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Ausgabe:

1963

Spalte:

735-746

Autor/Hrsg.:

Rendtorff, Rolf

Titel/Untertitel:

Die Entstehung der israelitischen Religion als religionsgeschichtliches und theologisches Problem 1963

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Theologisdie Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 10

736

Die Entstehung der israelitischen Religion als religionsgeschichtliches und theologisches Problem1

Von Rolf Rendtorff, Berlin

L

Seit im 19. Jahrhundert durch die Entzifferung der assyrischbabylonischen
Keilschrift und der ägyptischen Hieroglyphen
und dann vor allem durch die rasch aufblühende archäologische
Forschung die Welt des Alten Vorderen Orients wiederentdeckt
wurde, ist der alttestamentlichen Wissenschaft unabweisbar die
Frage nach dem Verhältnis des Alten Testaments zu seiner altorientalischen
Umwelt gestellt. War bis dahin das Alte Testament
selbst die einzige Quelle für die Geschichte des Alten
Orients, so erschloß sich nun eine ungeahnte Fülle von Dokumenten
aus viel älterer Zeit und aus Ländern, die die Verfasser
der alttestamentlichen Schriften nur vom Hörensagen kannten.
Es zeigte sich, daß schon Jahrtausende vor dem Beginn der
israelitischen Geschichte in den großen Stromländern am Nil
und am Euphrat und Tigris eine blühende Kultur und eine
äußerst vielfältige Religion geherrscht hatten, denen gegenüber
sich die israelitische Kultur und Religion höchst bescheiden
ausnahmen. Israel war plötzlich zu einem der jüngsten und am
wenigsten bedeutsamen Glieder der großen altorientalischen
Völkerwelt geworden.

Aber diese Einsicht bedeutete nun keineswegs, daß damit
das Interesse am Alten Testament verlorengegangen wäre. Vielmehr
war es ja gerade dieses Interesse gewesen, das der Erforschung
des Alten Orients die wesentlichen Impulse verliehen
hatte. Und so stand von Anfang an die Frage nach dem Verhältnis
dieser neuentdeckten Welt zu der des Alten Testaments
im Vordergrund. Friedrich Delitzsch hat im Jahre 1902 mit
seinem programmatischen Vortrag „Babel und Bibel" diese
Frage ins allgemeine Bewußtsein gehoben. Er versuchte, die
durchgängige Abhängigkeit der israelitischen Religion von der
babylonischen zu erweisen. Und dabei zeigte sich schon die
Tendenz, die in seinen späteren Schriften immer schärfer hervortrat
: die israelitische Religion durch den Aufweis der Abhängigkeit
von der babylonischen abzuwerten, ja, schließlich
vollends für wertlos und gar minderwertig zu erklären. Sehen
wir aber von den extremen Äußerungen ab, zu denen Delitzsch
zuletzt gelangte, so ist doch seine Fragestellung für diese erste
Phase der Auseinandersetzung kennzeichnend; denn auch in der
Flut der Gegenschriften ging es letzten Endes immer um diese
eine Frage: ob auf Grund der neuen Funde die religiöse und
sittliche Überlegenheit der israelitischen Religion über die übrigen
Religionen des Alten Orients in Zweifel gezogen odeT gar
bestritten werden könnte oder gar müßte.

Die Frage wurde aber noch schärfer gestellt: Hatte Delitzsch
das Verhältnis der israelitischen zur babylonischen Religion an
einer Fülle von Einzelzügen dargelegt, so versuchte Hugo
Winckler, eine den ganzen Alten Orient bestimmende Weltanschauung
auf babylonischer Grundlage nachzuweisen, von der
auch Israel zutiefst geprägt war. Für diesen „Panbabylonismus"
konnte die israelitische Religion nur mehr provinzielle Bedeutung
haben, ohne daß ihr eine Eigenständigkeit zuerkannt
wurde.

Diese ungeschichtliche Nivellierung der altorientalischen
Religionen wuTde jedoch bald überwunden durch die Arbeiten
der ..Religionsgeschichtlichen Schule". In dieser alle Disziplinen
der Theologie umfassenden Bewegung, die nicht auf die unmittelbar
zu dieser „Schule" gehörigen Theologen beschränkt
blieb, stand die Forderung einer geschichtlichen Erforschung der
Religion — der israelitischen, der jüdischen und der christlichen
- im Mittelpunkt. Für das Alte Testament war dabei der
unabdingbare Ausgangspunkt die Erkenntnis, „daß Israel ein
Teil des vorderen Orients gewesen ist"'. Aber das Bemühen

') Rede anläßlich der Übernahme des Rektorats an der Kirchlichen
Hochschule Berlin, gehalten am 10. November 1962. — Die
folgenden Ausführungen berühren sich eng mit denen von K. Koch,
Der Tod des Religionsstifters. KuD 8, 1962, S. 100-123.

