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Ausgabe:

1964

Spalte:

269-270

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Jüdischer Glaube 1964

Rezensent:

Mayer, Reinhold

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269

Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 4

270

sogar von einer „predilection (seil, des Josephus) pour le
Stoi'cisme" (S. 264; vgl. überhaupt S. 263 ff.). Die Frage, ob
und inwieweit mit solchen formalterminologischen Anleihen
nicht zugleich zwangsläufig auch eine inhaltlich-sachliche Annäherung
an die betreffenden philosophischen Vorstellungen
verbunden ist, kann hier nicht ausführlich erörtert werden.
Ein Beispiel sei wenigstens erwähnt: Wenn Josephus in Ant.
XII 22 die Wendung dies Aristeasbriefes (§ 16): tov yäq
navwrv inomrjv xai xrioryv veöv ovioi aeßovmi durch
die ohne jeden Zweifel der platonisch-stoischen Tradition entnommene
Formulierung tov yuo unavra avaxtjoäftevov dt:bv xa
ovroi xal i)/j.ei<; aeß6/u&cu ersetzt, so wird an dieser Stelle
in besonderer Weise die Frage dringend, ob nicht mit einer
solchen „Übersetzung" zugleich auch eine ueräßcioig eig aXko
yevog verbunden ist, wobei hier die vom Verf. positiv beantwortete
Frage dahingestellt bleiben soll, ob mit dem Begriff
XTtmrjg in Aristeasbrief §16 notwendig die Vorstellung von
einer ,,creatio ex nihilo" verbunden ist (S. 30 f., 3 5 f., 265).

Dies eine Beispiel muß an dieser Stelle genügen, zumal
es allein bereits deutlich genug darauf hinweist, daß das —
nach seinem Titel nur philologische Absichten verfolgende —
Werk des Verf.s auch und gerade für den, der mit mehr theologisch
-sachlichen als philologischen Interessen sowohl an den
Aristeasbrief als auch an die Schriften des Josephus — keineswegs
nur an Ant. XII 12 ff.! — herangeht, von grundlegender
Bedeutung ist. Obwohl — oder vielleicht besser: gerade weil —
die Untersuchungen des Verf.s in erster Linie daran interessiert
sind, den jüdischen Historiker Flavius Josephus als
einen Vertreter der sprachlichen Bewegung des „Attizismus"
zu erweisen, zunächst also eine ,,nur" philologische Absicht
verfolgen, machen sie deutlich, daß saubere philologische Arbeit
die unabdingbare Voraussetzung für ein sachgemäßes Verständnis
des Aristeasbriefes und des Josephus, wie auch jedes
antiken Textes überhaupt ist. Jeder, der sich — aus welchen
Motiven auch immer — mit dem sogen. Aristeasbrief bzw. mit
den Schriften des Josephus zu beschäftigen hat, wird dem Verf.
für die hier geleistete bewunderungswürdige Arbeit dankbar
sein.

Jena Hans-Friedrich V « i [f

Geis, Robert Raphael : Vom unbekannten Judentum. Freiburg-
Bascl-Wien: Herder 1961. 236 S. kl. 8° = Herder-Bücherei Bd. 102.
DM 2.40.

Wilhelm, Kurt: Jiidisdicr Glaube. Eine Auswahl aus zwei Jahrtausenden
hrsg. Bremen: Schüncmann 1961. XIX, 523 S. kl. 8" =
Sammlung Dictcridi Bd. 228. Lw. DM 17.80.

Im Neuen Testament wurde eine prophetische Kritik am
nichtchristlichen Judentum laut, die aus Liebe und innerer Zugehörigkeit
sdiimpfte und lockte. Später ging bei Juden und
Christen das Wissen um die Verbundenheit weithin verloren.
Wo die Kritik weitergeführt wurde, da geschah es oft in Unkenntnis
des Gegenübers; bei Christen kam es zur polemischen
Verzerrung des Bildes vom Judentum und zur Bestreitung legitimer
jüdischer Existenz. Schließlich verstummte der Dialog, und
an seiner Stelle konnte der antisemitische Mythos gedeihen,
der dann Judentum und Christentum an der Wurzel bedrohte.

Wenn es in der Gegenwart wieder zum partnerschaftlichen
jüdisch-christlichen Gespräch kommen soll, in dessen Verlauf
die falschen Bilder, die sich beide Seiten in der Zeit der
Gesprächslosigkeit schufen, behutsam korrigiert werden, so sind
dabei für Christen diejenigen Stimmen von unentbehrlichem
Wert, die das Judentum von innen her zeigen. Jetzt können
zwei Anthologien über das jüdische Selbstverständnis einen
wichtigen Dienst tun, wie sie aus gründlicher Sachkenntnis,
vertieft durch eigenes Erleben und Erleiden, von Geis und
Wilhelm vorgelegt worden sind, beide Schüler Leo Baecks.
des letzten großen deutsch -jüdischen Theologen.

