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1964

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 3

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echte Erweckung sehen, vielmehr ist die Losung „panem et
circen«es" zur Parole „religionem et circenses" geworden (73).
Die moderne Durchschnittsreligiosität ist weder Glaube noch
Engagement, sondern Flucht. Man kann aber Gott nicht zum
menschlichen Artikel degradieren. Auch eine neue „Christliche
Kultur", wie sie der Neothomist Maritain (vielleicht auch
Eliot) erstrebt, ist von vornherein ein vergeblicher Versuch, die
Sache zu retten. Das Christentum hat es nicht nötig, toleriert
zu werden; es verträgt deswegen auch nicht die Unterordnung
der Religion unter die Kultur. Die geistige Situation — so
meint der junge Kulturkritiker — schwingt zwischen zwei
Polen, bzw. jeweils zwischen zwei Sätzen, dem christlichen:
,,Gott ist, deshalb ist alle6 Gnade" und dem des modernen
Menschen: „Alles ist Gnade, deshalb ist Gott tot" (106 f.).

Der zweite Teil, in dem V. die „kulturelle A g o-
n i e" des Christentums untersucht, geht von der „Abwesenheit
Gotte6" aus. „Dieses Zeitalter ist nachchristlich nicht nur theologisch
, ßondern auch kulturell gesehen" (139). Der heutige
Mensch denkt in der Kunst, der Wissenschaft, der Ethik und
nicht zuletzt in der Politik immanent und nicht mehr transzendent
. Selbst die „Menschenrechte" haben Gottes erlösenden
Bund abgeschafft, und die Demokratie hat die Gemeinschaft
der Heiligen vertrieben (142). „Die westliche Kultur ist für das
Christentum zu christlich, um von ihr losgelöst zu werden;
gleichzeitig ist sie nicht christlich genug dafür, daß ihr Schicksal
mit dem der Christenheit besiegelt wird" (162). „Offenbar
liegt die Not unserer Gegenwart nicht in einer Krise der
Autorität, sondern in einer Krise des Glaubens" (164). Freilich

— man kann die amerikanischen Beispiele bei V. studieren; es
läßt sich aber auch schon in Europa aus der Nähe beobachten,

— das Vermächtnis der Christenheit scheint seine Selbst-Un-
gültigmachung zu sein: eine Mehr und Mehr - Weniger und
Weniger - Religion, oder gar eine Weniger und Weniger - Mehr
und Mehr - Religion entsteht. Zum Schluß glaubt man an den
Glauben (195 ff.). Das aber ist das Ende. Kein Wunder, daß
man nun im „Existentialismus" die Konsequenz aus dem Tode
Gottes zieht. In der Auseinandersetzung mit Bultmanns implizierten
und Tillichs explizierten „Fragen", die beide eine
Korrelation zwischen dem fragenden Menschen und dem antwortenden
Gott suchen, unterstreicht der Verfasser den Tatbestand
, daß der Existentialismus mit säkularen Themen einige
Aspekte der tragischen Sündersituation des Menschen vor Gott
umschreibe: „Aber das ist eine Tragödie ohne Helden und ohne
Märtyrer. Es ist eine Tragödie ohne das tragische Element"
(227).

Die wenigen Andeutungen zeigen, was für ein hervorragender
Zeitkritiker V. ist, welche geistvollen Lichter der in
der modernen Literatur wohl belesene Verfasser (Mc Leish,
Camus, Sartre, Becke« sind seine liebsten Autoren) aufzusetzen
weiß, aber auch, wie sehr er sich der neueren europäischen
Theologie erschlossen hat. Manche dialektischen Linien werden
zwar etwas überzeichnet, — aber sie machen, abgesehen von
dem calvinistischen Erbe des Verfassers, auch deutlich, was der
Zusammenprall einer kritischen Theologie mit einer Welt wie
der Amerikas bedeutet. Mit Dankbarkeit dürfen wir feststellen,
daß sich dort vieles geistlich und theologisch gewandelt hat.
Unser theologischer Kolonialismus in Europa ist vom Übel!
Bald werden die europäischen Theologen von drüben zu lernen
haben. Offenbar kennt V. von dem ihm im Grundsätzlichen
nahestehenden Bonhoeffer nur einiges: fremd 6ind ihm jedenfalls
die Tegeler Briefe, die von der „religionslosen" mündigen
Welt sprechen und die seine These „Unser Zeitalter ist nachchristlich
, aber immer noch religiös" (230) hätte noch weiter
kritisch klären können. Jedenfalls bedarf Vs. Anschauung, die
Christenheit hätte einen Punkt erreicht, an dem „es keine Rückkehr
" mehr gäbe (229), der Oberprüfung. Wird damit das
Eschaton nicht vorweggenommen? Wenn er findet, jedes Zeitalter
sei theologisch gesehen „nachchristlich", aber das unsere
sei es eben auch in kultureller Hinsicht, so ist zwar etwas
Wahres daran, — aber die Verallgemeinerung gibt dennoch zu
denken. Deswegen hat sich auch Tillich jüngst mit Recht gegen
die allzu schnelle Etikettierung unserer Zeit als „nachchristliche

Ära" gewandt. Könnte doch, wie der Autor des Romans „Der
Mann ohne Eigenschaften", Robert Musil, einmal gesagt hat,
„der gott-lose Weg vielleicht der legitime Weg zu Gott" sein,
und im übrigen hängt ja nicht wenig von dem Verhalten der
„Kirche" (die bei V. merkwürdig kurz kommt) ab, wie sie
nämlich auf die Probleme ihrer Zeit reagiert und wie sie ihren
Zeitgenossen die Fragen und Antworten des Evangeliums relevant
zu machen versteht.