*) H. Greßmann, Die Aufgaben der alttestamentlichen Forschung.
ZAW 42, 1924, S. 1—33; Zitat S. 9.

war nun nicht darauf gerichtet, Israel in diese Welt des Alten
Vorderen Orients einzuebnen, sondern gerade darauf, die
Eigenart seiner Literatur und Religion innerhalb dieser Welt
zu erfassen und möglichst scharf herauszuarbeiten. Dabei waren
sich diese Theologen dessen wohl bewußt, daß die Frage nach
der Einmaligkeit der israelitischen Religion dadurch in
einer sehr zugespitzten Weise zur Diskussion gestellt wurde —
ebenso wie sich für Ernst Troeltsch, den führenden Systematiker
dieser Schule, die Frage nach der „Absolutheit des Christentums
" neu stellen mußte. Hugo Greßmann, einer der hervorragendsten
Vertreter der „Religionsgeschichtlichen Schule"
schrieb 1924: „Der Begriff der Offenbarung ließ sich bequemer
durchführen, solange Israel von der Umgebung abgesondert und
auf sich selbst gestellt wurde; ja er fordert geradezu die Isolierung
, denn sobald die Schranken gegenüber den Völkern
fallen, scheinen auch die Vorzüge Israels hinfällig zu werden,
die es selbst nach christlicher Auffassung besitzt. Wie kann man
noch an eine Erwählung Israels glauben, wenn es seinem innersten
Wesen nach in die vorderorientalische Kultur hineingezogen
und wenn vor allem auch seine Religion in der vorderorientalischen
aufgelöst wird?" Aber nachdem er dann die
Forderung nach einer Herausarbeitung der Besonderheit und
Originalität Israels entfaltet hat, fährt Greßmann fort: „Darum
6oll man Israel getrost in die Entwicklungsgeschichte des Orients
hineinstellen und viel mehr als bisher Ernst machen mit dem
Heranziehen und Vergleichen des Stoffes, der bei den verwandten
oder benachbarten Völkern bereit liegt, in der festen
Zuversicht, daß das AT und seine Religion dadurch nicht verlieren
, sondern nur gewinnen können."''

Diese Sätze Greßmanns, die eine Kennzeichnung der noch
bevorstehenden Aufgaben der alttestamentlichen Wissenschaft
sein sollten, waren aber zugleich so etwas wie der Schwanengesang
der „Religionsgeschichtlichen Schule". Denn inzwischen
hatte sich in der evangelischen Theologie eine Entwicklung angebahnt
, die zu der religionsgeschichtlichen Betrachtung des
Alten und Neuen Testaments in schärfsten Widerspruch trat.
Die dialektische Theologie ließ mit ihrer vor allem von Karl
Barth formulierten scharfen Antithese von „Offenbarung" und
„Religion" keinen Raum für eine vergleichende Religions-
geschichte im Sinne der „Religionsgeschichtlichen Schule" mehr.
Und als Greßmann 1927 erst fünfzigjährig starb, verlor die
religionsgeschichtliche Arbeit zudem den letzten großen Anreger
, von dem weiterreichende Impulse ausgegangen waren.
Gewiß wurde die religionsgeschichtliche Forschung hie und da
weitergetrieben; aber sie geriet doch mehr und mehr in eine
untergeordnete Stellung. Selbst ein Forscher wie Otto Eißfcldt
— einer der wenigen, die die Kontinuität der religionsgeschichtlichen
Arbeit bis heute bewahrt haben — hat schon 1926 angesichts
der immer weiter um sich greifenden Abkehr von der
religionsgeschichtlichen Betrachtung des Alten Testaments eine
Trennung von historischer und theologischer Betrachtungsweise
gefordert, die „zwei verschiedenen Ebenen" angehören; sie soll'
ten ihren Niederschlag einerseits in einer israelitisch-jüdischen
Rcligionsgesdiichte und andererseits in einer alttestamentlichen
Theologie finden*. Eißfeldt wollte damit die Selbständigkeit der
religionsgeschichtlichen Arbeit retten; aber er mußte offenbar
bald erkennen, daß ihm das nicht gelang, denn schon wenige
Jahre später warnte er eindringlich vor den Gefahren einer
Geringachtung oder gar eines Aufgebens der religionsgeschichtlichen
Betrachtung des Alten und Neuen Testaments, wie er si*
von der dialektischen Theologie her drohen sah*. Allerdings
hat auch gerade Eißfeldt auf die bemerkenswerte Tatsache hin'

3) a. a. O., S. 9 f.

4) O. Eißfeldt, Israelitisch-jüdische Religionsgcschichte und iW
testamentliche Theologie. ZAW 44, 1926, S. 1—12 (jetzt auch in:
Kleine Schriften, Bd. I, 1962, S. 105—114).

•) O. Eißfeldt, Werden, Wesen und Wert geschichtlicher Betrachtung
der israelitisch - jüdisch - christlichen Religion. ZMR 46, 19J''
S. 1—24 (= Kleine Schriften I, S. 245—265).