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Ausgabe:

1963

Spalte:

91-98

Autor/Hrsg.:

Doerne, Martin

Titel/Untertitel:

Dostojewskij - ein Verführer? 1963

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 2

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in welchem das Ostergeschehen seinen ursprünglichen Sinnhorizont
hat, begründet. Eine sachgemäße Erkenntnis dieses
Geschehens ist darum nicht anders als durch den Nachvollzug
seiner proleptischen Struktur möglich, also nur so, daß der Erkennende
sich durch das Geschehen selbst in die Bewegung des
Glaubens hineinnehmen läßt". Für den Glauben ist der vertrauende
Vorgriff auf die Zukunft charakteristisch, aber dieser
Vorgriff ist fundiert in einem entsprechend proleptischen Sinn

1J) Insofern ist im Hinblick auf die Wahrnehmung des Christusgeschehens
, wie zu meiner Freude auch Althaus sagt, erst der Glaube
,,die ganz zu sich selbst gekommene Vernunft" (327). Mit Recht sagt
Althaus, daß entsprechend der Besonderheit des Christusgeschehen«
auch der Akt des Vernehmens und Empfangens seine Besonderheit
habe, — eben sofern er von seinem Inhalt geprägt wird. Dem versuche
ich durch die obigen Ausführungen gerecht zu werden.

des Christusgeschehen6 selbst, wie es sich der Erkenntnis darbietet
. Insofern begründet die Erkenntnis des Offenbarungsgeschehens
das gläubige Vertrauen, in das 6ie mündet. Die Erkenntnis
ist nicht, wie die Gnosis aller Zeiten meint, eine den
Glauben überbietende Stufe, sondern umgekehrt, wenn sie
rechter Art ist, mündet 6ie in das gläubige Vertrauen. Die
christliche Erkenntnis steht im Zeichen desselben „schon" und
„noch nicht", das das Leben der Christen zwischen Auferstehung
und Wiederkunft Jesu durchweg kennzeichnet. Aber die
Auferstehungswirklichkeit des Geistes, die zugleich alles offenbar
macht, ist nicht nur das an uns „noch nicht" Erschienene,
sofern wir ja noch dieses sterbliche Leben leben, sondern sie
ist uns auch, von der Auferweckung Jesu Christi her, „schon"
jetzt gegenwärtige Bürgschaft de6 Heils, weil gegenwärtig erkannte
Wahrheit.

Dostojewskij -

Von Martin D o

„Dostojewskij und kein Ende?", unter diesem Titel gab
K. Onasch 1958 in dieser Zeitschrift einen kritischen Literatur-
und Forschungsbericht (Sp. 569-576). Wir danken es dem Autor,
der als Erforscher der russisch-orthodoxen kirchlichen Kunst,
zuletzt durch sein großes Werk „Ikonen" (Berlin 1961), wie als
kundiger Darsteller der orthodoxen Kirche und Geisteswelt
rühmlich ausgewiesen ist, daß er zu dem notwendigen Fortgang
der Dostojewskij-Forschung mit diesen beiden, nahe zusammengehörigen
Büchern selbst einen so bedeutsamen Beitrag gegeben
hat. Gegenüber den meisten deutschsprachigen Arbeiten zum
religiösen bzw. christlichen Gehalt der Dichtung des großen
Russen hat Onaschs eindringende Arbeit den entscheidenden
Vorzug, daß sie nicht nur mit der russischen Sprache und Literatur
, sondern auch mit der sowjetischen Dostojewskij-Forschung
der letzten Jahrzehnte gründlich vertraut ist2. Die „Biographie"
gibt über die wichtigsten Quellenpublikationen und Darstellungen
sowohl sowjetischer wie sonstiger Herkunft eine willkommene
Übersicht (S. 9-12, Nachträge S. 134). Onasch hat
für seine eigene Sicht wichtige Impulse aus der neuesten
Literaturwissenschaft empfangen, vor allem aus den Werken
Wolfgang Kaysers und aus Wellek-Warrens „Theorie der Literatur
" (deutsch Homburg 1959). Der „Literaturnachweis" (II,
111—126) zeigt eine staunenswerte Weite auch des kunstphilosophischen
Umblicks. Sehr lebendige Anschauung von Stationen
der Lebensgeschichte Dostojewskijs wie von zeitgenössischen
Gestalten und Kunstwerken geben die 24 Bildtafeln; die
schönste Beigabe ist das Bildnis des Dichters von Prerow
(1872) in der Moskauer Tretjakow-Galerie.

