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Ausgabe:

1963

Spalte:

939-941

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Stoodt, Dieter

Titel/Untertitel:

Wort und Recht 1963

Rezensent:

Dombois, Hans

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 12

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K1RCHENRECHT

Stoodt, Dieter: Wort und Recht. Rudolf Sohm und das theologische
Problem des Kirchenrechts. München: Kaiser 1962. 137 S.
gr. 8° = Forschungen z. Geschichte u. Lehre d. Protestantismus,
hrsg. v. E.Wolf, 10. Reihe, Bd. XXIII. Kart. DM 9.50.

Die Arbeit ist erfreulicherweise keine der abstrakten und
fruchtlosen Versuche zur Grundlagenproblematik des Kirchenrechts
, welche die Verwirrung vermehren und vor deren Förderung
die theologischen wie die juristischen Fakultäten nur gewarnt
werden können, zumal 6ie regelmäßig die Kräfte der
Jüngeren überfordern. Der Verfasser nimmt vielmehr Sohms
neutestamentliche Exegese und seine Lutherinterpretation zum
Gegenstande. In der Einleitung kann er darauf hinweisen, daß
beide durch die Forschung überholt und richtiggestellt sind: die
Exegese durch den Nachweis pneumatischen Rechts im NT durch
Erik Peterson, Käsemann, Bultmann, Campenhausen u. a., das
Lutherbild insbesondere durch Münter und Joh. Heckel. Aber
da die einschlägigen Arbeiten der genannten und weiterer hier
wichtiger Autoren entweder überhaupt nicht oder nur beiläufig
sich mit Sohm befassen, nimmt er ihn nun direkt zum Thema.
Die Einleitung (S. 9—37) ist eine sehr gelungene Übersicht
über den Problemstand. Der mit diesen Fragen weniger befaßte
Theologe und Jurist kann diese Darstellung mit großem Nutzen
zur Orientierung verwenden. Nur eine Anmerkung: nach
meiner Kenntnis der Person wie der Schriften hat Barion eine
Annäherung an Sohm nicht vollzogen. Seine Neigung zu zugespitzten
Formulierungen hat wohl zu Mißdeutungen Anlaß
gegeben, B. will nur die immanente Schlüssigkeit der Sohmschen
Position auf Grund seiner eigenen Voraussetzungen und die
— auch von Stoodt erkannte — Überlegenheit seiner Fragestellung
betonen.

Der Verfasser geht den einzelnen exegetischen Interpretationen
Sohms im Großen und im Kleinen nach — sowohl denjenigen
, die schon zu seiner Zeit anfechtbar waren, wie denen,
die durch die nachfolgende Forschung überholt sind. Trotzdem
springt schon in den ersten Partien der Darstellung ins Gesicht,
wie gewaltsam und beweislos die berühmte These von Sohm in
den Gesamttatbestand eingetragen wird. Es sind im Grunde
nicht oder nur sehr zum Teil die Exegesen, die Sohm dorthin
führen, als vielmehr eine einzige petitio principii. Mehr noch:
die mächtige und heute noch abklingende Wirkung Sohms beruhte
nicht auf 6einen falschen, sondern auf seinen daneben
ebenso vorhandenen richtigen Deutungen des biblischen Tatbestandes
. Als bedeutender Jurist und entschlossener Denker
fegt Sohm die juristischen Naivitäten der Theologen, den aufgeklärten
, idealistischen, bürgerlichen Kirchenrechtsbegriff vom
Tisch (Religionsgesellschaft, Gemeinschaft, bürgerlicher Verein).
Mit ungleich größerer Energie und Darstellungskraft als sie
alle brachte er den pneumatischen Charakter der Kirche zur
Geltung. Die Evidenz dieses Bildes (welche die Mängel weitgehend
überdeckte) und die Vernichtung der herkömmlichen
Rechtstheorien machten zusammen den Weg für die berühmte
These frei. Auch Sohm - zu radikalen Kehrtwendungen stets
bereit! — wäre mindestens in die Nähe der heute unbestreitbar
erwiesenen Elemente pneumatischen Rechts im NT gekommen
, wenn er nicht einen Ausweg besessen hätte (dessen Verlassen
freilich für ihn einen Existenzbruch bedeutet hätte). Es
war der idealistische Religionsbegriff, die entsprechende Religionspsychologie
und die dazu gehörige Antithese von Recht
und Sittlichkeit. Erst als dieser Ausweg durch innere Entwicklungen
und äußere Erfahrungen abgeschnitten war, konnte
mit der Wiederentdeckung der Eschatologie auch das Recht im
NT gesehen werden. An dieser Stelle trifft unsere Erwägung
wieder mit der des Verfs. zusammen. Deshalb wird die Theorie
Sohms auch überall dort wieder hervortreten, wo der liberale
Ethizismus 6ich erneuert, natürlich abgedeckt und gegen die
inzwischen gewonnenen Erkenntnisse verschleiert.

