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Ausgabe:

1964

Spalte:

262-263

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kahle, Paul

Titel/Untertitel:

Die Kairoer Genisa 1964

Rezensent:

Eissfeldt, Otto

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Theologische Litcraturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 4

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bestehende Spannung deutlich werden, wie sie bestand zwischen den
mit sakralen Menschenopfern verbundenen Kulten polytheistischer
Götter einerseits und andererseits einer vertieften Religiosität und
humanen Kultpraxis, für die die Gestalt Quetzalcoatls* — aber
nicht sie allein — so bezeichnend war. Gewiß hätte der Herausgeber
nicht den Versuch unternehmen sollen, allein aus der Teilübersetzung
Seiers eine verkürzte Auswahl zu treffen. Denn wenn jene auch ungleich
weniger einseitig ist als das vorliegende Buch, so bietet doch
zweifellos auch 6ie keine repräsentative Auswahl der Quellen. Was
jedoch

angesichts der Pioniertat, die Seier seinerzeit vollbrachte, wie
auch im Hinblick darauf verständlich ist, daß ihn tragische Umstände
die Verwirkli chung seines Planes einer Gesamtübersetzung Sahagüns
nicht ausführen ließen, kann heute, wo uns weitere, sehr reiche
Quellentexte und -Übersetzungen zugänglich sind, nicht mehr entschuldigt
werden.

Wenn man das, was der Herausgeber an Kommentierung seiner
Texte leistet, etwa vergleicht mit den Erläuterungen, die Wolfgang
Cordan seiner annähernd gleichzeitig erschienenen Übersetzung des
heiligen Buches der Maya, des Popol Vuhs, beifügt, so erkennt man
hier die Beschränkung auf spärlichste Angaben. Seine auf den Seiten
313 bis 317 gegebenen Erläuterungen, die durchweg unter dem Gesichtspunkt
beurteilt werden müssen, daß sie sich an Laien wenden,
unterteilt der Herausgeber in ein „Nachwort" und eine „Lesehilfe".

Das Nachwort ist nicht fehlerfrei. So lautet der Titel von
Sahagüns Werk nicht — wie S. 313 angegeben — „Historia
universal . . .", sondern „Historia general de las cosas de
Nueva Espana". — Auf S. 315 wird die Behauptung aufgestellt,
das spanische Wort für „Teufel" sei in der Form tiablo als
Fremdwort ins Aztekische aufgenommen worden. Tatsache ist,
daß zunächst von den christlichen Klerikern die korrekte spanische
Form diablo in die aztekische Missionsrede eingeführt
wurde, und daß für die Aztekisierung des Wortes sehr viel
weniger die Form tiablo charakteristisch ist als der Gebrauch
des aztekischen Plurals, der statt des spanischen diablos das
aztekische diablome bildet. Seine weitere Behauptung, die
Azteken hätten beim Diktat vor den Missionaren keine andere
Bezeichnung für ihre Götter als „Teufel" gewagt, hätte der
Herausgeber leicht durch einen Blick auf die aztekischen Texte
Sahagüns korrigieren können; denn in ihnen finden sich bei
Schildeningen der aztekischen Religion sehr häufig das genuin
aztekische Wort für „Gott" — teotl — und mit teotl zusammengesetzte
Komposita. — Schließlich ist es schwer verständlich, daß
der Herausgeber im Nachwert als einzige weiterführende Literatur
Seiers „Gesammelte Abbandlungen zur amerikanischen
Sprach- und Altertumskunde" nennt, übrigens nur in der alten,
längst vergriffenen Auflage und nicht im leicht zugänglichen
Neudruck6. Denn diese Abhandlungen, die sidi in überwiegendem
Maße als äußerst spezialisierte Einzeluntersuchungen
nur an den Fachmann wenden, können dem Laien kaum Hilfen
bieten.

Die „Lesehilfe", die nur etwas über eine Druckseite ausmacht
, ist flüchtig zusammengestellt und läßt zu vieles vermissen
. Eine Anleitung zur Aussprache des Aztekischen wäre
wünschenswert gewesen. Vor allem hätte auf die uneinheitliche
Orthographie aufmerksam gemacht werden müssen; wenn im
Text drei verschiedene Schreibungen des Namens Texcoco
vorkommen, kann der Laie nicht wissen, daß jedesmal derselbe
Ort gemeint ist. Vieles, was dringend der Kommentierung bedurft
hätte, fand keine Aufnahme in diese „Lesehilfe". Aber
auch dort, wo Erläuterungen gegeben werden, sind sie oft unvollständig
und anfechtbar. Ich greife zwei Beispiele heraus. Bei
Quetzalcoatl steht die alte astralmythologische Sicht ganz im
Vordergrund; sie kann heute, besonders auf Grund der
Schilderungen der Vita dieses toltekischen Priesterfürsten in der
„Geschichte der Königreiche von Colhuacan und Mexico." in
dieser Weise nicht mehr aufrecht erhalten werden. Für Xipe
Totec wird die frühere Übersetzung „unser Herr der Geschundene
" gegeben. Aber grammatisch enthält die aztekischc
Namensform kein passivisches Element, und sachlidi sind die

*) Vgl. GünterLanczkowski, Quetzalcoatl - Mythos und
Geschichte, in: Numen 9, 1962, S. 17—36.

