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Ausgabe:

1963

Spalte:

919-921

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Biemer, Günter

Titel/Untertitel:

Überlieferung und Offenbarung 1963

Rezensent:

Becker, Werner

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919

Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 12

920

seiner Polemik gegen das Zentrum der Kirchenidee Chomjakovs:
gegen dessen Meinung, daß die Kirche nur Freie in ihren Schoß
aufnehme, daß sie nicht demonstrierbar sei, daß die wahre
Kirche nicht an äußeren Kennzeichen auch für den Ungläubigen
als wahre zu erkennen sei, daß man mit einer solchen logischen
Überprüfung nichts gewinnen könne als bestenfalls eine logische
Überzeugung, ein äußerliches Wissen, jedenfalls nicht den lebendigen
Glauben. Einen „trügerischen Kreisschluß" findet Plank in
diesen Gedanken Chomjakovs. Einen neuen Beweis für den
unverbesserlichen Rationalismus römisch-katholischen Denkens
würde Chomjakov in dieser Polemik Planks finden.

Das gleiche gilt für den letzten von Plank ausgeführten
Kontroverspunkt: das Unfehlbarkeitsdogma. Plank zeigt, daß
das römische Unfehlbarkeitsprinzip viel konsequenter, rationaler
und praktikabler ist als Chomjakovs „Sobornost"'. Das ist natürlich
richtig. Auch Chomjakov würde es zugeben. Aber, so
würde er sagen: Das Rationale und Praktikable braucht nicht
die lebenschaffende Wahrheit zu sein.

Der Kirchenbegriff Chomjakovs ist lebendig bewegt, er ist
dialektisch. Ein starr rationales, pragmatisches Denken kann ihn
nicht in seiner Tiefe und Bedeutung erfassen. Ob in unserem
konkreten Falle dieses rationale Denken individuelle Eigenart
des Verfassers oder ob es „typisch katholisch" ist, wage ich
nicht zu entscheiden1.

Tübingen Ludolf Müller

*) Ich will mit all dem nicht sagen, daß wir uns den Kirchenbegriff
Chomjakovs uneingeschränkt zu eigen machen könnten. Vgl.
dazu meine Ausführungen in „Russischer Geist und evangelisches
Christentum", Witten-Ruhr 1951, S. 38 — 53. Neuerdings ist das
Thema de6 hier besprochenen Buches in größerem Rahmen auch von
evangelischer Seite behandelt worden: Reinhard Slenczka, „Ostkirche
und Ökumene. Die Einheit der Kirche als dogmatisches Problem in
der neueren ostkirchlichen Theologie", Göttingen 1962.

Biemer, Günter: Überlieferung und Offenbarung. Die Lehre von
der Tradition nach John Henry Newman. Freiburg-Basel-Wien:
Herder [1961]. 256 S.. 1 Taf. gr. 8° = Die Überlieferung in der
neueren Theologie, hrsg. v. J. R. Geiselmann, Bd. IV. Kart. DM 18.—.

Das Buch Biemers, eine Dissertation der kath.-theol.
Fakultät Tübingen, erscheint in einer Zeit, in der „die Frage
der Überlieferung... die Theologie in ungewöhnlichem Maße
beschäftigt" (Vorwort des Hrsg., S. 7). Das gilt für die ökumenische
Diskussion ebenso wie für das II. Vatikanische Konzil,
das die Frage nach der doppelten Quelle der Offenbarung im
November 1962 behandelt hat, sie aber nach einer dramatisch
verlaufenen Abstimmung wieder von der Tagesordnung absetzte
. Schon ein erster Blick in das Buch Biemers zeigt, daß
die jetzt im Zusammenhang mit dem Konzil genannten Probleme
und Kontroverspunkte schon von Newman behandelt
worden sind, gipfelnd in der Frage nach der Suffizienz der
Schrift, an der Newman sein Leben lang festgehalten hat
(S. 211 f.), und die nach der Meinung bedeutender katholischer
Theologen der Gegenwart „entsprechend erklärt. . . sicher nicht
dem katholischen Glauben widerstreitet" (vgl. J. Beumer S. J.
in Catholica 15 [1961], S. 222).

In solchen Fragen, an denen sich die Geister scheiden, berufen
katholische Theologen sich heute immer wieder auf Newman
, den man den Kirchenlehrer der Neuzeit genannt hat.
Newman, der kein systematischer Denker war, hat außer in
einem gelegentlichen Aufsatz (S. 69—73) und in vereinzelten
Predigten, die nun erstmalig in den von Biemer veröffentlichten
Auszügen vorliegen (S. 221—234), nicht thematisch über die
Tradition geschrieben. Das Thema steht aber im Mittelpunkt
seines existentiellen Interesses. Es ist das Verdienst Biemers,
das Werden und Wachsen der Auffassungen Newmans von der
Tradition zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Lebensentwicklung
Newmans dargestellt (S. 39—158) und im zweiten
Hauptteil seines Buches einen systematischen Aufbau seiner
Lehre von der Tradition versucht zu haben.

