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Ausgabe:

1964

Spalte:

277-278

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Michaud-Quantin, Pierre

Titel/Untertitel:

Sommes de casuistique et manuels de confession au moyen âge 1964

Rezensent:

Merzbacher, Friedrich

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277

Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 4

278

K1HCHEN GESCHICHTE: MITTELALTER

Michaud-Quantin, Pierre: Sommes de casuistiquc et manuels
de confession au moycn äge (XII—XVI siecles). Louvain: Nauwelaerts;
Lille: Libr. Giard; Montreal: Libr. Dominicaine 1962. 124 S. gr. 8°
= Analecta Mediaevalia Namurcensia, 13.

Das anzuzeigende Werk strebt eine Analyse der Beichtsummen
und Bußhandbücher für die Zeit vom 12. bis 16.
Jahrhundert an und ist insofern thematisch nicht allein für Theologen
, sondern gleichermaßen auch für Kanonisten und Historiker
aufschlußreich. Im Verlaufe des 12. Jahrhunderts erreichte
die kirchliche Bußdisziplin in ihrer Entwickhing jenes Ziel, das
sich während des hohen Mittelalters immer stärker abgezeichnet
hatte. Denn zu diesem Zeitpunkt hörte die Beichte auf, im
Leben des Christen nur ein seltenes Ereignis zu sein. Vielmehr
erweist sich diese als echte Folgeerscheinung einer schweren
sittlichen Krise, deren Spuren sie tilgen und deren angerichtete
Schäden sie wieder beseitigen half. Sowohl In den monastischen
oder Kanonikerkreisen als auch in den Pfarreien wurde die
Beichte ein regelmäßig geübter Akt, der sich in den Rythmus
der christlichen Existenz einfügte. Leider charakterisieren sich
die überkommenen Quellen als zu bruchstückhaft, um ein vollständiges
Bild der Bußpraxis rekonstruieren zu lassen. Bereits
um 1200 spielte der Pariser Professor und nachmalige Zisterziensermönch
Alanus von Lille auf die Verpflichtung an,
daß ein Kleriker jeden Samstag beichten müsse, falls er eine
schwere Sünde begangen habe. Gleichzeitig erwähnte er die
dreifache jährliche Beichte der Laien an Weihnachten, Ostern
und Pfingsten. Die ersten in Paris oder in Südengland abgefaßten
Synodalstaruten sprechen von häufiger Beichte, die hauptsächlich
am Beginn der Fastenzeit abgelegt werde. Gleichwohl
bleibt die Wissenschaft ohne Kenntnis dessen, was letztlich der
allgemeine Brauch in der Christenheit bis zum Jahre 1215 gewesen
ist. Bekanntlich hat erst das 4. Latcrankonzil von 1215
die jährliche Osterbcichte und -kommunion beim parochus
proprius für die Gesamtkirche zur Pflicht gemacht.

In den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts und zu Beginn
des 13. Jahrhunderts entstand eine neue theologisch-kanonistische
Literaturgattung, die sich bis zum Trienter Reformkonzil fortentwickelte
. Dabei handelte es sich um Leitfäden für Priester
zur würdigen Verwaltung des Bußsakraments. Sie werden in der
Literatur als Summae Conlessorum bezeichnet, obschon ausschließlich
die Summe des Johannes von Freiburg diesen
authentischen Titel aufwies.

Das Ziel der Untersuchung von Pierre Michaud-Quantin
besteht darin, einen Überblick über die Werke zur Beichtlehre
zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert zu verschaffen. Der Verfasser
ist 6idi bei seinem Unterfangen durchaus bewußt, daß
seine Ergebnisse stellenweise einen nur vorläufigen und keineswegs
erschöpfenden Charakter annehmen. Immerhin erweist sich
seine Darstellung in vielem als überaus anregend und fruchtbar,
da hier versucht wird, die Poenitentialphysiognomie einer jahrhundertelangen
Epoche cinzufangen. Wenn auch die Autoren
noch um die Mitte des 13. Jahrhunderts im Titel ihrer Handbücher
den Terminus poenilentiale gebrauchten, so unterscheiden
sich ihre Werke sehr stark von jenen der vorhergehenden
Periode. Vom Ausgang der Patristik bis zum 12. Jahrhundert
war ein Poenitentiale ein Verzeichnis, eine Art Rechenknecht
(bareme), das eine Liste aller möglichen Sünden bot. Diese Buß-
büchcr kennzeichnet eine weitreichende Systemlosigkeit in der
Darstellung, und auffallend wirkt die bemerkenswerte Strenge
ihres Hintergrundes. In besonderem Maße bestechen sie aber
durch ihren Automatismus, zumal der Priester, der sich ihrer
bediente, bei der Anwendung ihrer Bestimmungen überhaupt
keine persönliche Rolle spielte. Indes hat schon zu Anfang des
11. Jahrhunderts Burchard von Worms in seinem ,,Cor-
rector et Medicus" gerade an die Initiative und das persönliche
Urteil der Priester appelliert. Magister Gratian verankerte
in seinem Decretum den Grundsatz ,,Pocnitentiae sunt arbitra-
riae". In der Linie dieser Entwicklung steht ebenfalls der Uber
poenitentialis des Alanus von Lille. Dieser verlangte
vom Beichtvater ernsthafte religiöse Lebenseinstcllung, gute

