Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1963

Spalte:

930-935

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Diaconia in Christo 1963

Rezensent:

Nagel, William

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4

Download Scan:

PDF

929

Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 12

930

Seiendes ist, und darin treffen sich Existenzphilosophie und
Tiefenpsychologie, beide suchen nach den vorbegrifflichen Ursprüngen
und Grundbewegungen (180). Heideggers Grundbegriffe
sind Anknüpfungspunkte für die Tiefenpsychologie. Aber während
bei ihm alles auf düsterem Grunde bleibt, sucht erst
Ludwig Binswanger dem „die Aspekte eines heiteren,
liebevolleren Menschseins entgegenzustellen" (195/6). Sein Denken
„verknüpft und verarbeitet in selbständigem Vorgehen
klassische tiefenpsychologische Einsichten mit den Anstößen, die
ihren Ursprung im Denken von Husserl und Heidegger haben"
(196), au6 den geistigen Krisen heraus tritt hier der Versuch
hervor, „ein Bild des .ganzen Menschen' vom Menschsein selbst
her zu gewinnen (197). Binswanger ähnlich gehen Meinertz
und Boss vor, wie überhaupt die Annäherung der verschiedenen
Richtungen wächst seit der Mitte des 20. Jhdts., weil
jeder um 6cine Grenzen weiß und man das gemeinsame Ziel der
Gesundung des Menschen hat (204/5). Außerhalb der Existenzphilosophie
werden als Beispiel der Psychologen mit synthetischen
Zügen genannt: Szondi als Tiefenpsycnologe des familiären
Unbewußten und der Betonung der religiösen Glaubensfunktion
, Gordon W. A 11 p o r t mit der Tendenz einer Erweiterung
der Horizonte ohne Opferung des Erreichten und ihm
verwandt Schultz-Hencke mit der Neopsychoanalyse.
Als Abschluß erscheint der Neopsychoanalytikcr Herbert
Binswanger, der unter Einbeziehung aller Perspektiven das
menschliche Idealbild entwirft, so daß der Autor urteilt: „es ist
ein psychologischer Entwurf der Menschendeutung, welcher der
zweiten Hälfte des 20. Jhdts. angemessen zu Gesicht steht: des-
illusioniert, weit- und lebenzugewandt, . . . kritisch gegen den
technischen Fortschrittsoptimismus, aber dennoch einerseits Wissen
und Können und andererseits Ehrfurcht vor letztwirklichen
Gemüts- und Lebenswerten bejahend. .." (217).

Das Ganze ist ein lebendiger, umsichtiger und eigenständiger
Entwurf, elegant geschrieben, weiteren Kreisen verständlich und dorn
Fadilidi präzise, bemüht, den Personen und ihren Intentionen gerecht
zu werden. Eine leichte Neigung zur Überspannung der führenden
Prinzipien fehlt nicht und verdeckt manchmal die Lebendigkeit der
beurteilten Autoren. So übersieht z. B. die Rückführung Jungscher
Begriffe auf naturwissenschaftlich-biologische Grundlagen, daß Herkunft
eines Begriffes nichts über seine Anwendung aussagt. Auch tritt die
Tendenz, das Bild des vollständigen Menschen vom Menschsein selbst
her zu gewinnen, nicht erst bei L. Binswanger in Erscheinung, sondern
ist als Absicht schon bei Freud da (daher seine Grenzüber-
schrcitungen) unnd verwirklicht mindestens seit lung. Andererseits ist
zu fragen, ob die Unklarheiten im philosophischen Ansatz wirklich
die Rolle spielen, (so verdienstlich ihre Klärung ist), die der Autor
ihnen zumißt, und ob nicht andererseits die existenzphilosophische
Grundlage in Theorie und Praxis die Gefahr der Einseitigkeit ebenso
in sich birgt, wie jede andere Grundlage.

Das führt zu dem entscheidenden Einwand. Der Autor vermeidet
zwar dankenswerterweise jede Erhebung seines Ansatzes zur Religion.
Er steht anscheinend der gestalteten Religion, mindestens dem Christentum
, auch fern. Man liest nur von „Religionen und Konfessionen,
die mit ihren aus längst versunkenen historischen Gedanken- und
Gefühlswelten stammenden Dogmen und Tröstungen vielen modernen
Menschen . . . aufrichtig ... im Innersten immer unvertrauter werden
" (17) und man hat nicht den Eindruck, daß der Autor sich von
der so charakterisierten Haltung distanziert. Das i6t sein gutes Recht.
Aber bei einer ausdrücklich gcistesgeschichtlich orientierten Einordnung
der Tiefenpsychologie muß man doch fragen: Wo bleibt da die Theologie
? Wo bleiben die christlich orientierten Tiefenpsychologen? Daß
Scondi die „religiöse Glaubensfunktion" (s.o.) betont, kann doch
nicht alles sein, wa* der Autor vom Christentum weiß. Es wäre objektiv
interessant zu erfahren, ob der Autor nie überzeugte Christen
in seiner Therapie gehabt hat. Mindestens dürften auf psychologischer
Seite nicht fehlen Autoren wie Bovet, Daim, Johanna Herzog-Dürck,
Fritz Künkcl, Alfons Maeder, August Vetter, Konrad Wolff u.a., die in
ihrer Gesamtheit eine markante und gewichtige Strömung innerhalb
der heutigen Tiefenpsychologie darstellen. Ebenso liegen seitens der
Gemeinschaft Arzt und Seelsorger, Stuttgart, bis 1958 immerhin schon
5 (jetzt 10) vielseitige Tagungsbe richte vor, deren grundsätzliches
Thema die Beziehung der Tiefenpsychologie zur Religion, zumal zum
Christentum ist. Von katholischen Tiefenpsychologen hätte man mindestens
eine Berücksichtigung von Frhr. v. Gebsattel, Goldbrunner,
Hostie und White erwartet. Unter den evangelischen Theologen
konnten Autoren wie Allwohn, Köberle, Schär, Pfister, Tillich nicht