Biemer „befragt" zunächst in seiner „Einführung" die
anglikanischen Theologen des 16.—19. Jahrhunderts nach ihrer
Lehre von der Tradition, die von den meisten nur als „Interpretationshilfe
" bei der Auslegung der hl. Schrift gewertet
wird (S. 17—35). Dieser Überblick bleibt bei der im Rahmen
der Arbeit gebotenen Kürze allzu fragmentarisch. Nur die Auffassungen
von E. Hawkins (1789—1882) sind organisch in den
L Hauptteil des Buches eingefügt.

Newman kam mit 16 Jahren, kurz nachdem er eine „Bekehrung
" erlebt hatte, als Student nach Oxford, zunächst als
jugendlich-radikaler Parteigänger des Evangelikaiismus. Dabei
war aber seine Grundhaltung nicht irgendein Subjektivismus,
sondern da6 Hören auf das geoffenbarte Gotteswort, das als
Dogma verpflichtet (S. 44). Sein Ausgangspunkt, eine bloße
BibeLreligion, modifizierte sich in der Auseinandersetzung mit
dem Rationalismus seiner Lehrer und auf Grund der Erfahrungen
, die er als junger Seelsorger, schließlich als Pfarrer der
Universitätskirche St. Mary machte. Entscheidend war dabei
seine Hinwendung zum „Prinzip Kirche", die der Ref. als seine
2. Bekehrung bezeichnen möchte. 1828 begann Newman ein
systematisches Studium der Kirchenväter als der großen Vertreter
der überlieferten Lehre aus der frühen Kirche (S. 56).
Bei den Vätern findet er eine ganz spezifische Hochschätzung
der Schrift, aber ebenso (wie es sein Freund Keble in seiner
Predigt formuliert, die 1833 die Oxford-Bewegung einleitet),
eine Anwendung der Tradition „parallel zur Schrift, keineswegs
als Ableitung davon" (S. 5 3). So sieht Newman in seinem Buch
über das Lehramt der Kirche („Lecrures on the Prophetical
Office of the Church. Viewed Relatively to Romanism and
Populär Protestantism" (18 37) in der noch ungeteilten Kirche
des Altertums die „doppelte Regel: Schrift und katholische
Tradition". Die akademische Behörde zu Oxford, später auch
die einzelnen Bischöfe der anglikanischen Kirche verwarfen mit
ihrer Verurteilung von Newmans Traktat Nr. 90 „formell die
Idee, daß die wesentlichen Lehren der katholischen Tradition
in ihrer Kirche gelehrt und geduldet werden konnten" (S. 89).
Später kommt Newman zu der Einsicht, daß die Neuerungen
der römisch-katholischen Kirche, insbesondere des Tridentinums,
„aus einer kühnen und lebendigen Realisierung des göttlichen
Glaubensschatzes hervorgingen" (Brief an J. Keble vom 4. Mai
1843, in: Apologia [pro vita qua, S. 244])', da es eine echte,
vom Heiligen Geist geleitete Dogmenentwicklung gibt. Seine
Studien über die Entwicklung der christlichen Lehre, 1845 in
einem Buch niedergelegt, führten Newman zum Anschluß an
die römisch-katholische Kirche.

In seiner katholischen Zeit (schon 1847) unterscheidet
Newman mit größerer Klarheit „das objektive Wort Gottes"
„als Depositum des Glaubens, das treu und vollständig von
Christus den Aposteln und von diesen der Kirche überliefert
wird" (S. 109), von dem „subjektiven Wort Gottes", dem Wachstum
der Erkenntnis „in den vom göttlichen Licht erfüllten Menschen
" im Raum der Kirche. Hier gestaltet sich die Überlieferung
„frei und spontan in der Tiefe des Sinnes, bei aller Verschiedenheit
der Worte". Hierbei setzt Newman dem Geist des
„Privaturteils", den er seit mehr ak 20 Jahren bekämpft hatte,
den „Geist des katholischen Erdkrei6es" entgegen, den „Glau-
benssinn", der sich nicht nur in der lehrenden, sondern auch in
der hörenden Kirche findet. Von besonderem Interesse ist die
Darstellung Biemers über den sensus fidelium im Anschluß an
Newmans berühmten Aufsatz „über die Befragung der Laien in
Dingen der christlichen Lehre" von 1859 (S. 130-135)'.

Im zweiten systematischen Teil zeigt Biemer die besondere
Sendung Newmans, nicht nur die Fragestellungen, sondern auch
das ernste Bemühen um die Antwort, ja, die Antworten selbst
aus seiner anglikanischen Zeit in die römisch-katholische Kirche
mit einzubringen.

Gewiß läßt sich Newmans Auffassung von der Tradition
„nicht ohne Einschränkung mit den modernen Termini zun1
Ausdruck bringen" (S. 212).

Die Systemati6ierung, die Biemer vorlegt, geschieht

J) Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: J. H. Newman, Au«'
gewählte Werke, hr«g. von M. Laroi und W. Becker, 2., neu bearb'
Auflage, I Bd., Mainz 1951.

») Deutsche Übersetzung ebda. Bd. IV (..Polemische Schriften">'
Mainz 1960, S. 255-292.