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Ausgabe:

1963

Spalte:

135-138

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lengsfeld, Peter

Titel/Untertitel:

Überlieferung 1963

Rezensent:

Schweitzer, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 2

136

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Lengsfeld, Peter: Überlieferung. Tradition und Schrift in der
evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart. Paderborn
: Bonifacius - Druckerei [i960]. 263 S. gr. 8° = Konfcssions-
kundliche und kontroverstheologische Studien, hrsg. v. Johann-
Adam-Möhler-Institut. Bd. III. Lw. DM 16.—.

Man wird dem Verf. dieser, von der päpstlichen Universität
Gregoriana in Rom angenommenen Dissertation gern bestätigen,
daß er «ich um einen ehrlichen Beitrag zur Verständigung zwi-
idien den Konfessionen bemüht hat. Und doch ist der Gesamteindruck
sehr zwiespältig; am Schluß hat man den Eindruck: es
ist nur wenig, sehr wenig erreicht worden. Vielleicht läßt sich
auch zur Zeit nicht mehr erreichen, als daß die Gegensätze an
den falschen Stellen abgebaut werden — und dafür an andern
sichtbar werden.

Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert: I. Das Traditionsproblem
gestern. II. Paradosis im NT. III. Der Kanon des NT
— ein Werk der Tradition? IV. Das Schriftprinzip — eine Leugnung
der Tradition? V. Der Traditionsgedanke bei R. Bultmann.
VI. Das Traditionsproblem heute (dies ist eine kurze Zusammenfassung
der Ergebnisse).

Verstreut über diese Kapitel werden zahlreiche evangelische
Theologen vernommen: von Althaus über Asmussen,
Barth, Bonhoeffer, E. und P. Brunner zu Bultmann und Buri,
v. Campenhausen, Cullmann, Diem (dieser wird S. 180 irrtümlich
den Reformierten zugeordnet), Dinkler, Ebeling usw. usw.:
Diese Fülle wird dem Buch teilweise zum Verhängnis, wie das
ja bei Dissertationen leicht geschieht. Die Auseinandersetzung
mit einigen wenigen Autoren wäre wohl fruchtbarer gewesen,
so gern man dem Verfasser bescheinigt, daß er durchweg zutreffend
, keineswegs nur oberflächlich referiert. Besonderes Gewicht
fällt mit Recht auf die Auseinandersetzungen mit Barth
und Bultmann; aber auch hier erreicht er nicht das Niveau anderer
katholischer Arbeiten.

Im Blick auf Barth versucht der Verf. Übereinstimmungen
zu ermitteln, wo dieser sie nicht erwartet, unternimmt also
etwas Ähnliches wie es H. Küng in seinem Buch über die Rechtfertigung
getan hat. Dem theologischen Grundgedanken
K. Barths, daß „Gott sich in der Person Jesu oder Jesus als der
Sohn Gottes sich selbst zum Gegenstand der Überlieferung
machte" 6timmt er „ohne Einschränkung" zu (S. 25). Es handelt
sich um Äußerungen aus KD 11,2, S. 5 36 ff. „Im Gegensatz zu
Barths beißender und unversöhnlich kritisierender Polemik
KD I, 2, S. 607-637 gegen die katholische (bzw. vermeintlich
katholische) Traditionslehre läßt sich hier schon leichter ein
Gespräch anknüpfen" (S. 50, Anm. 59). Gibt das Buch aber Anlaß
genug, jene Polemik zu widerrufen? Das scheint mir leider
nicht der Fall zu sein, so mutig und „fast nicht mehr katholisch
" manche Äußerungen des Verfs. sind: sie werden durch
andere aufgewogen, die die Problematik eher noch verschärfen.

Mehrfach erklärt der Verf., daß das verschiedene Kirchenverständnis
das eigentliche Problem bei der Bestimmung des
Verhältnisses von Schrift und Tradition ist. Darin hat er sicher
recht. Bei der Lektüre dieses Buches wird man aber noch ein
ergänzendes Thema dazu nennen müssen, dessen Bedeutung der
Verf. nicht so hervorhebt (es klingt freilich hier und da an):
es ist eine verschiedene Auffassung vom Wesen der Schrift und
ihrer Autorität. Um zunächst ein Schlagwort zu gebrauchen:
sein Schriftverständnis bleibt gesetzlich. Die Schrift ist für ihn
ein Text, der wie ein Gesetzestext der Auslegung bedarf: nicht
zufällig wird mehrmals dies zum Vergleich herangezogen (z. B.
S. 167, S. 195 f.).

