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Ausgabe:

1963

Spalte:

58-60

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Birnbaum, Walter

Titel/Untertitel:

Christenheit in Sowjetrussland 1963

Rezensent:

Rose, Karl

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 1

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seinem Tode am 7. Februar 195 8 widmete ihm der „Messager
de L'Exarchat du Patriarche Russe en Europe Occidentale", N05
30—31, April-.September 1959 (Paris), einen wertvollen, mit
Beiträgen namhafter orthodoxer Theologen und mit einer
Bibliographie versehenen Nachruf. B. Zenkovsky, Histoire de la
Philosophie russe, 2. Bd., Paris 1954, S. 208—226, bringt eine
gründliche Einführung in das philosophische System des Vaters,
Nikolaj Lossky, das dem Leser dieser Arbeit des Verf.s ebenfalls
angelegentlich empfohlen sei.

Der Inhalt des vorliegenden Buches ist folgendermaßen gegliedert
: I: Einleitung: Theologie und Mystik in der Tradition
der Ostkirche. II: Das göttliche Dunkel. III: Gott — der Dreifaltige
. IV: Die ungeschaffenen Energien. V: Das geschaffene
Sein. VI: Bild und Gleichnis. VII: Die Hcilstat des Sohnes.
VIII: Die Heilstat des Heiligen Geistes. IX: Zwei Aspekte der
Kirche. X: Weg der Einigung. XI: Das göttliche Licht. XII: Das
himmlische Festmahl. Unter ,.mystischer Theologie" versteht L.
nicht etwa nur eine bestimmte Seite orthodoxer Spiritualität,
die sich neben der Dogmatik und Theologie angesiedelt hätte,
sondern gewissermaßen die „Fülle" aller geistig-geistlichen
Äußerungen der Ostkirche. Die dogmatischen Unterscheidungslehren
sind für ihn alles andere als bedeutungslos. Es liegt ihm
völlig fern, sie gering zu schätzen und zu Gunsten eines problematischen
,.mystischen Individualismus" auszuschalten. L. betont
vielmehr, „daß es der östlichen Kirche eigen ist, zwischen
Theologie und Mystik, zwischen dem Gebiet des für alle verbindlichen
Glaubens und der eigenen religiösen Erfahrung keine
€tarren Schranken aufzurichten" (S. 19). Wenn man die Position
<ies Verfs. umschreiben soll, darf man vielleicht so formulieren:
..Mystische Theologie" ist für ihn die Entfaltung der orthodoxen
Theologie und des orthodoxen Dogmas, wie sie von der
Kirche gelehrt werden, durch das Medium der eigenen persönlichen
Erfahrung, die nun aber nicht individualistisch mißverstanden
sein will, sondern ständig auf Dogma, Theologie und
Liturgie (die für L. eine große Einheit bilden) Bezug nimmt. Der
protestantische Leser wird dabei vielleicht an Schleiermachers
(wie Karl Barth sie nennt:) ..Gefühls- und Bewußtscinsthcolo-
gie" erinnert, womit er sich in der Tat ganz in der Nähe der
Absichten L.s wiederfindet! Ausgangspunkt für die Entfaltung
einer so verstandenen „mystischen Theologie" ist der Apo-
phasis-Gcdanke des Pscudoareopagitcn, den er mit der Energienspekulation
des Grcgorios Palamas verbindet. Wie mir
scheint, ist dieses der Schlüssel zum Gesamtverständnis des
vorliegenden Werkes. Während die Kataphasis, die ..theologia
posiriva", und ihre Denkbilder nur „als Stützen bei dem Aufstieg
zur Kontemplation dienen sollen" (S. 52), wobei auch die
Dogmen nur einen sehr negativen Sinn von „Denkstützen" oder
..Idolen" haben, wohnt der Apophasis das Gefühl eines tiefen
Ungenügcns und des Wahrens letzter nicht mehr erkennbarer
Geheimnisse inne. „Darum blieben die Väter der östlichen Tradition
, trotz ihrer philosophischen Bildung und ihrer natürlichen
Neigung zur Spekulation, dem apophatischen Prinzip der
Theologie treu: so konnten sie mit ihrem Denken an der
Schwelle des Mysteriums haltmachen und blieben davor bewahrt,
fdolc des Denkens an die Stelle der Wirklichkeit Gotte6 zu
setzen" (S. 55). Hierum geht es dem Verf., eine Thcoloeic nicht
der starren Idole, sondern der lebendigen, göttlichen Wirklichkeit
zu entfalten, wobei er, anders als Berdjajcv, immer im
strengen Rahmen einer „mystisch" verstandenen orthodoxen
Dogmatik bleiben will. Ohne einem billigen Agnostizismus zu
verfallen, gibt diese Methode dem Verf. die Möglichkeit, im-
mer vor den eigentlichen Mysterien des christlichen Glaubens
stehen bleiben zu können. Er erliegt damit niemals der Verführung
durch den Verstand, Unaussagbares, dem göttlichen
Schweigen Zugehörendes dem Intellekt auszuliefern. Unter
diesem Aspekt entwirft der Verf. ein eindrucksvolles fast
möchte man sagen: für den westlichen Leser geradezu spannendes
Bild orthodoxer Theologie und Frömmigkeit (wir stoßen
zur letzteren immer wieder auf bedeutsame Ausführungen z. B.
über die Askese!). Vom Trinitätsdogma, das L. im Abschnitt
III behandelt, heißt es auf S. 306: „Die mystische Theologie hat
stets ihren Mittelpunkt im Dreifaltigkeitsdogma gehabt. . Die
Antinomie des Trinitätsdogma«, die geheimnisvolle Identität

