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Ausgabe:

1963

Spalte:

852-853

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Thurneysen, Eduard

Titel/Untertitel:

Christoph Blumhardt 1963

Rezensent:

Sauter, Gerhard

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851

Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 11

852

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Weber, Otto, u. Erich Beyreuther: Die Stimme der Stillen.

Ein Buch zur Besinnung aus dem Zeugnis von Pietismus und Er-
weckungsbewegung hrsg. Neukirchen/Moers: Verlag der Buchhandlung
des Erziehungsvereins [1959]. 351 S. gr. 8°. Lw. DM 19.80.

Der Titel des Buches zeigt an, daß wir es nicht mit einem
historischen Quellenbuch, sondern einem der Gegenwart zugewandten
Lesebuch zu tun haben. Außerdem sollte eine wissenschaftliche
Benutzung der Texte ermöglicht werden. Nach diesen
Gesichtspunkten geurteilt, ist der Versuch gelungen.

Die Einleitung von O. Weber stellt fest, daß drei Fragen
des 16. Jhdts. künftiger Lösung bedurften: 1, die Bedeutung
des hl. Geistes als Grund und Kraft menschlicher Glaubensentscheidung
, 2. der Mensch als Glied der Gemeinde, und 3.
die Frage nach dem neuen Gehorsam, da eine doktrinäre Entwicklung
in der Lehre Platz gegriffen hatte. In allen drei Fragen
werden Ansätze bei Martin Bucer gefunden, die zu den Reformbestrebungen
des 16./17. Jhdts. hinüberführen. Die „christliche
Gemeinschaft" bei Bucer in Straßburg bildet z. B. einen Ansatz
für Spener und damit für die Lösung eines Grundproblems des
Pietismus: wie die Kirche Jesu Christi als Gemeinde der Gläubigen
zu gestalten sei.

Liest man die einzelnen Zeugnisse des Buches von diesen
drei Fragen her, so geben die Beiträge zureichende Antwort auf
die erste und dritte Frage: wir erfahren in der Tat, was Francke,
Spener, Freylinghausen, Philipp Matthäus Hahn, Collenbusch
und viele andere zur Frage der Erneuerung und Wiedergeburt
des Menschen zu sagen hatten. Wir sehen auch, wie diese Zeugen
aus fünf Jahrhunderten um den neuen Gehorsam gerungen
haben. Aber wir hören verhältnismäßig wenig über die jeweils
besondere Gestaltung der christlichen Gemeinschaft. In der Einleitung
wird etwa bei Zinzendorf oder in den Texten bei
Goßner (in ausgezeichneten Formulierungen) darauf hingewiesen
, aber — wenn eine 2. Auflage des Buches erscheint — sollten
mehr Texte aufgenommen werden, die Aussagen zum Gemeinschaftsproblem
enthalten.

Dies wird oft als abwegige Erwartung angesehen; denn wie
könnte man vom Pietismus etwas lernen gerade für die Gemeinschaftsprobleme
?! Aber hier wird in der Tat mit einem derartigen
Lesebuch eine vortreffliche Hilfe nicht nur zur besseren
Information, sondern zur Erkenntnis der Sache gegeben: heute
sind vielfach kleinere Gruppen der verschiedensten Art bemüht,
Hilfe zu einem neugestalteten Gemeinschaftsleben zu vermitteln
. Worin bestehen Unterschied und Nähe zu den sog. pietistischen
Gemeinschaftsformen: der Sozietät, der Siedlung, dem
collegium pietatis? Der Auswahlband will dazu anleiten, auf
das „Zeugnis von Pietismus und Erweckungsbewegung" zu
hören. Durch die unvermittelte Aufeinanderfolge der einzelnen
Beiträge treten Gemeinsamkeit und Unterschied zwischen Pietismus
und Erweckung instruktiv heraus. An einzelnen Abschnitten
kann dies z. B. im Religionsunterricht gut gezeigt werden (vgl.
z. B. Großgebauer, Undereyck mit Claus Harms, Ludwig Hofacker
, Gottfried Daniel Krummacher). Fast möchte man urteilen
, daß diese unserem Verständnis näher kommen als jene.
Aber ein solches Urteil beruht nicht auf der größeren zeitlichen
Entfernung der älteren Zeugen, auch nicht allein auf persönlichem
Geschmack — daß uns manche dieser Schriftsteller nicht
„ad palatum" sind —, sondern auf dem verschiedenen zentralen,
d.h. biblisch-theologischen Gehalt der einzelnen Schriften. Es
gibt ja auch genügend Männer unter diesen Zeugen, die neben
tiefen Erkenntnissen merkwürdige Spekulationen verbreitet haben
, die in die Theosophie hineinführen. Aber wer würde nicht
unmittelbar gepackt von den Abschnitten aus Bengel, Lavater,
G. D. Krummacher, Zinzendorf, Goßner, Scriver, Hamann,
Blumhardt ?

