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Ausgabe:

1963

Spalte:

855-857

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Seeberger, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Hegel 1963

Rezensent:

Mann, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 11

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Überraschend ist es aber, wenn man nach diesen Ausführungen
, die zwar keineswegs in ihrem Ton, aber weitgehend
doch in ihrem Inhalt der traditionellen Apologetik folgen, in
dem Beitrag von C.-J. Dumont einer ganz neuen Schau der Ostkirche
begegnet. Hier wird nicht von der empirischen und
organisatorischen Gestalt der Kirche ausgegangen, sondern von
dem umfassenden und auch in der Zertrennung festgehaltenen
gemeinsamen Christusbekenntnis: „Zu diesem Dogma bekennt
sich ohne die geringste Änderung oder den geringsten Vorbehalt
sowohl die orthodoxe wie auch die katholische Kirche.
Beide sind sie.. . diesem Bekenntnis treu geblieben ..." (S. 114).
Von diesem Zentrum aus werden die bestehenden Unterschiede
nicht mehr statistisch fixiert, sondern sie erscheinen in einer
theologischen Rangordnung und erfahren damit eine neue Wertung
. Dies führt zu der These, „daß es sich lediglich um eine
Akzentverschiebung handelt, die daher auch nicht an die Substanz
des gemeinsamen Glaubens rührt, wohl aber einen beachtlichen
Unterschied der Nuancen ergibt" (S. 115/134). Im Gegensatz
zu den anderen Beiträgen sieht Dumont den eigentlichen
Unterschied im Kirchenbegriff in gewissen Verengungen und
Einseitigkeiten. Dies gilt auch für die römische Kirche, wenn
beim päpstlichen Primat das sakramentale Element fast völlig
hinter dem jurisdiktioneilen zurücktritt und wenn, zumal durch
die Definition der päpstlichen Infallibilität, das Bischofsamt und
die damit verbundene Kollegialität durch den päpstlichen Zentralismus
verdrängt und eingeschränkt worden ist. Wie sehr die
Begegnung zwischen Orthodoxie und römischem Katholizismus
gerade durch diese organisatorischen Unterschiede belastet wird,
zeigt Dumont mit einem Hinweis auf das zweite Vatikanum:
„Obwohl das Konzil als erster Schritt auf dem Weg zur Wiedervereinigung
gedacht ist, stößt es allein schon durch die Tatsache,
daß es 6ich mit seinem ökumenizitätsanspruch präsentiert, auf
ein neues Hindernis, das der Wiedervereinigung im Wege
steht" (S. 128).

Heidelberg Reinhard SIenczka

T i c e, Terrence N.: Helsinki 1963 in reformierter Sicht.
Lutherische Monatshefte 2, 1963 S. 281—284.

Tsakonas, D.: Die geistigen und religiösen Strömungen im heutigen
Griechenland.
Una Sancta 18, 1963 S. 36—49.

PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Seeberger, Wilhelm: Hegel oder die Entwicklang des Geistei zur
Freiheit. Stuttgart: Klett Verlag [1961]. 639 S. gr. 8°. Lw. DM 38.50.
Die Grundthese des Buches drückt sich im Titel aus. Der
Züricher Forscher Wilhelm Seeberger will keine Gesamtdarstellung
des Hegeischen Denkens geben. So werden die objektive
Idee und der objektive Geist nicht in der gleichen Ausführlichkeit
behandelt wie der subjektive Geist, welcher das eigentliche
Thema der Untersuchung ist. Zum subjektiven Geist gehört,
daß er sich lebendig entwickelt, und Sinn und Ziel dieser Entwicklung
ist die Freiheit, die mit der Notwendigkeit koinzi-
diert. Doch geht es eben nicht um eine abstrakte Koinzidenz;
Hegels Begriff des Konkreten und der Konkretion (immer bewußt
abzuleiten von concrescere) will, daß jeweils die Rang-
und Wirklichkeitsstufen genau berücksichtigt werden: deshalb
liegt der eigentliche Akzent auf der Freiheit als dem konkreten
Sinn und Ziel aller Notwendigkeit. So bildet für Seebergers
Darstellung die Entwicklung des Geistes zur Freiheit doch den
roten Faden durch das Gesamtsystem, es geht hier also nicht
um einen Teilaspekt, sondern um die Erfassung des Ganzen und
des Wesentlichen an Hegels Denken. Ich möchte in dieser
grundsätzlichen Schau dem Verfasser rundweg zustimmen.

