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Ausgabe:

1964

Spalte:

435-436

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Paul

Titel/Untertitel:

Erforschung des Mittelalters ; Bd. IV u. V 1964

Rezensent:

Sproemberg, Heinrich

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435

Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 6

436

KIRCHENGESCHICHTE: MITTELALTER

Lehmann, Paul: Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen
u. Aufsätze. Bd. IV u. V. Stuttgart: Hiersemann 1961/62.
VIII, 412 S. u. VI, 544 S., 1 Titelb. gr. 8°. Lw. DM 78.- u. Lw.
DM 108.—.

Bei einer Besprechung der ersten drei Bände dieser Sammlung
ist die Bedeutung Paul Lehmanns und seines Lebenswerkes
auch für die Theologie eingehend gewürdigt worden1. Es ist
nicht leicht, in Kürze über die beiden letzten Bände zu berichten
, da sie eine Fülle der verschiedenartigsten Aufsätze enthalten
. Vielleicht hängt es mit der Art der Entstehung zusammen,
daß die Bände weder eine chronologische noch eine sachliche
Ordnung aufweisen. Der Verfasser hat das selbst gefühlt, und
so hat er in Band V eine systematische Übersicht über alle
Bände (S. 541 ff.) hinzugefügt2. Nur an ganz wenigen Stellen
sind neue Zitate eingefügt worden, doch ist zu bemerken, daß
insbesondere in Band V verhältnismäßig viele Aufsätze aus
neuester Zeit wieder abgedruckt sind. So kann an dieser Stelle
nur auf eine Zahl für die Kirchengeschichte wichtiger Beiträge
hingewiesen werden.

Mit Recht hat Lehmann immer wieder betont, welche Bedeutung
die Kenntnis mittelalterlicher Klosterbibliotheken für
die Geistesgeschichte des Mittelalters hat und wie das auch ein
wichtiger Hintergrund für die theologische Arbeit dieser Zeit
gewesen ist. Der Aufsatz „Die mittelalterliche Bibliothek der
Reichenau" hat in dieser Beziehung programmatische Bedeutung.
Ein weiterer Aufsatz, „Handschriften aus Kloster Weißenau in
Prag und Berlin", ist eine wichtige Ergänzung zu einer in dieser
Sammlung bereits veröffentlichten Abhandlung3. Beachtlich
sind die Ausführungen „Zur Kenntnis der Schriften des Dionysius
Areopagita im Mittelalter", die zwar schon 1923 veröffentlicht
wurden, aber ihren Wert nicht verloren haben. Ein amüsanter
Hinweis findet sich unter dem Titel „Sonderbare Heilige
", wo er schildert, wie die als Satire gegen die Kurie erdachten
Märtyrer Albinus und Rufinus (Silberling und Goldfuchs)
entstanden und verehrt worden sind. Von allgemeiner Bedeutung
ist die Abhandlung „Geisteswissenschaftliche Gemeinschaftsund
Kollektivunternehmungen in der geschichtlichen Entwicklung
" (1956). Es ist eine große Schau wissenschaftlicher Gemeinschaftsunternehmungen
von der Antike bis in die Gegenwart
, wobei die mittelalterlichen und kirchengeschichtlichen
Gemeinschaftsarbeiten besonders berücksichtigt sind. Lehmann
wehrt sich gegen die Überschätzung der Gemeinschaftsarbeit
und betont, daß über deren großartigen Leistungen die individuelle
Arbeit nicht vergessen werden dürfte. Es ist ganz sicher,
daß heute der fachwissenschaftliche Aufsatz, wie das übrigens
diese Sammlung gerade zeigt, als Pionierleistung eine viel größere
Rolle spielt als in früherer Zeit, in der umfangreiche Bücher
einzelner Gelehrter im Vordergrund standen.

In Band V ist der größte Beitrag „Corveyer Studien". Es
ist eine seiner ältesten Arbeiten (1919) und stellt eine gründliche
Durchsicht durch die Handschriften dieses berühmten Klosters
dar. Theologisch ist interessant die Untersuchung der
„Admonitio S. Basilii ad filium spiritualem" (1955). Es werden
die Textüberlieferung, die Beziehung zur Regula S. Benedicti und
die Frage der Übersetzung aufgehellt, sowie eine neue Edition
der lateinischen Übersetzung dieser wichtigen Schrift gegeben.
„Tertullian im Mittelalter" (1959) befaßt 6ich mit der Frage,
ob dieser oft angegriffene große Kirchenschriftsteller im Mittelalter
gekannt und geschätzt worden ist, wobei neues Material
vorgetragen werden kann. Wieder allgemeine Bedeutung hat die
Betrachtung „Über Perioden des lateinischen Schrifttums im
Mittelalter". Dieses Problem hat ihn schon oft beschäftigt4.
Schärfer noch als früher betont er die Bedeutung des Umbruchs
in der Zeit nach 1050, wobei er vielleicht etwas einseitig die
politischen Veränderungen in den Vordergrund stellt, während

») ThLZ 87, 1962, Sp. 45 ff.

2) Ganz befriedigen kann diese Klassifizierung nicht, vor allem
nicht der erste Teil „Allgemeines". Dazu würden noch verschiedene
Arbeiten treten, so z. B. Nr. 38—40 und vielleicht auch Nr. 50 und 51.

3) Vgl. Bd. III, S. 110 ff.