Es zeigt 6ich an diesem Punkt aber auch die Grenze eines
solchen Lesebuches. Da der Charakter des Zeugnisses das Kriterium
für die Auswahl abgab, sind manche Stücke zu vermissen
, die vielleicht noch bezeichnender für die betr. Verfasser
— unter denen sich nur eine Frau befindet — sind als die abgedruckten
, z. B. A. H. Franckes Bericht über seine Bekehrung,
J. Wesleys Bericht über das gleiche Ereignis in seinem Leben

und über seine Gespräche mit Christian David u. a.; ein Abschnitt
aus Franckes „Segensvollen Fußtapfen", die einen deutlichen
Begriff von der Größe dieser diakonischen Anstalt geben;
einige Sätze aus den Herrnhuter Statuten von 1727 usw. Vielleicht
sind bei einer erhofften 2. Auflage noch Ergänzungen
möglich, die die einzelnen eingestreuten Beiträge dieser Art
vermehren würden, auch über die Mission!

Bei den Beiträgen aus Zinzendorfs Schrifttum wurde eine
Stichprobe gemacht und die Wiedergabe der Texte mit dem
Originaltext verglichen. Bibelsprüche (am Kopf der einzelnen
Beiträge) und Gesangbuchlieder am Ende sind Zusätze der Bearbeiter
(siehe Einleitung). Der Text ist an manchen Stellen geglättet
oder geändert und gekürzt. So bekommt der Leser einen
guten Eindruck von dem Zeugnis des Verfassers. Als exakte
Zitate können die Texte nur aufgrund eines Vergleichs verwandt
werden. Ein sorgfältig gestalteter Anhang mit Anmerkungen
gibt einen guten Aufschluß über die einzelnen Verfasser und
die Fundorte der Texte.

Arnoldshain/Taunus H. G. Renkewitz

Thurneysen, Eduard: Christoph Blumhardt. 2. Auflage. Zürich-
Stuttgart: Zwingli-Verlag [1962]. 120S. kl. 8°. Kart. sfr./DM 6.80.

E. Thurneysen hat 1925 auf Einladung des dänischen Christlichen
Studentenbundes zwei Vorträge über Chr. Blumhardt
(1842— 1919) gehalten, die 1926 vom Chr. Kaiser-Verlag
München herausgebracht worden 6ind. Die um eine Einführung
Thurneysens erweiterte Neuauflage, die nun der Zwingli - Verlag
Zürich besorgt hat, ist nicht nur deswegen vollauf gerechtfertigt,
weil dieser wichtige Beitrag zu der auch heute noch nicht allzu
umfangreichen Literatur über den „jüngeren" Blumhardt längst
vergriffen war. Hier werden „unerledigte Anfragen an die heutige
Theologie" (so K.Barth 1920 über Blumhardt und Overbeck
) nachdrücklich ausgesprochen, die immer noch (und vielleicht
heute noch mehr) bewegende Aktualität besitzen.
Thurneysen bringt in dieser Hinsicht besonders Blumhardts
Zeugnis der Hoffnung in ihrem kritischen und wegweisenden
Sinn zur Sprache.

Seine Darstellung will dabei auf die besonderen Akzente
der Diskussion in den zwanziger Jahren bezogen sein. Ein Brief
an Barth vom 26. 3. 1925, der in der Thurneysen-Festschrift
(1958, S. 144) einzusehen ist, deutet an, daß eine Verbindung
von Interpretation und theologischer Selbstdarstellung beabsichtigt
war. Außerdem gesteht Thurneysen im Buch selbst eine Begrenzung
durch die damals erst beginnende Veröffentlichung der
Quellen zu. Die Darstellung fußt darum hauptsächlich auf nachgeschriebenen
Andachten und Predigten Blumhardts aus dem
Zeitraum 188 8—1896, einer Phase, deren Thematik den Akzenten
, die der „dialektischen Theologie" wichtig waren, nicht nur
in ihrer kritischen Funktion besonders entsprach, sondern sie
auch mit hervorgerufen und wesentlich bestimmt haben dürfte.
Da diese materiale Beschränkung keine biographische zur Seite
hat, ist eine gewisse Verzerrung des Gesamtbildes nicht zu übersehen
, das darum nach einer mehr differenzierten Interpretation
verlangt. Andererseits fällt die Geschlossenheit der Darstellung,
die Thurneysen durch seine Konzentration gewinnt, entscheidender
ins Gewicht.

„Gott auf Erden, aber auch auf Erden Gott und das im
Heiligen Geist" (S. 70): in diesen drei Momenten sieht Thurneysen
die Thematik Blumhardts zusammengefaßt, die er selbst
aufgreifen will. Er spricht damit drei Fragen aus, die im Gespräch
zwischen ihm und Blumhardt offen bleiben. Es liegt ihm daran,
die Notwendigkeit und den Sinn dialektischen Redens an Blumhardt
herauszustellen (S. 59. 91 u.ö.) — freilich manchmal an Stellen
, wo man eher Unausgeglichenheiten konstatieren dürfte. Das
gilt vor allem für das Thema der Menschwerdung Gottes, das
mit dem betonten Unvermischtsein von Gott und Welt (bzw.
Geschichte; Zeit) 6chwer in Einklang zu bringen ist, aber gerade
damit die Intentionen der altkirchlichen christologischen Diskussion
wieder in fruchtbarer Weise spüren läßt. Freilich sind
hier (bes. S. 93 ff.) dialektisch - eschatologische Akzente zu frappant
ins Spiel gebracht, um wirklich klärend wirken zu können.
Die Pneumatologie schließlich darf — vom Ganzen der Verkündigung
Blumhardts her gesehen — weniger Spannungen