Dem Verf. liegt daran, uns deutlich zu machen, daß auch
nach katholischer Lehre die Kirche mit ihrer lebendigen Tradition
keine andere Aufgabe habe als die der Auslegung der
Schrift, daß sie also keineswegs ihre eigene Autorität neben die
der Schrift zu stellen gedenke. „Die Kirche" habe sich niemals
„mit der Offenbarung identisch erklärt" (S. 108), deshalb konnte
«ie auch ihre Tradition nicht der Schrift gleichsetzen. Wie steht
es dann mit der berühmten Formulierung des Tridentinums
„hanc veritatem et diseiplinam contineri in libris scriptis et

sine scripto traditionibus" (D 783)? Verf. folgt mit Nachdruck
den Interpreten, die sich dagegen wehren, dieses „et" im Sinne
von „partim-partim" zu verstehen (so daß also die Offenbarung
teils in der Schrift, teils in der Tradition zu finden, beide aUo
gleichwertig nebeneinander zu stellen seien). Nach Geiselmann
und anderen ist nämlich jenes „et" an die Stelle eines vorher
in der Diskussion erwähnten „partim-partim" getreten. Daraus
müsse gefolgert werden, daß das Konzil in der Frage der Schrift-
suffizienz „gar keine Entscheidung" habe fällen wollen, sondern
„bewußt alles offen" gelassen habe (S. 120). Verf. muß freilich
einräumen, daß nach dem Konzil das „et" praktisch überwiegend
im Sinne von „partim-partim" ausgelegt wurde, und daß
auch heute noch innerhalb der katholischen Theologie heftiger
Widerspruch gegen Geiselmanns Interpretation geübt wird, und
zwar sowohl mit historischen als auch mit dogmatischen Gründen
. Lengsfeld selbst liegt vor allem an der Zusammengehörigkeit
von Schrift und Tradition, wobei er der Tradition „im
wesentlichen" die Funktion zuschreiben möchte, „in die Schrift
einzuweisen und sie zu entfalten" (S. 126).

Nun besteht gewiß kein Anlaß, seine Erwartung zu enttäuschen
, soweit es ihm darum zu tun ist, daß evangelische
Theologen heute mehr Verständnis für diese Aufgabe der Tradition
haben als früher. Kein Ausleger der Schrift sollte leichtfertig
an denen vorübergehen, die vor ihm die Schrift ausgelegt
haben! Die Frage bleibt aber: in welchem Sinne ist diese
aus der Tradition auf uns kommende Auslegung verbindlich,
und wie ist die Verbindlichkeit der Schrift selbst zu verstehen?

Nach Lengsfeld ändert auch der Anspruch der Tradition,
„unfehlbare Auslegung zu sein, nicht das geringste daran", daß
Auslegung „notwendig ein gehorsames Unterordnungsverhältnis"
unter das Auszulegende bezeichnet. Aber so wie die Auslegung
eines Gesetzes durch einen obersten Gerichtshof „Entscheidungscharakter
" hat und für alle nachgeordneten Instanzen verbindlich
ist, muß nun auch die „von Gottes Geist garantierte
Schriftauslegung der Kirche" als „absolut verbindlich" angesehen
werden (S. 195 f.). Schon in dem Wörtchen „garantiert" wird
ja hier das verschiedene Kirchenverständnis hinreichend sichtbar
. Noch interessanter scheint aber das eben hier hervortretende
Schriftverständnis zu sein. Vielleicht muß man sagen:
wenn die Schrift in der hier angedeuteten Weise wie ein Gesetz
zu handhaben wäre, dann müßte auch das katholische Verständnis
von Tradition von uns akzeptiert werden. Die bibli-
zistische Theologie aller Zeiten ist also auch in unserm Raum
katholischer als sie gewöhnlich einsiehtl (Dies ist keine neue
Beobachtung, es lohnt sich aber, daran in diesem Zusammenhang
zu erinnern.) Weil aber die Schrift so nicht zu verstehen ist,
weil gerade der Kanon so theologisch zu einem Monstrum
würde, müssen wir unserm römischen Gesprächspartner leider
zurufen: wir stehen nicht dort, wo du meinstl

Der Unterschied tritt zwangsläufig schon im II. Kapitel
(Paradosis im NT) hervor: Verf. folgt hier mit sichtlicher Begeisterung
der Argumentation von H. Schlier in dessen bekanntem
Aufsatz „Kerygma und Sophia" (Evang. Theologie
1950/51 und in: „Die Zeit der Kirche" 1956, nun mit Imprimatur
aufgenommen). Weil nach Schlier der Logos Christou
„die Tendenz zur Formulierung in sich trägt", kann man von
einer „Elongatur der Offenbarung des Auferstandenen in einem
sich fortsetzenden apostolischen Wort des Herrn" sprechen, darf
sich also nicht damit begnügen, etwa die Glaubensformeln „nur
vom .Bekenntnis' her" zu verstehen (Lengsfeld S. 60 f.; Ev.
Theol. 490 f. und 492 Anm. 17). Nach Lengsfeld geht nun da«
Offenbarungsgeschehen über in da6 Kerygma, das „neue Lehre
offenbart, während die kirchliche Glaubensdefinition das apostolische
Depositum bewahrt, erläutert, auslegt und die verschiedenen
Auslegungen beurteilt" (S. 62). Typisch ist, daß er
in diesem Zusammenhang von „Sätzen des apostolischen Kern-
Kerygmas" spricht, „in denen die Selbstoffenbarung des Auferstandenen
bezeugt wird": sie sind unfehlbar und normativ in
einem nicht mehr zu begründenden Sinne (ebd. Anm. 92). Hier
liegt der Ansatz für das oben „gesetzlich" genannte Schriftverständnis
. Obwohl Verf. erklärt: „Auch die normative apostolische
Paradosisaussage i s t nicht die Offenbarung selbst"
(S. 64), so ist sie dieser doch nach seiner Meinung „adäquat".