°) Wolfgang Cordan, Das Buch des Rates. Popol Vuh, aus
dem Quiche übertragen und erläutert. Düsseldorf-Köln 1962.

") Graz 1960— 1961.

Vertreter Gottes, die Xipeme, bei kultischen Dramatisierungen
keine Erleidenden. Richtig ist vielmehr die Übersetzung „unser
Herr der Schinder"7.

Bei der Durchsicht der vorliegenden Publikation zeigt es
sich wieder einmal, daß die Herausgabe übersetzter religionsgeschichtlicher
Quellen kein leichtes, sondern ein schweres und
verantwortungsvolles Werk ist, das vom Herausgeber umfassende
Sachkenntnisse und eine gründliche philologische Vertrautheit
mit der Sprache der Originaltexte fordert.

Heidelberg Günter La n c z k o w s k i

') Vgl. Leonhard Schultze Jena, Wahrsagerei, Himmelskunde
und Kalender der alten Azteken (Quellenwerke zur alten Geschichte
Amerikas, Bd. IV), Stuttgart 1950, S. 395 (Analytisches Wörterverzeichnis
).

Eidlitz, Walther: Die unverhüllte Bhakti. (UUÄ 12, i960 S. 55
—80).

Holsten, Walter: Religiöse Welle? — (VF 1960/62, S. 1—27).

ALTES TESTAMENT

Kahle, Paul E.: Die Kairoer Genisa. Untersuchungen zur Geschichte
des hebräischen Bibeltextes und 6einer Übersetzungen. Deutsche
Ausgabe bearb. und durch den Druck geführt von R. Meyer.
Berlin: Akademie-Verlag 1962. XV, 404 S., 10 Taf. gr. 8°. Lw.
DM 78.-.

Unter der Überschrift „Literarische Schätze aus der Geniza
der alten Synagoge in Alt-Kairo. Paul Kahles Untersuchungen
über Text und Übersetzungen der hebräisdien Bibel" hat ThLZ
73, 1948, Sp. 29—34 ausführlich über das aus den Schweich Lec-
tures of the British Academy von 1941 hervorgegangene Buch
Paul Kahles „The Cairo Geniza, London, Oxford Univcrsity
Press, 1947" berichtet. Angesichts der großen Bedeutung, die
diesem Buch als meisterhafter Darstellung der Geschichte des
Textes der hebräisch-aramäischen Bibel und ihrer alten Übersetzungen
zukommt, wurde schon damals eine deutsche Bearbeitung
von ihm in Aussicht genommen, der Jenenser Alttesta-
mentler und Semitist Rudolf Meyer mit ihr betraut und diesem
ein von Kahle verfaßter Übersetzungsentwurf zur Verfügung
gestellt. Die sich nach dem Ende des zweiten Weltkrieges in
schneller Folge häufenden Neufunde von alten Bibeltexten aller
Art, unter denen die in den Qumran-Höhlen zu Tage gekommenen
Rollen und Rollen-Fragmente an erster Stelle stehen,
und die durch sie gewonnenen neuen Einsichten in den Werdegang
des alttestamentlichen Textes machten indes sehr bald
eine Umgestaltung der englischen Ausgabe und damit auch des
auf deren Urform beruhenden Übersetzungsentwurfes nötig. Die
Second Edition von The Cairo Geniza, die 1959 herauskam,
enthielt denn auch mehrere neue, durch die Qumran-Funde
veranlaßte Abschnitte, so „The Midrash-Book from Qumran 1"
( = „Der Genesis-Midrasch von Qumran"), „Fragments from
Qumran 4" ( = „Fragmente aus der vierten Höhle von Qumran
"), „The Leather Scroll of the Greek Minor Prophets"
( = „Die Lederrolle mit dem griechischen Dodekapropheton"),
«nd hätte sich mit gutem Recht „The Cairo Geniza and the
Qumran Caves", was dem deutschen Titel „Die Kairorer Geniza
und die Qumraner Höhlen" entsprechen würde, nennen können
. Es ist also die zweite Edition von „The Cairo Geniza",
die der vorliegenden deutschen Übersetzung des Werkes zu-
grundcliegt. Hier und da führt diese gar über das Original hinaus
, indem sie einzelne, nach dessen Erscheinen gewonnene
Erkenntnisse berücksichtigt. Abgesehen von den so bedingten
Änderungen, wie sie die deutsche Ausgabe dem englischen
Original gegenüber bringt, unterscheidet sie sich von diesem
in den folgenden Punkten: 1) Dem ins Deutsche übersetzten
englischen Vorwort Kahles zur zweiten Ausgabe (S. VI—IX)
ist eine Vorbemerkung Meyers, die über den Werdegang der
deutschen Ausgabe berichtet (S. X—XII), hinzugefügt; 2) In den
vier Anhängen - „Novelle 146 vom Jahre 553" (S. 335-337),
„Die Aussprache des Hebräischen bei den Samaritanern" (S. 338
—3 56), „Ein palästinisch-tiberischer Text der hebräischen Bibel"
(S. 357—366) und ,,A1-Farrä' (gestorben 821) über die Koran-