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Ausgabe:

1963

Spalte:

748-749

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Reich Gottes und Wirklichkeit 1963

Rezensent:

Otto, Gert

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 10

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habe. In diesem Zusammenhang greift der Beitrag die Rechts-
figuren des Prozesses, der Kindschaft, der Erbeinsetzung und des
Vertrages auf und gelangt zu einer grundsätzlich positiven
Wertung der Methode der modernen historisch-kritischen Theologie
. „Käsemanns Exegese hat ihr Verdienst und ihre Anziehungskraft
durch die Offenheit und Konsequenz, mit der sie
neue Perspektiven erschließt und weiterverfolgt. So ist sie auch
vorbehaltlos bereit, Texte mit rechtlichem Inhalt als solche zu
diagnostizieren."

4. Siegfried Grundmann „Die Kirchengemeinde und
das kirchlidie Vermögensrecht" schildert eine höchst interessante
Entwicklung auf dem Gebiet der neueren kirchlichen Rechtsgeschichte
. Es hat sich eine wesentliche Veränderung im Hinblick
auf die Träger deß ortskirchlichen Vermögens vollzogen. Die
alte klassische, aus dem kanonischen Recht stammende Kirchen-
stiftrung hat an Bedeutung verloren. Ein großer Teil des ortskirchlichen
Vermögens wird heute regelmäßig von einem jüngeren
Rechtssubjekt, der örtlichen Kirchengemeinde, getragen.
Sie ist im allgemeinen im kirchlichen Verfassungsrecht von
lutherischer Prägung erst im 19. oder sogar, wie in Bayern, im
beginnenden 20. Jahrhundert infolge der Trennung der Kirchengemeinde
von der örtlichen politischen Gemeinde entstanden
und hat seither ständig an Bedeutung als Vermögensträger gewonnen
. Die Stiftung wird von der Korporation abgelöst. Der
rechtsgeschichtliche Vorgang, der sich hier abspielt, ist als Übergang
vom anstaltsTechtlichen zum genossenschaftsrechtlichen
Denken zu charakterisieren. Ob er auf die Dauer von Vorteil
ist, wird erst eine spätere Zeit beurteilen können.

5. Die Abhandlung von Max Gütz will er „Der eidgenössische
Dank-, Büß- und Bettag" bringt die Geschichte dieses
halb kirchlichen, halb staatlichen Feiertages in der Schweiz. Er
geht mit seinen Anfängen in das 18., teilweise sogar in das ausgehende
17. Jahrhundert hinein und hat in der Zeit der großen
staatlichen Umwälzungen, welche die Schweiz in der Zeit der
französischen Revolution und Napoleons erlebt hat, an Bedeutung
und Ausbreitung gewonnen. Es handelt sich also im
Grunde um einen „aufgeklärten" Feiertag, bei dem zeitweise
das nationale Empfinden das kirchlich-religiöse Moment stark
überwogen hat. Das zeigt sich auch darin, daß dieser „allgemeine
vaterländische Feiertag" von beiden Konfessionen gleichzeitig
durch Gottesdienste begangen wurde. Dementsprechend
gingen die „Bettagsmandate" von den staatlichen Stellen aus.
Dabei ist literaturgeschichtlich interessant, daß eine Reihe von
Züricher Bettagsmandaten aus der Feder des Ersten Züricher
Staatsschreibers Gottfried Keller stammen. Ihre Sprache ist
dichterisch klangvoll, während die „Dogmatik", welche in den
Sätzen des großen Schriftstellers zutage tritt, der theologischen
Kritik nicht immer standhalten dürfte.

6. Erich Ruppel „Fragen des kirchlichen Disziplinarwcscns
im Lichte der Zwei-Reiche-Lehre" befaßt sich mit der Neuordnung
des kirchlichen Disziplinarrechts, welche durch die den
Kirchen in unserem Jahrhundert zugefallene Autonomie notwendig
geworden ist. Dabei ist die grundsätzlidie Frage zu
stellen, ob das eigenständige evangelische Disziplinarrecht sich
weiter in dem Rahmen des staatlichen Dienststrafrechts, von
dem es sich geschichtlich herleitet, bewegen soll, oder ob es
eigene Wege einschlagen kann, wie es z. B. in einem Entwurf
zu einem einschlägigen Gesetz der Vereinigten Evangelisch-
Lutherischen Kirche Deutschlands mit einem besonderen „Verfahren
brüderlicher Zucht" versucht wird. Das würde eine gewisse
„Sakralisierung" des kirchlichen Disziplinarwesens in
die Wege leiten. Es ist nicht leicht, hier die rechte Mitte einzuhalten
. Ruppel warnt vor einer zu weitgehenden Sakralisierung
kirchlichen Rechts auf dem Gebiet des Disziplinarwesens.