In einem ersten Kapitel wird ein Aufriß des Freiheitsproblems
in systematischer und historischer Hinsicht gegeben.
Der letztere Aspekt fällt etwas summarisch und eklektisch aus,
es kommt dem Verfasser darauf an, zu seinem eigentlichen
Gegenstand, dem Denken Hegels, möglichst ohne Umschweife
zu gelangen. Hierbei läßt sich schon ein wichtiger Grundzug

dieses Buches beobachten: es darf hier keine kritisch-historische
oder kritisch-philologische Untersuchung erwartet werden; auf
Anführung der bald nicht mehr übersehbaren Hegel - Literatur
in einer gewissen, noch überschaubaren, aber doch ausführlichen
Breite wird verzichtet; es kommen einige bedeutsame Stimmen
zu Wort, so Lasson, Haering, Litt u.a.m., aber auch sie werden
vor allem angehört als kommentierende und stützende Elemente
für die Darstellung de6 Verfassers. Man mag das beanstanden.
Ich muß aber zugestehen, daß die eigentliche Absicht des Buches
auf andere Weise einfach nicht zu verwirklichen wäre. Diese
Absicht, aufs ganze unausgesprochen, aber dennoch unüberhör-
bar angedeutet, ist nicht, einen weiteren philosophiegeschichtlichen
Beitrag den vielen anderen anzureihen, sondern: der
Versuch, Hegel aus Hegelschem Geist zu erschließen. Man spürt
es dem Buch an, daß der Verfasser sich lang und intensiv in
das Hegeische Denken vertieft und völlig darin eingelebt hat,
und das geht schließlich bis zur Identifizierung, das reicht, gewiß
unbeabsichtigt, bis in den Stil hinein.

Es sei nicht verschwiegen, daß in solcher Identifikation von
Referat und Gegenstand des Referats die große Gefahr des
Unternehmens liegt, und daß hier die Kritik immer wieder
erfolgreich ansetzen kann. Ich möchte aber aufs ganze gesehen
die Auffassung vertreten, daß es Wilhelm Seeberger gelungen
ist, die Hauptgefahr zu bannen: die läge darin, daß die Identifikation
nur ein kritikloses Nachbeten bedeutete. Das ist nicht
der Fall. Denn für den Systematiker Hegel gilt in besonderem
Maß, daß, wer sich nicht urteilend von ihm distanziert hat, niemals
das geschlossene System in, hinter und unter dieser unendlich
vielfältigen und oft 60 schillernden Systematik erkennen
wird. Seeberger vermag Hegels eigentliches und oft schwer
erkennbares System zu fassen und mit einer Fülle von gut ausgewählten
, wesentlichen Belegstellen aus dem Gesamtwerk zur
Anschauung zu bringen. Ich finde darin den gar nicht hoch genug
einzuschätzenden Hauptwert des Buches, daß hinter Hegels
Systematik das lebendige konkrete System sichtbar wird, zur
Evidenz gebracht aus Hegels Gedanken durch Hegelsches Denken
. Hier wird die Sache relevant, um die es Hegel eigentlich
ging-

Wie nach Hegel nichts Großes geschieht ohne Leidenschaft
— zwar nicht aus Leidenschaft, dennoch nicht ohne Leidenschaft
—, so muß auch ein recht erkanntes Hegelsches Denken
Leidenschaft hervorrufen. Diese Leidenschaft ist beim Interpreten
Seeberger nicht zu übersehen. Leidenschaftlich, freilich ohne
ungebührliche Schärfe, wendet er sich gegen die sattsam bekannten
Vorwürfe der seit mehr als einem Jahrhundert gängigen
landläufigen Hegelkritik. Hegel der Reaktionär, Hegel der
Revolutionär, Hegel der Verherrlicher von Staat und Krieg, der
Ahn des Marxismus, all das kann man zwar aus Hegels Denken
herauskristallisieren, wenn man abstrahierend die Lebendigkeit
des Gesamtsystems aus dem Auge verliert. Dann freilich kann
man auch nicht erkennen, welche Rolle die Freiheit im Zentrum
des Hegeischen Denkens spielt. Es ist tatsächlich so, daß Hegel,
der scheinbar 6o trockene, ja, alles zermürbende, weil pedantisch
analysierende Denker sein Eigentliches nur dem offenbart, der
sich von der verborgenen Leidenschaft seines lebendigen Systems
zur echten „Anstrengung des Begriffs" anfeuern läßt. Und eben
das ist bei Seeberger auf jeder Seite zu spüren. Daraus erklärt
sich dann auch die Leidenschaft, mit der er die Schätze des
Hegeischen Denkens für unsere notvolle Gegenwart auszumünzen
wagt. Häufig findet sich bei Seeberger die Klage, daß Hegel
bis zur Stunde weithin einfach nicht verstanden «ei. Das trifft
im vordergründigen Sinn nicht ohne weiteres zu, die Fülle
hervorragender Hegelliteratur zeigt es; aber es trifft im tiefsten
doch zu, denn Hegels eigentliches Anliegen, der Appell zur
Verwirklichung deT Freiheit, verhallt ungehört.

Das liegt nun freilich weithin an Hegel selbst. Nietzsche
hat Leidenschaft erweckt, durch seine Aphoristik wirkt er wie
er wirken will, als „Dynamit"; Hegel jedoch hat das System
in die Systematik gezwungen. Er ist darin 6icher ein Letzter in
der großen Reihe, die mit Aristoteles beginnt. Er ist aber,
darauf weist Seeberger mit Recht immer wieder hin, bei allem
Systematisieren stets zugleich Empirist und Pragmatiker geblie-