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Ausgabe:

1964

Spalte:

259-262

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sahagún, Bernardino de

Titel/Untertitel:

Das Herz auf dem Opferstein 1964

Rezensent:

Lanczkowski, Günter

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259

Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 4

260

Gewissenhaftigkeit gedankt, mit der er seine Aufgabe gemeistert
hat. Zugleich sei er zur Fertigstellung des großen Werkes
aufrichtig beglückwünscht.

Tübingen RudiParet

Jahn, Janheinz: Das Herz auf dem Opferstein. Aztekentexte, ausgewählt
u. m. einem Nachwort versehen. Aus d. Ursprache übertr.
v. Eduard Sei er. Köln: Kiepenheuer & Witsch [1962]. 319 S.,
6 Farbtaf. 4°. Pp. DM 34.80.

Die spanischen Conquistadoren, die unter der Führung
des Hernando Cortes Mexiko eroberten, erblickten in ihrem
Abscheu sowohl vor dem Polytheismus der Azteken als auch
vor deren kultischer Praxis der sakralen Menschenopfer einen
Rechtstitel für eine brutale Zerstörung der Zeugnisse aztekischer
Religon und Kultur. Ganz anders verhielten sich die ersten
im Gefolge der Conquista nach Mexiko kommenden christlichen
Missionare geistlichen Standes, die Angehörige des Franziskanerordens
waren. Unter ihnen herrschte die damals am
spanischen Hofe höchst umstrittene Auffassung, daß die christliche
Geistlichkeit jede Hispanisierung zu vermeiden, die Indianer
in vertrauten Worten anzusprechen und sich deshalb die
genaueste Kenntnis aztekischer Bräuche und Überlieferungen zu
erwerben habe. Ein diesen Zwecken dienendes Zentrum der
Franziskaner für das Studium aztekischer Religion, Kultur und
Sprache war das Kollegium von Santa Cruz in Tlatelolco, der
Schwesterstadt Mexikos, und die beherrschende Gestalt dieser
Forschungsstätte war in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
der Franziskanerpater Bernardino de Sahagün. Sahagun arbeitete
nach einer Methode, die noch für die moderne ethnologische
Feldforschung vorbildlich ist, wenn er Vertreter der geistigen
Oberschicht der Azteken, Priester und Adlige, aufforderte,
seinen indianischen Zöglingen, die er lateinische Schrift und
spanische Sprache gelehrt hatte, ihre alten Überlieferungen aus
vorspanischer Zeit in aztekischer Sprache zu diktieren. Dem
literarischen Riesenwerk, das aus diesen Niederschriften hervorging
, verdanken wir in erster Linie unsere Kenntnisse von
Religion, Kultur und Sprache der Azteken. Die von Sahagun
zusammengestellten Texte konnten damals die 6charfe Zensur
des Consejo de las Indias nicht passieren, und sie lagen dann
jahrhundertelang unzugänglich und vergessen in den Archiven
von Madrid und — in einer gekürzten Zweitschrift — in der
Biblioteca Laurenziana zu Florenz.

Es gehört zu den großen Verdiensten Eduard Seiers, des
eigentlichen Bahnbrechers und Beginners der modernen Altamerikanistik
, Teile dieses Werkes erstmals ins Deutsche übertragen
zu haben. Diese Teilübersetzung wurde, zusammen mit
dem zugrundeliegenden aztekischen Originaltext, posthum von
Seiers Witwe, Caecilie Seier-Sachs, in Gemeinschaft mit Walter
Lehmann und Walter Krickeberg im Jahre 1927 veröffentlicht1;
dem Charakter dieser Publikation, die inzwischen vollständig
vergriffen ist, entsprach es, daß sie sich vornehmlich
an den Fachwissenschaftler wandte. Von diesen Übersetzungen
Selers hat Janheinz Jahn in dem vorliegenden Buche eine Auswahl
zusammengestellt und in einer bibliophil höchst ansprechenden
, daher aber auch nicht billigen Form publiziert.
Der Herausgeber, der sich bislang mit der Behandlung von
Themen aus dem Bereich der Negerkulturen Afrikas und Amerikas
unbestreitbare Verdienste erworben hat2, wagt sich
damit erstmals auf das Gebiet der Altamerikanistik.

Es bedarf keiner Frage, daß eine sich an einen größeren
Leserkreis wendende Bekanntgabe übersetzter aztekischer Texte
zur Religion des alten Mexiko an sich sinnnvoll ist, ja daß
sie für denjenigen Religionswissenschaftler, der des Aztekischen
unkundig ist, geradezu eine Notwendigkeit darstellt. Denn ohne
die Quellen sind die für systematische ireligionswissenschaft-

*) Eduard Seier, Einige Kapitel aus dem Geschiditswerk des
Fray Bernardino de Sahagun, aus dem Aztekischen übersetzt, hreg. von
Caecilie Seier-Sachs in Gemeinschaft mit Walter Lehmann und Walter
Krickeberg, Stuttgart 1927.