7. Otto Weber schildert in seinem Beitrag „Die Eigenart
und Bedeutung niederhessisch-reformierten Kirchentums". Im
Gegensatz zu anderen Landeskirchen hat sich in diesen hessischen
Gebieten keine klare konfessionelle Linie herausbilden
können. Das beruht auf einer besonderen geschichtlichen Entwicklung
seit der Reformationszeit, die im einzelnen dargestellt
wird. Man war „mild lutherisch", von Melanchrhon beeinflußt
, „reformiert", ohne „calvinistisch" zu sein. Deshalb wurde

versucht, „die Mitte zwisdien Luther (nicht dem damaligen
Luthertum) und Calvin zu halten". Diese eigentümliche konfessionelle
Grundhaltung ist bis heute geblieben. Sie macht die
hessische Kirche zu einer „Brüderkirche" zwischen den Konfessionen
, die aber trotzdem nicht zu einer Unionskirchc geworden
ist. Man könnte von einer besonderen Form der Symbiose
unter den Konfessionen sprechen.

8. Werner Weber behandelt „Staat und Kirche im Personenstandswesen
". Dabei tritt die verfassungsrechtliche Frage
auf, inwieweit eine den Religionsgemeinschaften gewährte Einsicht
in das Personenstandsregister gegen das Grundrecht der
Glaubensfreiheit verstößt. Weber kommt zu dem Ergebnis, daß
die kirchlichen Stellen trotz der Eigenschaft der Kirchen als
Körperschaften des öffentlichen Rechts nicht „Behörden" im
Sinne des Personen6tandsgesetzes sind, denen „Einsicht" gegeben
werden muß. Dagegen ist ihnen im Einzelfall „Auskunft"
zu erteilen. Das Problem wird mit der Zeit an praktischer Bedeutung
verlieren, da im Gegensatz zur früheren Fassung des
Personenstandsgesetzes die Religionsangehörigkeit bei Anmeldungen
zum Standesregister nicht mehr angegeben werden
muß, sondern nur noch freiwillig angegeben werden kann.
Wenn sich Personen durch diese Angabe zu einer Religionsgemeinschaft
bekennen, verzichten sie dieser gegenüber auf ein
Stüde Glaubensfreiheit. Sie räumen ihr damit implicite das
Recht ein, beim Standesregister Auskunft über den religiösen
Status ihres Mitgliedes zu verlangen. Weber betont dabei
unter Berufung auf eine Formulierung von Rudolf Smend, daß
es „Glaubensfreiheit als innerkirchliches Grundrecht"
nidit gibt.

9. Rudolf W e e b e r zeigt in seinem Beitrag „Die Ökumene
im deutschen evangelischen Kirchenrecht", in welcher
Weise und in welchem Umfang die ökumenische Verbundenheit
der deutschen evangelischen Kirchen in deren Recht bereits einen
Niederschlag gefunden hat. Dabei kann Weeber bereits auf erstaunlich
viele Rechtssätze und Rechtstatsachen hinweisen, welche
diese Verbundenheit zum Ausdruck bringen. Sie linden sich in
den seit 1945 entstandenen Kirchenverfassungen, ferner in Erscheinungen
wie der „Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen
in Deutschland" oder der von dieser gegründeten und unterhaltenen
„ökumenischen Centrale". Dazu kommen ökumenische
Arbeitskreise auf verschiedenen Gebieten des kirchlichen Lebens
und die Auffassung der Mission als einer ökumenischen Aufgabe
der Kirchen. Im ganzen zeigt die Abhandlung, wie tief der
ökumenische Gedanke in wenigen Jahrzehnten bereits in das
allgemeine kirchliche Bewußtsein eingedrungen ist.

10. Ernst Wolf sucht in seiner Abhandlung „Sinn und
Grenze der Anwendung der Zwei-Reiche-Lehre auf das Kirchenrecht
" „die traditionelle Gegenüberstellung von lutherischer
Zwei-Reiche-Lehre und reformierter .Christokratie' zu überwinden
und damit die Grundsatzprobleme des evangelischen Kirchenrechts
auf einen gemeinsamen Techtstheologischen Boden zu
stellen". Die (christologisch verstandene) Zwci-Reiche-Lehre soll
klären, daß „Kirchenrecht als Ordnung der Kirche in Gestalt
sowohl autonomen als auch hetcronomen menschlichen Kirchcn-
rechts . . . sich als bekennenden Ausdruck der Herrschaft des
Hauptes der Kirche in seinem und durch seinen Leib auf Erden
begreift und formt". Es handelt sich um einen interessanten
Versuch der Verklammerung der dualistischen Zwci-Reiche-Lehre
mit der monistischen Christokratie zu einer höheren Einheit
und damit um einen wertvollen Beitrag zu der heute so überaus
regen und fruchtbaren Diskussion um die Grundfragen
evangelischen Kirchenrechts.

Erlangen Hanl Lirrmann

[Müller, Alfred Dedo:] Reich Gottes und Wirklichkeit. Festgabe
für Alfred Dedo Müller zum 70. Geburtstag. Berlin: Evang. Verlagsanstalt
[1961]. 417 S. gr. 8°. Kart. DM 25.-.

Schüler und Freunde haben dem Jubilar zum 70. Geburtstag
eine umfangreiche Sammlung von siebenunddreißig Bei'
trägen dediziert. Die Herausgabe besorgten im Auftrag «1er
Theologischen Fakultät der Karl-Marx-Univcrsität zu Leipzig
Friedrich Haufe, Gottfried Krctschmar und Adelheid Rcnsch.