Stoodt arbeitet eine wichtige Strukturanalogie zwischen
Sohm und Schlier heraus, die sich wie Negation und Position
verhalten. Beide sind dem Entwicklungsgedanken verhaftet.
Aber dieser Sachverhalt wird vom Verf. nur wenig reflektiert

— noch nicht einmal in dem Sinne, daß es 6ich dabei um ein
Abfall- bzw. Entfaltungsschema handelt. Das Abfallschema ist
ja 6ehr viel weiter verbreitet als nur bei Sohm, und seine ausdrückliche
Nennung hätte eine Lawine von Erwägungen und
Folgerungen ausgelöst. Der Verf. sucht einen dritten Standpunkt
in einer höchst problematischen Formulierung: das
Kirchenrecht sei zu allen Zeiten eine variable Größe gewesen
wie das in der jeweiligen Situation durch die Kirche an die
Welt zu gebende Kerygma selber. Ist es auch nicht die Aufgabe
der Arbeit, eine eigene Kirchenrechtstheorie zu entwickeln, so
kann sie eine Kritik Sohms doch nicht ohne eine Bezeichnung
des eigenen Standortes begründen. Jener Satz ist 6ehr mißverständlich
. Nicht das Kerygma selbst ist variabel, sondern seine
Ausdrucksform und auf alle Fälle seine Situationsbezogenheit.
Aber kann gerade von daher das proprium des Kirchenrechts
gewonnen werden? Solange es Kerygma gibt, gibt es auch die
kerygmatische Situation, die Relation zwischen beanspruchender
Verkündigung und bekennendem Glauben. Wenn es hart auf
hart geht, ist die Forderung der Absage an den Rasscnglauben
ebenso entschieden wie irgend etwas, was der Apostel Paulus
im „dekretalen Jussiv" von seinen Gemeinden fordern kann.
Diese Struktur bleibt. Das Problem der historischen Variabilität
des Kirchenrechts ist nicht das Gleiche, sondern ein Problem
neben und zusammen mit dieser Struktur, niemals ohne sie.
Das ist um so verwunderlicher, als der Verf. selbst zuvor in
der Einleitung ausführlich diese Bekenntnisstruktur und die
Rechtsstruktur der Sakramente in Übereinstimmung mit der
Forschung behandelt hat.

Der zweite Teil ist dann dem Sohmschen Lutherbild gewidmet
. Nach Sohm hatte auch Luther das Kirchenrecht als jus
humanum nicht ausgeschlossen. Zwar besteht für Sohm ein unüberbrückbarer
Gegensatz zwischen Wort und Recht, aber das
Wort ist keineswegs ordnungsfeindlich. Nach Stoodt ist Sohm
hier an greifbar nahen kirchcnrechtlichen Aussagen Luthers vorbeigegangen
. Aber nach Heckel geht Luther weiter, als Stoodt
hier für Luther formuliert, weiter auch als Stoodt selbst gehen
will. Die Aussagen Luthers seien aktuell nicht verwendbar
Stoodt sucht hier einen Weg zwischen Sohm und Heckel, der
ja nur historisch referiere. Er will die Aussagen kerygmatisch,
d. h. nicht als solche über das Recht, als solches, sondern als
Interpretament des Christusgeschehens verstehen. Er greift von
den einschlägigen Aussagen Barths in KD IV/2 nur den terminologisch
am wenigsten geklärten Begriff des ,,Grundrechts"
auf (mit dem sich Barth und Heckel berühren), vermeidet aber
auffälligerweise die sehr viel umfassenderen Thesen Barths
über das Kirchenrecht als liturgisches und bekennendes Recht,
wiewohl vieles in seinen Ausführungen als deren Entfaltung
gelten kann.

Schließlich verknüpft sich hier die Lutherdeutung Sohms
mit der Geschichtsproblematik. Luther hat nach Sohm mit der
Entdeckung der Unsichtbarkeit der Kirche aus der Unmittel'
barkeit seiner Gotteserfahrung eine Erkenntnis erlangt, zu der
das Urchristentum noch nicht durchgedrungen war (107). Damit
ist nicht nur die Kirchcnrcchrslehre Luthers verkannt und
grundsätzlich unterboten, sondern auch formell Voraussetzungen
des reformatorischen Christentums, Schriftbindung wie
Suffizienz und Maßgeblichkeit des biblischen Vorbildes preisgegeben
. Erst durch die Abstoßung der Sichtbarkeit der ecelesia
kommt das Christentum durch Luther zu sich selbst. Konsequent
steht demgegenüber ein Schema fortschreitender Verweltlichung
der Kirche: von der rein geistlichen Urkirchc, über
den geistlich-weltlichen Katholizismus (der in der Differenz
zwischen Alt- und Neukatholizismus noch ein bedeutsames Gefälle
zur Verweltlichung zeigt) bis zum protestantischen KjJ
chenrecht, welches im Systemzwang dieses körperschaftsrcchtlich-
voluntaristischen Rechtsdenkens erwachsen sei. Um den Katholizismus
loszuwerden, muß Sohm also die Vorbildlichkcit der
Urkirche, 6odann die gesamte Kirchenrechtsgeschichte des W*f
testantismus preisgeben und schließlich noch einen Entwi«*'
lungsbegriff übernehmen, der in der Überschreitung der apostolischen
Tradition dem katholischen Entfaltungsbcgriff strukturgleich
ist - nur daß an die Stelle der Entwicklung des kir*'