Technik bei der Verwaltung des Sakraments und ausreichende
Kenntnis der kirchlichen Lehre und Regeln über das Sakrament.
Alanus war insbesondere die anti-klerikale und anti-sakramentale
Polemik der Katharer vertraut. In den auf die Poenitentia-
lien des Alanus folgenden Epochen entwickelten sich weitschweifige
Beichtsummen, entstand eine neue Literaturgattung
über den ordo audiendi confessiones. An dieser Stelle bespricht
der Autor insbesondere die einschlägige Produktion
Raymunds von Penafort und Johannes' von
Fr ei bürg. Das 14. Jahrhundert spiegelt sich vor allem in den
franziskanischen Beichtsummen (Johannes von Erfurt bzw. von
Sachsen, Astesanus von Asti, Nicolaus von Osimo). Ein wichtiges
Dokument bedeutet ebenfalls die Pisanella des Dominikaners
Bartholomäus von San Concordio und der
Beichtspiegel seines Mitbruders Jacobus Passavanti von
Florenz (f 1357). Die drei ersten Viertel des 15. Jahrhunderts
markieren ein deutliches Nachlassen in der Schaffung der
Gewissenssummen. Die bereits vorliegenden Werke genügten den
Bedürfnissen vollauf, so daß man sich einfach auf die Vervielfältigung
bekannter Handschriften beschränkte. Lediglich das
Werk des Nicolaus von Osimo darf als die einzige
bedeutende Schöpfung dieser Periode angesprochen werden. Im
übrigen weist die Masse der anonymen Traktate zwischen 1300
und 1450 eine weitgehende Homogenität auf. Aus dem H.Jahrhundert
verdienen jedoch der Benediktiner Andreas von
E s c o b a r, der franziskanische Kirchenlehrer St. Bernhardin
von Siena und besonders der große Moralist St. Antonin
von Florenz Erwähnung. Der Verfasser hat ebenso
Heinrich von Langenstein, Johannes Nider,
Matthäus von Krakau und Jean Gerson unter dem
Blickwinkel seines Themas gestreift. Er versäumt es auch nicht,
einige anonyme Werke (z.B. die „Turba magna") und die in
der Volkssprache (italienisch, deutsch, englisch) überlieferten
Texte zu erwähnen. Die innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts
um 1500 herum entstandenen Beichtsummen stehen in
starkem Kontrast zu den Erscheinungen der voraufgegangenen
Zeit. Jetzt herrschte tatsächlich das Goldene Zeitalter der
mittelalterlichen Gewissenslehren. Aber bald sollte diese Hochblüte
von einem schnellen und diesmal endgültigen Verlöschen
abgelöst werden, dessen Beobachtung nicht minder bewegend
wirkt. Neben den Publikationen des Franziskaners B a p t i s t a
Trovamala de Salis, der Summe des Angelus Car-
Ieti von Chiavasso und den Schriften des Kardinals
Cajetan (Thomas de Vio) verkörpert die Summa
Summarum des Dominikaners Sylvester Mazzolini
de P r i e r i o eine wirkliche Enzyklopädie.

Diese Summisten haben die Grundsätze der Beichtpraxis
systematisiert und die Bestimmungen in einer gründlich unterbauten
Disziplin eingeordnet. Ein solches System findet zwangsläufig
seine Grenzen. Da es überdies eine juridische Seite aufweist
, ist es begreiflich, daß die Kanonisten diese ganze Disziplin
lediglich als Annex des Kirchenrechts betrachteten. Bußpraxis
und Gerichtsbarkeit, forum internum und forum ex-
ternum waren für sie eben parallele und einander analoge
Systeme. Die wirkliche Neuerung liegt in dem Umstand, daß
im Cewissensbereich nicht allein eine Tat, sondern hauptsächlich
ein Täter gerichtet wurde. Historisch gesehen, analysieren
nicht zuletzt die Bußwerke die zeitgenössische christliche
Lebensführung unter den konkreten Bedingungen des Alltags.
Sie liefern zugleich eine Quelle zur Familien-, Wirtschafts- und
Sozialgeschichte.

Der konzentriert geschriebenen, aber stoffreichen Untersuchung
ist ein Verzeichnis der Autoren und im Text zitierten
Werke beigegeben, das auch die Lagerorte der behandelten
Handschriften aufzeigt. Indem Michaud-Quantin ein wichtiges
Problem der spätmittelalterlichen Kirchengeschichte monographisch
durchleuchtet, gibt er zugleich vielfache Anregungen zur
Vertiefung von Einzelfragen, insbesondere kanonistisdier Natur,
denen vor allem archivalisch nachgegangen werden müßte.

laaabmdc Friedrich Merzbacher