Vorteil käme, ist durchschaut.
Die Zeit der inhaltlichen Vorrechte ist vergangen; die Zeit der
formalen Privilegien noch kurz bemessen. Es bedarf keiner Fachausdrücke
oder Sonderworte: Der Text spricht hier, jetzt, zu
uns — oder er mag für sich bleiben. Das meint: verbal, aktual,
personal. Bekannt ist das längst, aber wenig in Übung. Die
Sachlage ist außerhalb der Theologie ganz gleich; die Übereinstimmung
im Grundsätzlichen erfreulich. Hans-Georg Gadamer
sagt: „Die moderne Hermeneutik als protestantische Disziplin
ist offenkundig als Kunst der Schriftauslegung auf die dogmatische
Tradition der katholischen Kirche und ihre Lehre von

der Werkgerechtigkeit polemisch bezogen. Sie hat selber einen
dogmatisch-konfessionellen Sinn. Das bedeutet nicht, daß eine
solche theologische Hermeneutik dogmatisch voreingenommen ist,
so daß sie herausliest, was sie hineingelegt hat. Sie setzt sich
vielmehr wirklich aufs Spiel. Aber sie setzt voraus, daß das
Wort der Schrift trifft und daß nur der Betroffene . .. versteht.
Insofern ist die Applikation das erste". (An diesem Satz hängt
das Ganze.) „Wir können somit als das wahrhaft Gemeinsame
aller Formen der Hermeneutik herausheben, daß sich in der
Auslegung der zu verstehende Sinn erst konkretisiert und vollendet
, daß aber gleichwohl dieses auslegende Tun sich vollständig
an den Sinn des Textes gebunden hält. Weder der Jurist
npch der Theologe sieht in der Aufgabe der Applikation eine
Freiheit gegenüber dem Text"33, ich ergänze: außer jener Freiheit
, die der Text selbst von uns erwartet, damit er heute bei
uns sich verbindlich behaupte.

Der Sinn personaler Verbindlichkeit des Textes ist aber
in und mit dem Treffenden das Verbindende. Auslegung des
Textes ist unmittelbar Auslegung des Menschen (Gen. obj.), weil
der Text ihn meint, zu ihm will und nur dort anzutreffen ist.
Schafft die Auslegung des Textes Übereinstimmung (im anderen
Falle Entzweiung), so ist der Mensch mit anderen im
Hören, Auslegen und Verstehen vorausgesetzt. Wir können nur
sprechen mit —, reden zu —, leben bei —. Zwar kann ich niemals
für den Andern glauben, aber ich kann ihn mitverantworten
, indem ich durch Wort und Tat ihm die Einstimmung in
meine Antwort möglich mache34. Der Text macht sich m i r
stets dergestalt verbindlich, daß er mich an den Nebenmenschen
weist. Da wird ins Leben übersetzt; da ist der Durchgangspunkt
der Wahrheit zur Wirklichkeit. Das ist ersichtlich am Vorgang
der Predigt, die ruft, zum Wort versammelt, Gemeinde schafft.
Welche Bedeutung darin dem Text zukommt, sollte hiermit
gezeigt werden.

33) Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (Tübingen i960),
S. 315.

34) Hierzu Gerhard Ebeling in: Theologie und Verkündigung
(Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie Bd. 1, Tübingen 1962),
S. 83 f. : „Indem ich in ein mich treffendes Wort mich selbst einstimme
, werde ich einem (mich?) in Frage stellenden Forum gegenüber
ich selbst und mute anderen so ebenfalls Einstimmung zu als
Ende der Fraglichkeit. In der Homologie hängen darum drei Momente
aufs engste zusammen: daß ich mich identifiziere mit einem mich
identifizierenden Wort; daß diese Einstimmung meiner selbst in ein
Wort extra me mich zur Verantwortung dieses Wortes nötigt; und
solch einstimmendes Reden wiederum zum Einstimmen ruft".

Hellenistisch-christliche Missionsüberlieferung und Jesustradition*

Von Ulrich W i 1 c k e n s, Berlin

Der Tatbestand, daß sich in den hellenistisch-christlichen
Zeugnissen des Missionsraums in paulinischer und nachpaulini-
scher Zeit, die Evangelien ausgenommen, keine Jesuserzählungen
und nur vereinzelt im Rahmen der Paränese Jesuslogien finden,
kann nur so beurteilt werden, daß die kerygmatisch orientierte
Tradition des Missions räum es einerseits und die Jesusüberlieferung
, wie sie in den Evangelien gestaltet worden ist, andererseits
zwei verschiedene Traditionswege darstellen, die sich erst
sekundär miteinander verbunden haben. Das bedeutet, daß auch
verschiedene Tradentenkreise anzunehmen sind, und es stellt
sich die Frage, wo diese zu suchen und wie die Entstehung dieser
beiden Überlieferungsbereiche und ihre auffallende Eigenständigkeit
im Verhältnis zueinander zu erklären ist?

1. Die Vermutung von W. Schmithals1, daß die Traditionsträger
der Jesusüberlicferung als eine in Galiläa verbliebene
Sondergruppe ursprünglicher Jesusjünger von der Jerusalemer
Urgemeinde und der aus ihrem Bereich hervorgehenden Missionsüberlieferung
zu unterscheiden sei, ist unannehmbar. Denn

*) Sektionsreferat, gehalten auf dem Wiener Evang. Theologenkongreß
Oktober 1963.

') W. Schmithals, Paulus und der historische Jesus, ZNW 53 (1962)
145—160; Paulus und Jakobus (FRLANT 85, 1963).

einerseits ist ein Vorhandensein galiläischer Jüngergruppen nicht
bezeugt und könnte lediglich aus der galiläischen Orientierung
der Jesusüberlieferung selbst erschlossen werden. Andererseits
kann diejenige Gruppe, die sich unter der Führung des Petrus
und der Zwölf in Jerusalem als Gemeinde konstituiert hat, in
ihrer Entstehung nur unter Voraussetzung ihrer vorherigen
Jesusjüngerschaft erklärt werden. Das zeigt vor allem der Charakter
der Erscheinungen des Auferstandenen, insofern die
Empfänger im Auferstandenen Jesus wiedererkannt haben
(die Erscheinung vor Paulus, von der das nicht gilt, hat ihrerseits
die vorangehenden Erscheinungen der Jesusjünger zu ihrer
wesentlichen Voraussetzung). Daß aber die Empfänger der Erscheinungen
zum Jüngerkreise Jesu gehört haben, ist einerseits
aus der synoptischen Tradition — besonders auch der Passionsgeschichte
! —, andererseits aus der Selbstbezeichnung der ältesten
Christen als Jünger' sicher zu erkennen. Die Jerusalemer
Urgemeinde hat also als Traditionsträger der ältesten nachösterlichen
Jesusüberlieferung zu gelten. Hat sie ihre nachösterliche
Entstehung wesenhaft als Neukonstituierung der Jesusjüngerschaft
verstanden, so hat ihre Überlieferung entsprechend
den Charakter einer Weitertradierung der Verkündigung und
Lehre Jesu. Ist in beiderlei Hinsicht die Erfahrung der Auferstehung
Jesu der entscheidende Anlaß gewesen, der zur Neu-