Die „Biographie" stellt in ihrem Hauptteil (S. 18-133, mit
Ergänzungen bis 139) nach chronologischer Ordnung alles
Wissenswerte zu „Leben und Werk F. M. D.s" zusammen. Sie
beschränkt sich nicht auf die religiös bedeutsamen Nachrichten
und Materialien; sie zeigt die Werdegeschichte der größeren
Dichtwerke, in ausgiebiger Zitation der Skizzen und Entwürfe
aus dem (seit 1919 zugänglichen) Nachlaß, und sie orientiert
auch über die „kulturgeschichtlichen und politischen Ereignisse"
(5), die das Werk D.s aufhellen helfen. Ausführlich breitet sie,
gemäß ihrer Zweckbestimmung im Untertitel, das Material zu
den religiösen und theologischen Bezügen von D.s Schaffen dar.
Um nur einiges Wesentliche zu nennen: O. unterrichtet über
die religiös-sozialistischen Zukunftsideale, die einige Glieder
des Petraschewski-Kreises, Mitverurteilte D.s 1849, vertraten,

') Onasch, Konrad: Dostojewski j - Biographie. Materialsammlung
zur Beschäftigung mit religiösen und theologischen Fragen in
der Dichtung F. M. Dostojewskijs. Zürich: EVZ-Verlag [i960]. 148 S.,
16 Taf. 8°.

— Dostojewskij als Verführer. Christentum und Kunst in der
Dichtung F. M. Dostojewskijs. Ein Versuch. Ebda [19611. 127 S., 8 Taf. 8°.

Die „Biographie" wird im folgenden als I, „D. als Verführer"
als II angeführt, wo die Unterscheidung es erfordert.

a) Vgl. dazu den angeführten Forschungsbericht ThLZ (84) 1958,
Sp. 569 ff.

ein Verführer?1

r n e, Göttingen

auch über Verbindungen zwischen diesen idealistischen „Verschwörern
" mit Altgläubigen wie mit Reformkräften innerhalb
der orthodoxen Kirche (Durow. Schewtschenko 41 ff. Bucharjew
56. 64). Die Biographie enthält die ersten Zeugnisse zum Plan
des „Atheismus"-Romans (1868) und zu seiner Variante, dem
„Leben eines großen Sünders" (82 ff., 91 f.), weiter das Me-
mento von 1877 mit dem Vorhaben eines „Buches über Jesus
Christus" (110 f.). Wir erfahren von der Freundschaft mit
Wl. Solowjow, dem Besuch der beiden Freunde in der Optina-
Einsiedelei (115 f.). dem Briefwechsel mit Pobjcdonoszew (l 19ff),
auch von K. Leontjews integral-kirchlicher Kritik an D.s
Puschkinrede und an seinem „rosafarbenen" Christentum (l 27f)-

Stark betont ist in dem Gesamtbilde, das in und hinter
dieser „Materialsammlung" sichtbar wird, die tiefgreifende
Einwirkung des großen Kritikers Bjelinski auf D., die über die
persönliche und sachliche Entfremdung, auch über B.s frühes
Ende hinaus fortdauert. O. will wahrscheinlich machen, daß die
„ironische Mäeutik" (66), in der D.s Dichtung sich seit 1864
positiv auf den christlichen Glauben hinbeziehe, m. a. W. der
Verzicht auf „direkte Verkündigung", durch Bjelinskis Absagebrief
an die „bigotte" Orthodoxie des späten Gogol wesentlich
mitbestimmt sei (36 f. 50 f. 136 f.). — Vorausgeschickt sind
dieser Lebens- und Werkchronik interessante Mitteilungen über
„die Ahnen F. M. D.s" (13—17), speziell über die griechisch-
unierten Priester in dem wolhynischen Zweige der polnisch-
litauischen Familie D.s. — Nachdem die Ergänzungsbände der
deutschen Piper-Ausgabe, die für die Hauptromane das Skizzen-
und Notizenmaterial mit Erläuterungen darboten („Der unbekannte
D." 1926, „Die Urgestalt der Karamasows" und
„Raskolnikows Tagebuch" 1928), längst vergriffen, auch in den
Bibliotheken selten geworden sind, ist Onaschs Biographie für
deutsche Leser ein doppelt wertvolles Hilfsmittel zu wissenschaftlich
fundiertem Dostojewskij-Studium.

Das zweite Buch stellt sich als ein „Versuch über Christentum
und Kunst in der Dichtung Dostojewskijs" vor. Im Vorwort
weist es ausdrücklich den Anspruch einer „umfassenden
Deutung" D.s von sich. Von seiner Sicht des religiösen (christlichen
) Beziehungs- und Sinngehaltes der Dichtung D.s gibt der
scharf pointierte Titel „Dostojewskij als Verführer" einen Vorbegriff
. „Verführung" wird im 8. Kapitel, das diese Überschrift
trägt, als eine „Kategorie im Rahmen der Ästhetik und Poetik"
erklärt (71), die also „nicht moralisch, sondern reflektorisch-
poetisch zu verstehen" sei. Wichtigstes für dieses Verständnis
von „Verführung" ist schon in den zwei ersten Kapiteln
(Pygmalion und Galathea 9 ff., Spielreiz 15 ff.) dargelegt, zwar
mit Exemplifikation an D., aber als Beitrag zur Phänomenologie
der Kunst, speziell des „sprachlichen Kunstwerks" (W. Kayser)
überhaupt:

Das Kunstwerk ist „ein Erkenntnisobjekt ... mit einem
besonderen ontologischen Status" (Wellek-Warren). Es hat
seinen Ort in der „Spielsphäre" (Kayser, mit Rückverweis auf
Schillers ästhetische Grundbegriffe). Diese wesenhaft dem
„Spiel" zugehörige Formgesetzlichkeit des Kunstschaffens illu-