des Monas-Trias, wird vom orientalischen Apophatismus eifersüchtig
gewahrt, der sich der abendländischen Formel ab utro-
que darum widersetzte, um nicht, zum Nachteil der personalen
Fülle der .drei Heiligkeiten, die sich zu einer einzigen Herrschaft
und Gottheit vereinigen' (S. Gregor Naz., In Theopha-
niam, Or. XXXVIII, 9, P. G. 36, col. 320 BC), den Hauptakzent
auf die Einheit der Natur zu setzen."

Der Dogmen- und Geistesgeschichtler wird wahrscheinlich
m einigen Grundlagen des Buches von L. Fragen anzumelden
haben. So ist es z. B. fraglich — wir wiesen auf dieses Problem
bereits in dieser Zeitschrift, 1961, Sp. 445 f. hin —, ob der pala-
mitische Hesychasmus wirklich in 60 ausgezeichneter Weise zu
diesen Grundlagen, bzw. zu den hermeneutischen Methoden derselben
gehört, wie das bei L. durchgehend geschieht. Aber mit
einer Kritik von dieser Seite ist vom Verf. wahrscheinlich gar
nicht gerechnet worden. Die systematische Leistung L.s ist unbestreitbar
! Man lese u. a. nur Abschnitt IX über die „zwei
Naturen" der Kirche und wird erstaunt sein, mit welcher Fülle
und Konzentration der Verf. modernste Fragen angeht, z. B. die
der Individualität und der Kollektivität, aber auch über die Gefahr
einer Art „monophysitischen" Sakramentalismus der östlichen
und westlichen Ekklesiologie. Die apophatische Methode
zeitigt dabei eine Reihe sehr sympathischer Züge. Der Verf.
scheut und warnt seine Leser z. B. vor den gefährlichen Ekstasen
des Geistes in der Spekulation und der Seele im Gebet. Das ist
wohl das Eindrucksvollste an diesem Buch, wie ein moderner
christlicher und bewußt orthodoxer Denker mit den Mitteln der
areopagitischen Theologie eine Einführung in die Wahrheiten
des christlichen Dogmas aus seiner Schau gibt, die den Leser nie
saturiert, nie sich genügen läßt. Die, vielleicht von seinem Vater
..ererbte" Einsicht in die mystische „intuition sensible", die
das apophatische Element der anderen Einsicht in die abgeschlossene
, monadenhafte Natur des „Erkenntnisobjektes" natürlicherweise
in sich einschließt, verbindet sich hier zu einer Synthese
u"d Zusammenschau des christlichen Dogmas, welche die Existenz
des Lesers immer wieder von neuem nicht nur anregen,
sondern auch „aufregen".

Hallo/Saalr Konrad O n I < c h

Birnbaum, Walter, Prof.: Christenheit in Sowjetrussland. Was
wissen wir von ihr? Tübingen: Katzmann-Verlag 1961. X, 230 S.,
2 Taf. 8°. Kart. DM 10.80.

Wer das Wesen christlicher Existenz in der Sowjet-Union
erfassen will, „darf nicht von unseren Erfahrungen und Gedanken
aus urteilen, darf auch nicht z. B. die Gesichtspunkte des
deutschen Kirchenkampfes auf das Verhältnis von Staat und
Kirche in Rußland unvermittelt übertragen. Er muß vielmehr
die westlichen Maßstäbe und Schemata hinter 6ich lassen und
die gewohnten Vorstellungen abstreifen" (S. 2 f.). Aus dieser
Erkenntnis heraus bemüht sich Verf., das russische Christentum
„aus seinem eigenen Gesetz, aus seiner wesenhaften Lebendigkeit
" (S. 2) zu interpretieren. Dem eigentlichen Thema ist nur
etwa ein Drittel des Buches gewidmet; denn da die Gegenwart
nur aus dem historischen Werden zu verstehen ist, legt Verf.
ausführlich die Momente dar, die den Charakter der russischen
Christenheit geprägt haben. Er beschreitet nicht den Weg einer
zusammenhängenden Darstellung, sondern reiht sieben in sich
geschlossene Studien aneinander, von denen die ersten fünf in
geschichtlichen Abrissen die Hauptlinien deutlich werden lassen,
von denen die Entwicklung der russischen Christenheit bestimmt
wurde.

In seiner ersten Studie verdeutlicht Verf. den grundsätzlichen
Unterschied zwischen östlichem und westlichem Christentum
, der sich bereits in der Zeit der alten Kirche abzeichnete,
an einer interessanten Gegenüberstellung von Tertullian und
Origencs.

In der sachlich-rechtlichen Grundhaltung Tertullians sieht
Verf. die bestimmenden Elemente westlichen, römischen Christentums
vorgezeichnet: für den Einzelnen steht obenan die
Ethik, der Wille, die Tat; für die Kirche im Ganzen das Geordnete
, die nach Gesetzen geformte Organisation.

Wollte Tertullian „fest"-stellen, durch scharfes entweder-
oder die Dinge scheiden, so ordnet Origenes nicht gegen-, son-