Hofgeismar Werner Jentsch

Schoeps, Hans-Joachim: Blaise Pascals Bild vom Menschen (Wege

zum Menschen 15, 1963 S. 212—215).
W i s s c r, Richard: Friedrich Nietzsche — Auf der Suche nach Wesen

und Gestalt seines Denkerlebens (Universitas 18, 1963 S. 967—979).

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Dilschneider, Otto A.: Christus Pantokrator. Vom Kolosserbrief
zur Oekumene. Berlin: Käthe Vogt Verlag [1962]. 245 S. 8*.

Wie schon der Untertitel zu erkennen gibt, handelt es 6icb,
bei diesem jüngsten Werk des Berliner Systematikers um eine
Art Prolegomena zu einer „Theologie der Oekumene" mit dem
Kolosserbrief als „Ausgangsstellung" (S. 29 f.). Das Unternehmen
ist darum, wie der Verfasser selbst vorsichtigerweise anmerkt
, „ausschließlich" als ein systematisches zu verstehen, „auch
wenn es unter dem äußeren Anschein von Exegese geschieht"
(S. 26).

Die Grundthesen, die den systematischen Denkprozeß bestimmen
, sind freilich exegetischer Natur und deshalb auch exegetisch
zu verantworten. Die eine Grundthese betrifft das Verhältnis
des Kolosserbriefes zu Paulus. Dilschneider lehnt seine
heute üblich gewordene Kennzeichnung als Deuteropauline ab
und spricht statt dessen von „Spätpaulinismus" (S. 27 f.). Der
Ausdruck will nicht unbedingt besagen, daß dieses religiöse
Dokument samt dem mit ihm verwandten Ephcserbrief Paulus
zum Verfasser habe, wohl aber, daß es „in unmittelbarer Nähe
des Apostels entstanden" sein müsse und die volle Ausreifung
seiner großen theologischen Konzeption darstelle. Diesen Spätpaulinismus
hält nun der Verfasser „für die künftige Theologie
für entscheidend" (S. 29), weshalb er bei seinem eigenen Entwurf
im Dienst einer oekumenischen Theologie beim Kolosserbrief
einsetzt.

Die zweite Grundthese bezieht sich auf die Christologie
des „Spätpaulinismus", die Dilschneider im Hymnus von Kol. 1,
15—20 klassisch verkörpert sieht, die aber schon in Phil. 2, 5—11
begegne und auch in Eph. 1, 3 — 14 vorliege. Sie lasse sich am
besten durch das Attribut „pleromatisch" kennzeichnen und sei
„äonologisch" aufgebaut (S. 36). Das heißt, diese Christologie
gründe in einem universalen heilsgeschichtlichen Ablauf („präexistenter
" Christus vor der Schöpfung, „inexistenter" (!) Christus
als historischer Jesus, „postexistenter" Christus nach Pfingsten
) „und erfasse das Ganze des Kosmos von der Schöpfung bis
zur Neuschöpfung" (ebd.). In ihr spreche sich somit das Kerygma
von dem die Fülle des Kosmos in seine Herrschaftsmacht einbegreifenden
„Christus Pantokrator" aus, wie es im abendländischen
Christentum wegen seiner einseitig am früheren Paulus
orientierten „ Peccatoraltheologie" in Vergessenheit geraten,
aber als Geheimnis in der Ostkirche noch lebendig sei (S. 33 f.).

Im Folgenden geht es Dilschneider darum, den Kolosserbrief
als hervorragendes Dokument des Spätpaulinismus auf
seine großen Themen hin abzuhören und ihre theologische
Fruchtbarkeit heute aufzuweisen. Diese Themen sind nach seinen
eigenen Worten: „Die Christologie des Christus Pantokrator,
das Zeugnis von der Kirche als einer Wirklichkeit des Heiligen
Geistes und die Gestaltwerdung christlicher Existenz" (S. 227).
Aus ihnen ergeben sich die Hauptabschnitte des Dilschneider-
6chen Buches: Christus und die Welt (Christologie), Christus und
die Kirche (Ekklesiologie), Christus Pantokrator und der Mensch
(Soteriologie). Schon diese Reihenfolge, die theologisch dem
Duktus des Kolosserbriefes gerecht werden will, ist für den Verfasser
Programm. Sie wehrt durch den Vorrang der Kirche vor
dem Heil des einzelnen nicht nur „einem voreiligen Heilsindividualismus
", sie bringt auch insgesamt zum Vorschein,