gut fehlen. Verständnis für die gegenwärtige Lebendigkeit des Christentums
, Kenntnis der tiefgreifenden Erneuerungsbewegungen, und Begegnung
mit der lebendigen gegenwärtigen Theologie hätten das Bild
der Einordnung der Tiefenpsychologie in die gegenwärtige geistes-
gesdiichtliche Situation wesentlich erweitert und vertieft und um ein
grundlegendes Moment bereichert.

Des ungeachtet aber sei dem Autor ein aufrichtiger und
herzlicher Dank gesagt für sein bedeutsames und verdienstliches
Werk mit seiner literarisch und persönlich sympathischen Atmosphäre
und seinem reichen Gehalt. Von der Fülle interessanter
und wesentlicher Hinweise und Durchblicke hätte nur eine den
verfügbaren Raum wesentlich überschreitende Besprechung einen
Eindruck vermitteln können.

Berlin Otto Hao n il 1 e i

Baeyer, Walter von: Der Mensch und seine Schuld in der Sicht de«
Arztes.

Universitas 18, 1963 S. 863—874.
Cruchon, Georges: Pour une coneeption unifee de la Personne

humaine, basee sur les sciences humaines et la theologie.

Gregorianum XLIV, 1963 S. 263—306.
Harlfinger, Hanspeter: Zur Situation der Alternden, der Alten

und ihrer Betreuer.

Die Innere Mission 53, 1963 S. 145—154.
J a e g e r, Marc A.: Die Psychologie C. G. Jungs und die Frage nach

dem Lebenssinn in der Gegenwart.

Universitas 18. 1963 S. 417—422.
lores, A.: Über den Schmerz.

Wege zum Menschen 14, 1962 S. 383—392.
Köberle, Adolf: Das Vaterbild bei Franz Kafka.

Wege zum Menschen 1 5, 1963 S. 237—244.
K r a e t e r, Dieter: Die archetypische Bedeutung der Mutter.

Wege zum Menschen 1 5, 1963 S. 225—237.
M elzer, Friso: Der Guru als Seelenführer. Abendländische Begegnung
mit östlicher Geistigkeit. Mit einem Vorwort von Eridi Schick.

Wuppertal: Brockhaus [1963). 48 S. 8° = Neue Studienreihe, hrsg.

v. H. Bürki, 3. Kart. DM 2.50.
Rorarius, Winfried: C. G. Jungs Einsicht in die Seele und die

Anrede des Evangeliums.

Zeitwende XXXIV, 1963 S. 225—239.
Spranger, Eduard: Die gefährdete Jugend in unserer Zeit.

Universitas 18, 1963 S. 225—236.

PRAKTISCHE THEOLOGIE: ALLGEMEINES

R»h n e r, Karl, u. Herbert Vorgrimler [Hrsg.]: Diaconia in
Christo. Über die Erneuerung des Diakonates. Freiburg-Basel-Wien:
Herder [1962]. XI, 646 S. 8° = Quaestioncs Disputatae, hrsg. v.
K. Rahner u. H.Schlier, 15/16. Kart. DM 39.50.

Das vorliegende Sammelwerk, an dessen Lektüre der Rezensent
zunächst mit einem gewissen inneren Abstand herantrat
, gestaltete 6ich für ihn zu einer geradezu erregenden Lektüre
. Er hatte sich nämlich gleichzeitig mit dem Problemkreis
um das „Amt der Pastorin" zu beschäftigen, welches die Gefahr
mit sich bringt, daß das der Kirche eingestiftete Amt für
dessen Wahrnehmung durch theologisch ausgebildete Frauen
nur wieder nach dem Schema des traditionellen Pfarramts ausgestaltet
werden könnte. Da bedeutet es einen um so eindrucksvolleren
Gegensatz, an den vielgestaltigen Beiträgen des vorliegenden
Werkes beobachten zu können, wie innerhalb der
katholischen Kirche im Ringen um rechte Erneuerung des Dia-
konats kühne und bedeutsame Wege aufgezeigt werden, auf
welchen es zu einer der kirchlichen Tradition verbundenen, ja,
aus deren wertvollstem Bestand schöpfenden und doch zugleich
ganz den Wirklichkeiten unserer Welt zugewandten Ausgliederung
des Amtes der Kirche kommen soll. Mir will scheinen, alt
hätten wir Evangelischen in unserer Weise hier viel zu lernen,
und man kann unserer Schwesterkirche nur wünschen, daß bereits
das gegenwärtige Konzil, damit zugleich unerfüllt gebliebene
Ansätze des Tridentinums aufnehmend, den Weg freigeben
wird, auf Grund der historisch wie dogmatisch und
praktisch-theologisch gründlich durchgearbeiteten Materie mit
praktischer Erprobung einzusetzen, sei es zunächst auch nur
dort, wo die Voraussetzungen dafür in besonderer Weise reif
erscheinen.