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Ausgabe:

1963

Spalte:

858

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Scholz, Heinrich

Titel/Untertitel:

Mathesis universalis 1963

Rezensent:

Zeltner, Hermann

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 11

858

ben, er wollte die Wirklichkeit verstehen und deuten, nicht
aber ein zuvor entworfenes System über sie stülpen. Hegel entwirft
sein System im Zug der Wirklichkeitserfassung, das veranschaulicht
Seeberger recht klar.

Der Ausgangspunkt der Schilderung von Hegels eigentlichem
System ist der Begriff. Seeberger zeigt die verschiedenen
Möglichkeiten von Begriffsbestimmung und hebt davon Hegels
eigentümliche Bestimmungsweise ab: der Begriff in seinen Momenten
der Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit, die
lebendig konkreszieren. In Urteil und Schluß ereignen sich
Vermittlungen, die nach dem Prinzip der Dialektik ablaufen.
Der Begriff in seiner konkreten Verwirklichung ist bei Hegel,
wie Seeberger zeigt, die Idee. In der logischen Idee sind vermittelnd
verknüpft die objektive Idee, die sich in der gegenständlichen
, naturhaften Umwelt konkretisiert und die subjektive
Idee, die sich als subjektiver und objektiver Geist manifestiert
.

Als Ausprägung des subjektiven Geistes hat der Mensch
seine Anlage zu ihrem Ziel hin zu entwickeln, er hat zu werden
, was er sein soll und im Letzten ist. Im Bewußtsein wird
sich der Mensch seiner Seele abstrahierend bewußt, die Gesamtheit
der Bewußtseinsstufen und Elemente ist der Verstand. Es
ist Seeberger besonders gut gelungen, die Bedeutung und Grenzen
des Verstandes nach Hegel darzustellen und den Verstand
von der über- und umgreifenden Vernunft zu unterscheiden
und zu ihr ins rechte Verhältnis zu bringen. In der absoluten,
im Hegeischen Sinn spekulierenden Vernunft konkretisiert sich
erst die Einheit von objektivem Geist — der Sphäre von Recht,
Moralität und Sittlichkeit — und subjektivem Geist zur absoluten
Vernunft. Spekulation ist nicht ein Aufstellen metaphysischer
Systeme ins Blaue hinein — das ist ja dem Empiriker und
Pragmatiker Hegel völlig fremd —, vielmehr besteht sie in der
konkretisierenden Verwirklichung des Geistes, die sich in Kunst,
Religion und Philosophie vollzieht. Damit nun dringt der Geist
mit und aus Notwendigkeit in den Bereich der Freiheit vor,
die er unablässig neu verwirklichen muß.

Für den Theologen hat Seebergers Entwurf des Hegeischen
Systems großen Wert. Einmal dadurch, daß in diesem Buch die
Relevanz des Hegeischen Denkens für unsere Zeit evident
wird. Dies nämlich ist der Effekt von Seebergers eindringlicher
und zugleich selbständiger wie engagierter Darstellung, daß
Hegel plötzlich nicht mehr als philosophiegeschichtliches Fossil
erscheint, sondern lebendig zu unserer Gegenwart spricht; und
das, es muß wiederholt werden, ohne Umbiegung oder unzulässige
Verkürzung des ursprünglichen lebendigen Systems, das
Hegels Systematik zugrunde liegt. Zum anderen wird auf diese
Weise erkennbar, daß jener „Idealismus", dessen Hauptrepräsentant
Hegel ist — der Begriff „Idealismus" sei hier als Chiffre
erlaubt —, theologisch noch keineswegs „überwunden" ist, wie
oft als selbstverständlich angenommen wird. Es sei nur daran
erinnert, wie Emanuel Hirsch das Denken Fichtes für die Theologie
unserer Zeit fruchtbar hat erscheinen lassen; ein ähnliches
muß auch bei Hegel unternommen werden, und Seebergers Buch
bietet sich hier für die Grundlage an. Die Theologie wird nicht
daran vorbeikommen, den idealistischen Appell zur Selbstverwirklichung
des Geistes unter dem Aspekt des Gesetzes Gottes
ernstzunehmen. Dann freilich bricht erst die entscheidende
Frage auf. Was Ich und Geist bei den Idealisten heißt, ist ja
keineswegs das, was wir mit Person meinen, insofern wir von
der Begegnung, vom Wortgeschehen her zu denken haben.
Aber das Gesetz ist ja nichts anderes als eine „Vermittlung"
zwischen Gott und Mensch, es ist „zwischeneingekommen".
Aus dem Gesetz allein ist eben nur die Forderung nach der
Selbstverwirklichung herauszuhören. Wenn das Gesetz personhaft
, etwa im Sinn Martin Bubers, verstanden wird, ist schon
mehr als das Gesetz vernommen worden, nämlich die Verheißung
.