2) Vgl. Janheinz Jahn, Schwarzer Orpheus, München 195 5;
Schwarze Ballade, Düsseldorf 19 57; Rumba Macumba, München 1957;
Muntu, Düsseldorf 1958.

liehe Fragestellungen höchst aufschlußreichen und oft unabdingbar
notwendig heranzuziehenden Phänomene der aztekischen
Religion nicht zu begreifen, die Reaktion, die ihre Kenntnisnahme
in der europäischen Epoche des Zeitalters der Entdeckungen
auslöste, ist nicht gerecht zu erfassen und vor allem
entzieht sich die gegenwärtig aktuelle Erscheinung der syn-
kretistischen sog. „Mischreligion" Mexikos einer tiefergreifenden
Analyse. Dieser bemerkenswerten Bedeutung der alt-
mexikanischen Religion steht aber die sehr auffällige Tatsache
gegenüber, daß religionsgeschichtliche Lesebücher die aztekische
Religion fast immer ganz außer acht lassen; auch die 2. Auflage
des von Alfred Bertholet herausgegebenen „Religionsgeschichtlichen
Lesebuchs", der auf diesem Gebiete noch immer besten
Publikation in deutscher Sprache, widmet in dem Heft über
Amerika3 nur wenige Seiten den aztekischen Quellen.

Es ist zu fragen, ob die vorliegende Publikation diese Lücke füllt
und den an 6ie zu stellenden Anforderungen genügt. Daß der Herausgeber
die vorbidliche Übersetzung Seiers wörtlich übernimmt, kann
an sich nicht beanstandet werden; auch der Fachmann wäre geneigt'
nur in Fußnoten einige wenige abweichende Ansichten vorzutragen.
Aber es muß doch recht seltsam anmuten, wenn audi Druckfehler aus
dem Übersetzungstext Seiers unbesehen übernommen werden. So findet
sich bei Seier auf S. 439, was bei Jahn auf S. 291 in genau derselben
Weise wiederkehrt, nämlich: „Tlacopan (heute Tacuha)". Für de»
Herausgeber hätte ein Blick auf den bei Seier nebenstehenden aztekischen
Text genügt, um den Fehler bei der Wiedergabe der für jeden
Kundigen auffälligen Form Tacuha sofort zu entdecken; denn dort
steht die Form tlacuban, die gegenüber dem älteren tlacopan den
unter spanischem Einfluß sich vollziehenden Lautwandel vom stimmlosen
zum stimmhaften Labial — nicht aber zu h — deutlich werden
iäßt und im vorliegenden Fall zu der heutigen Form Tacuba führt,
dem Namen eines Vorortes der Stadt Mexiko. — Noch merkwürdiger
berührt das folgende: Eine Reihe von Fußnoten sind bei Jahn mit
,,D. H." gezeichnet, woraus der unbefangene Leser auf Mitteilungen
von Erkenntnissen dieses Herausgebers schließen wird. Tatsächlich findet
sich dieses „D. H." bereits jeweils am Ende der gleidilautenden
Fußnoten der Selerschen Publikation, und es bezieht sich bereits auf
die Herausgeber dieses Textes 1

Das sind charakteristisdie Einzelheiten. Im ganzen werden bei
einer Ausgabe, die eine vorliegende Übersetzung übernimmt, die Auswahl
der Texte und deren Kommentierung durch den Herausgeber als
Prinzipien der Kritik zu gelten haben.

Der Untertitel des Buches — „Aztekentexte" —, das Nachwort,
in dem der Herausgeber auf S. 314 seine Auswahl als „die interessantesten
Stücke" bezeichnet, sowie die Ankündigung auf dem
Schutzumsdilag müssen beim Laien den Eindruck erwecken, es handele
sich um eine repräsentative, für die aztekische Religion generell
typische Auswahl. Jahn hat neben den Vorschriften für die Erziehung
der männlichen Jugendlichen im kriegerischen Jungmännerhaus
(telpochcalli) und im priesterlichen Kloster (calmecac) vor allem
funeräre Texte und Kultformulare abdrucken lassen, außerdem das
berühmte 12. Buch Sahagüns, das von der Eroberung Mexikos durch
die Conquistadoren handelt. Er bricht dieses Buch, das 41 Kapitel
zählt, allerdings nach dem 23. Kapitel ab, womit er dem Leser Berichte
über Quauhtemoc vorenthält, die angesichts der besonders
hohen Wertschätzung, die dieser letzte aztekische König gerade im
heutigen Mexiko genießt, wichtig sind.

Noch wesentlicher ist die Auswahl der spezifisch religiösen Texte.
Daß die Festformulare in aller Ausführlichkeit geboten werden, rechtfertigt
zwar den zugkräftigen Haupttitel der vorliegenden Publikation
, muß aber ermüdend auf den Nicht-Spezialisten wirken, der die
charakteristischen Unterschiede einzelner Feste nicht leicht erkennen
kann und dem vor allem keine Hilfen geboten werden, um den jeweiligen
numinosen Bezug zu durchschauen, die Verbindung, in der die
Riten zu den Eigenschaften des im Mittelpunkt des jeweiligen Festes
verehrten Gottes stehen.

Vor allem aber ist diese Bevorzugung der Feste ganz einseitig.
Der Leser erfährt so gut wie nichts von der reichen Mythologie der
Azteken, ihrer äußerst interessanten Geschichtstheologie, ihrer Ethik
und den vergeistigten Formen einer Religiosität, die im Widerspruch
zu den offiziellen Kulten stand. Da diese Quellen keine Aufnahme
fanden, erweist sich die vorliegende Auswahl als einseitig und ungerecht
. Denn sie läßt in keiner Weise die für ein echtes Verständnis
der aztekischen Religionsgeschichte wesentliche und bis zum Abbruch
ihrer eigenständigen Entwicklung durch die Conquista unausgeglichen

8) Konrad Theodor Preuß, Die Eingeborenen Amerikas
(Religionsgeschichtliches Lesebuch, 2. Aufl., Heft 2), Tübingen 1926.