Das Buch von Robert Raphael Geis ist eine Art systematischen
Querschnittes durch das jüdische Leben. In einem ersten
Teil, unter dem Gesamtthcma Heiliges Leben, werden Der

Gottesdienst der Synagoge und Das jüdische Jahr im jüdischen
Haus als die beiden Pole aufgezeigt, aus denen jüdisches
Leben erwächst, und als die Orte, an denen sich Von der
Wiege bis zum Grab (6o heißt der dritte Unterabschnitt) die
Wahrheit allen jüdischen Lebens zu bewähren hat. Der zweite
Teil stellt Heilige Geschichte dar, die gegründet ist in der Tatsache
von Gottesbund und auserwähltem Volk, die getragen
wird durch die Messiashoffnung und die in der Begegnung des
jüdischen Glaubensvolkes mit dem Land Israel zu ihrem Ziele
kommt. Es ist die Geschichte von Judennot und Judenleid —
das große Judenleid ist der bestimmende Grundton, der die
ganze Darstellung durchzieht, ohne daß daraus eine Anklage
oder eine Selbstbemitleidung hörbar würde —, eine Geschichte
vom Ja zum Gebot um Gottes willen, das oft zum Nein gegenüber
der Welt wurde, vom Willen, nicht nur zuendezudenken,
sondern auch zuendezuhandeln, vom Mut, einzeln unter den
Vielen, schwach unter den Mächtigen, anders als die Anderen
zu sein, von der Kraft des Dauerns und der Gnade des Unterliegens
, und von der Bereitschaft zum Martyrium im Leben
und im Sterben.

Die Sammlung von Kurt Wilhelm zeigt in großen
Linien einen Längsschnitt durch die weite, an, Spannungen und
Entwicklungen reiche nachbiblische Geschichte des Judentums.
Talmud und Midrasch kommen zu Wort und Philo von Alexandria
; neben vielen anderen die beiden größten Dichter und
Denker des Judentums im Mittelalter, Jehuda Halevi und Mai-
monides, dankenswerterweise auch das weniger bekannte, weil
schwerer zugängliche Gebiet jüdischer Mystik mit Proben vom
frühen Mittelalter bis zur Neuzeit: aus der Hechalot-Mystik,
dem Buch der Schöpfung, dem Buch Rasiel, dem Buch Bahir,
von Asriel von Gerona, dem Sohar, von Moses Cordovero, von
Chajjim Vital, Israel Baal Schern, Baruch von Miedzyborz,
Schneur Salman von Ljadi und zuletzt Abraham Isaak Kook
(1 865—1935), der in einer neuen Weise Gott, Volk und Land
Israel durch Heiligkeit zu mystischer Einheit führt. Ein kurzes
Kapitel gilt der Aufklärung und Emanzipation, beginnend mit
Moses Mendelssohn und endend bei den Vätern einer modernen
Ausprägung der Zionshoffnung. Beschlossen wird die Darstellung
durch einen Abschnitt, Neues jüdisches Denken überschrieben
, an dem etwas von der Vielschichtigkeit des Judentums
der Neuzeit sichtbar werden kann: einerseits führt der
Weg zum Land Israel zurück, wo mit der Eröffnung der Hebräischen
Universität der Beginn einer neuen jüdischen Epoche
markiert zu sein scheint, andererseits steht neben Theodor Herzl,
dem Begründer des politischen Zionismus, ein Mann wie Hermann
Cohen als ein typischer Vertreter eines Diasporajudentums
, das den Zionismus nicht verstehen konnte. Vielleicht
hätte neben Bialik und Bergmann auch noch Achad Haam
(A. Ginzberg) aufgenommen werden sollen. Aber im Ganzen
rundet sich trotz der Mannigfaltigkeit und Sprödheit des
Materials alles meisterhaft zur Einheit, wenn am Ende des
langen Weges, der über viele Höhen wie die Symbiosen mit
hellenistischem, spanischem und deutschem Geist, aber auch
durch erschütternde Tiefen führte, neben dem Berliner Philosophen
Julius Guttmann das Dreigestirn deutsch-jüdischer Theologie
in den Namen Franz Rosenzweig, Leo Baeck und Martin
Bubcr aufleuchtet.

In beiden Auswahlbänden erscheinen teils bekannte, teils
aber auch schwer zugängliche Texte aus allen Epochen der jüdischen
Geschichte. Bei aller Gemeinsamkeit der Fragestellung und
Zielsetzung wurden die Akzente durch die beiden Herausgeber
doch so verschieden gesetzt, daß sich kaum Überschneidungen
ergeben, sondern die beiden Bücher einander aufs beste ergänzen
. Bei Geis und bei Wilhelm gehen den einzelnen Kapiteln
größere Einleitungen voran, die jeweils zum Gesamtverständnis
hinführen; knappe Sätze bei den Unterabschnitten bringen
Wissenswertes über die Verfasser oder Erläuterndes aus jüdischem
Brauditum. Über die benützte Literatur wird Auskunft
gegeben; bei Wilhelm findet sich auch ein Hinweis auf wichtige
Literatur für weiteres Studium, jeweils mit einer kurzen
Charakterisierung des betreffenden Werkes.

Tübingen Reinholrl Mayer