Scholz, Heinrich: Mathesis universalis. Abhandlungen zur Philosophie
als strenger Wissenschaft, hrsg. v. H. H e r m e s, F. Kam-
bartel, J. Ritter. Basel/Stuttgart: Schwabe [1961]. 483 S.
gr. 8°. Lw. sfr. 38.—.

Zur Würdigung dieser Sammlung von „Abhandlungen zur
Philosophie als strenger Wissenschaft" ist eine kurze Erinnerung
an das Leben des Autors notwendig. Heinrich Scholz
(1884—1956), Sohn eines preußischen Oberkonsistorialrats, war
selbst ursprünglich Theologe; 1917 erhielt er den Lehrstuhl für
systematische Theologie in Breslau. 1921 erschien seine „Religionsphilosophie
", nachdem er bereits 1919 ein Ordinariat für
Philosophie in Kiel übernommen hatte. 1929 wechselte er nach
Münster über. Schon in Kiel hatte er „durch einen Glückszufall"
die 1910—13 erschienenen, aber philosophisch bis dahin kaum
beachteten „Principia mathematica" von Bertrand Russell und
Alfred North Whitehead für sich entdeckt. So wurden „mathematische
Logik und Grundlagenforschung" — wie sein Lehrauftrag
seit 1943 auf eigenen Antrag lautet — sein eigentliches
Arbeitsgebiet.

Von der theologisch inspirierten Religionsphilosophie zur
mathematischen Logik — ein weiter Weg mit zumindest zwei
großen Umbrüchen. Der vorliegende Sammelband zeigt nicht
nur die innere Konsequenz dieses Weges, sondern auch den von
Anfang bis Ende durchlaufenden roten Faden: die Wahrheitsfrage
. Für Scholz war es nicht die Flucht aus der Verzweiflung
an der religiösen Wahrheit, wie etwa Friedrich Rittelmeyer 1922
das Ergebnis der damals bereits in 2. umgearbeiteter Auflage
erschienenen „Religionsphilosophie" zu der von Rudolf Steiner
angebotenen „Erkenntnis höherer Welten" kontrastierte, in die
Abstraktheit der formalen Logik, sondern der leidenschaftliche
Versuch eines Durchbruchs von hier nach dort: von dem gesicherten
Boden der Logik zur „Gewißheit der transsubjektiven
Präsenz des Göttlichen". Das Bindeglied ist eine formale Metaphysik
, die Mathesis universalis im Sinne von Descartes und
Leibniz als „Inbegriff aller Folgen von inhaltlich zusammengehörigen
Sätzen, für welche die Form der mathematischen
Erkenntnisgewinnung konstitutiv ist" (S. 58). Eine direkte Beziehung
ergibt sich ferner durch die Erneuerung der augustinisch-
leibnizischen Illuminationslehre: der Mensch weiß, „daß es ein
höchstes Wesen gibt, das uns die Überzeugung vom Wahrsein
der Axiome eingepflanzt hat", und der damit umschriebene
„logische Absolutismus" findet seine Entsprechung in einem
innerhalb der heutigen mathematischen Logik singulären Plato-
nismus (vgl. hierzu bes. S. 341 ff. sowie „Piatonismus und
Positivismus" S. 388—398).

Es ist hier nicht der Ort, die vielschichtige Problematik
dieses Ansatzes zu erörtern. Die von den Herausgebern mit
Sorgfalt betreuten Texte bieten dazu eine ausgezeichnete Hinführung
von den verschiedensten Ausgangspunkten her. Neben
wertvollen, z. T. an entlegenen Stellen veröffentlichten Aufsätzen
enthält der Band auch einige Erstdrucke, so eine scharfsinnige
Untersuchung über den anselmischen Gottesbeweis und
eine Einführung in die Kantische Philosophie (beinahe 70 Seiten
umfassend), die vom Standpunkt des Logistikers aus kritisch
Stellung nimmt und dabei auch Kants Kritik des ontologischen
Gottesbeweises diskutiert.

Einen besonderen Hinweis verdienen noch das dreifache,
gründlich einführende Vorwort und der Anmerkungsteil, der
auch ergänzende Textstellen aus dem Nachlaß bringt, schließlich
die insgesamt 336 Nummern verzeichnende Bibliographie,
in welche auch die vervielfältigten philosophischen und mathematischen
Vorlesungsausarbeitungen, nicht dagegen die unzähligen
, z. T. ausführlichen Rezensionen aufgenommen sind — ein
Denkmal für die Vielfalt einer bis zuletzt auch religiös-theologisch
betätigten Denkenergie, aber auch für den bewunderungswürdigen
Fleiß, womit Heinrich Scholz sich ein Leben lang um
die Lösung der Probleme gemüht hat, vor die er sich durch
sein persönliches geistiges Schicksal gestellt sah.

Saarbrücken

Ulrich Mann

Erlangen

Hermann Zel t n e r