4) Vgl. Bd.I, S. 114 ff. Bd. II, S. 109 ff., Bd. III, S. 125 ff.

doch auch schon hier soziale Veränderungen wesentlich gewesen
sind. Mit Recht hat er für die Zeit vom 13. bis 15. Jahrhundert
auf den Einfluß des Bürgertums in literarischer Beziehung hingewiesen
. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dabei dem
13. Jahrhundert. Sehr fein sind die Bemerkungen über die Verbürgerlichung
der Literatur und das Schöpfen der Schriftsteller
aus Erfahrungen und praktischen Beobachtungen. Daran schließt
sich „Panorama der literarischen Kultur des Abendlandes im
7. Jahrhundert" (1958). Hier wird gleichsam der Auftakt der
abendländischen Kultur aus großer Sicht dargelegt. Wieder eine
Sonderfrage wird unter dem Titel „Skandinaviens Anteil an der
lateinischen Literatur und Wissenschaft des Mittelalters" behandelt
, in dem gleichsam Neuland für die lateinische Literaturgeschichte
des Mittelalters erschlossen wird (1936/37). Der
sehr umfangreiche Aufsatz (S. 275—429 ) enthält eine Fülle
von Material aus Handschriften in Skandinavien, wobei auch
wieder verschiedene Texte kirchlicher Natur veröffentlicht werden
. Den Schluß bildet der Aufsatz „Grundzüge des Humanismus
deutscher Lande, zumal im Spiegel deutscher Bibliotheken des
15. und 16. Jahrhunderts" (1956). Er beginnt mit dem Versuch
einer genauen Definierung des Begriffes „Humanismus", und das
dürfte gerade heute von Belang sein, wo dieser Begriff in sehr
verschiedener Form verwendet wird. Eine kurze Übersicht über
den Gang der Entstehung des Humanismus in Deutschland zeigt
die großen abendländischen Zusammenhänge. Lehmann schließt
mit den Worten: „Aus dem Studium der Antike die Impulse zur
Verfeinerung des sich entfaltenden Menschentums erhalten",
das ist nach seiner Ansicht der wirkliche Humanismus, und diese
Betonung des ethischen Inhalts des Humanismus ist für das
Werk Lehmanns charakteristisch. Man darf ihn wohl als den
vielleicht letzten großen christlichen Humanisten bezeichnen.

Berlin Heinrich Sp roeraberg

Leclercq, Jean, OSB: Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchs -
theologie des Mittelalters. A. d. Franz. übertr. v. J. u. N. S t ö b e r.
Düsseldorf: Patmos-Verlag [1963]. 339 S., 1 Titelb. 8°. Lw. DM 26—.

Der durch zahlreiche Untersuchungen zur Geschichte und
Theologie des frühmittelalterlichen Mönchtums bekannte Gelehrte
gibt in seinem neuen Werk, dessen französisches Original
1957 erschien, eine zusammenfassende Darstellung der Eigenart
des frühmittelalterlichen Mönchtums bis zur Zeit der aufkommenden
Scholastik. Das Buch basiert auf Vorlesungen, die L.
1955/56 vor jungen Mönchen in Rom gehalten hat. L. hebt
wiederholt hervor, daß sein Buch weithin noch keine fertigen
Lösungen bieten könne und daß bestimmte Thesen vielleicht
modifiziert oder weniger scharf geäußert werden müßten; sein
Werk sei zudem nicht für Fachleute bestimmt (S. 7) und wolle
überhaupt nur zur eigenen Lektüre der monastischen Literatur
anregen (S. 15). Gleichwohl ist seine Arbeit durch so viel
Quellenmaterial gestützt, daß sie höchste Beachtung verdient.

Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile. Nach einer Einleitung
„Grammatik und Eschatologie" behandelt der 1. Teil „Die Entstehung
der monastischen Bildung" (S. 19—61), wobei L. vor allem die Bedeutung
Benedikts und Gregors d. Gr. für das frühmittelalterliche Mönch-
tum würdigt. Der 2. Teil erörtert „Die Quellen der monastischen
Bildung" (S. 65—168), nämlich „Das Verlangen nach dem Himmel",
„Die Heilige Schrift", „Die Religiosität der Väter", „Das Studium der
freien Künste". Im 3. Teil werden „Die Früchte der monastischen
Bildung" (S. 171—279) gewürdigt, nämlich neben den literarischen
Gattungen, die sich in der spezifisch monastischen Literatur finden,
einmal die Theologie der Mönche und zum anderen die Liturgie als
Dichtung. Es folgen ein Epilog (S. 281—298), 6 Anhänge zu Einzelfragen
, ein Literaturverzeichnis ßowie Indices.

Die Grundthese, die L. entfaltet und die er durch zahlreiche
Belege zu untermauern sucht, besagt, daß es eine eigene mona-
stische Theologie gegeben habe, die nicht nur zeitlich der
scholastischen Theologie vorangegangen sei, sondern sich von
dieser in der äußeren Organisation des theologischen Betriebes,
im Verständnis der Theologie als solcher, in der Verwertung
von Quellen und schließlich auch in der Auffassung über Theologie
und Frömmigkeit unterschieden habe, ja, zeitlich sogar
noch der beginnenden Hochscholastik parallel gelaufen sei.

Um diese These durchzuführen, setzt L. ein mit dem Hinweis,
daß es nebeneinander Klostersdiulen und Klerikerschulen gegeben hat.