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Ausgabe:

1963

Spalte:

688-691

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Haecker, Theodor

Titel/Untertitel:

Satire und Polemik 1963

Rezensent:

Henschel, Martin

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Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr. 9

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1) Das heute sich anbahnende Wissenschaftsideal ist nicht
mehr die Frage nach historischen Ursprüngen, wie es um die
Jahrhundertwende die Theologie in allen ihren Disziplinen beherrschte
, ist überhaupt nichts spezifisch .Geisteswissenschaftliches
' mehr, sondern ist das organisatorische Wissenschaftsideal
, wie es in der sog. Kybernetik, der Wissenschaft
von der Steuerungstechnik im weitesten Sinne, seine massivste
Ausprägung findet. Wie von jedem Wissenschaftsideal seiner
Zeit, so wird der heutige Theologe auch von diesem, welches
die Frage nach der Konsequenz zu der nach der Relevanz umkehrt
, zu lernen suchen und wie stets bisher Erfordernisse zu
seiner Anwendung finden.

2) Die Logistik übt — weiterhin — deswegen Einfluß auf
viele Theologen aus, weil ihre Exaktheit und Präzision als
nötiges Gegengewicht gegen (manchmal) allzu viel bloße Rhetorik
oder untergründige Sophistik empfunden wird.

„Die logistisdie Analyse zeigt uns z. B., daß das deutsche Wort
,oder' wenigstens 3 verschiedene Bedeutungen hat . .., ebenso
,wenn' . . .; ,ist' hat wenigstens 6 Bedeutungen ... Die logische
Struktur eines Satzes enthüllt uns die Analyse der syntaktischen
Kategorien (§ 29)" (S. 16).

3) Auch daß der heutige Theologe die Frage nach der
Wahrheit der christlichen Aussagen sehr ernst nimmt, muß
ihn in Kontakt zu einer Wissenschaft bringen, die den methodischen
Schlüssel zur Bewältigung der Wahrheitsfrage zu geben
verheißt. Allerdings ist die Wahrheitsproblematik des Logistikers
die rein formale, d. h. hypothetische oder konditionale
.Wenn — Dann' (s. bes. S. 26 zum Begriff der Implikation)
und nicht mehr die Frage nach der .wirklichen' (materialen)
Wahrheit wie z. Zt. der großen Erkenntnistheorien und der von
ihr geprägten großen dogmatischen Prinzipienlehren in der Zeit
vor dem ersten Weltkrieg. Ein typisches Zeichen der Zeitl In
den Regeln der Logistik spiegelt sich wider, wie gewissermaßen
rein soziologisch bzw. konventionell mit jeder These das
Junktim' mit so und so viel anderen Thesen (positiv wie negativ
) verbunden ist (s. z. B. die Tabelle auf S. 31), wie jeder Satz
eine .Entscheidung' ist, mit der man sich auf hunderterlei Konsequenzen
festlegt. Was mit der Grundposition vereinbar
ist und was nicht, ist die Hauptfrage, technisch gesprochen: wie
man schalten kann und wie nicht. Das Ideal eines Systems ist
der Schaltplan. — Aber wa6 kann das für die Theologie bedeuten
?

4) Die Logistik, als Versuch, die aristotelische Syllogistik
(genauer: die Lehre von den hypothetischen Syllogismen und
Relationsurteilen) auf eine rechnerische und mechanische Grundlage
zu stellen (s. S. 11) und damit optimal leistungsfähig zu
machen, ist der Probierstein für die Frage, ob schon die aristotelische
Logik als Mittel zur Vermehrung bzw. Überprüfung des
dogmatischen Wissens vorbehaltlos bejaht werden kann oder
nicht. Denn eine an sich richtige Methode, für die der tho-
mistische Dogmatiker die aristotelische Syllogistik hält, muß
auch dann richtig bleiben, wenn man sie ,,rechnerisch" (s. S. 11)
und mechanisch anwendet.

Das würde bedeuten, daß maschinell müßte errechnet werden
können, welche Folgerungen eine Aussage auf dem Gebiet beispielsweise
der Eschatologie auf den Gebieten der Lehre über Sünde, Versöhnung
, Kirche, Schöpfung usw. erzwingt oder ob z. B. zwei dogmatische
Systeme miteinander verträglich sind bzw. wieweit sie es sind
oder wie eine dogmatische Neuerscheinung zu klassifizieren ist
(vgl.. S. 74 ff. die Regeln zu Vermeidung und Entdeckung von Widersprüchen
in Systemen).

Aber auch die katholische Dogmatik kann sich darauf nicht
einlassen, da die Logistik als rechnerische Vervollkommnung der
aristotelischen Syllogistik das Lehramt, jenen .Regulator' des Folgerns
in der Dogmatik, ausschaltet, und zwar als subjektive Fehlerquelle,
wie es dem echten Logistiker erscheinen muß.

Kurz gesagt: Von deT Logistik her kann man das thomi-
stische Wissenschaftsideal des Axiomatisierens und Deduzierens
aus Axiomen der Inkonsequenz in der praktischen Anwendung
überführen, ja, es ad absurdum führen. Kann man in der Dogmatik
nicht „rechnen", dann auch nicht ,rein logisch' bewußt
denken (weil die dogmatische Begrifflichkeit nicht gestattet, mit
ihr formal — unter Absehung von Zusammenhang und konkreter
Situation — zu arbeiten).

Es bleibt nur der Anspruch der Logistiker, ganz allgemein
jedem Wissenschaftler ein „modernes Rüstzeug exakten Denkens
" (S. 5) mitzugeben; wir möchten betonen: ein modernes
Rüstzeug, nicht „da6 moderne Rüstzeug", wie Menne im Vorwort
beansprucht, Zumal indem er die Logistik als „Rüstzeug"
und damit nur als Organon verstehen kann, muß man Bochenskis
Anspruch, die Logistik sei die moderne Gestalt der Logik
(S. 11), zurückweisen. Daß es noch ganz andere Wege und Erfordernisse
gibt, gerade den (praktischen) Organon-Ansatz des
Aristoteles weiter zu entwickeln, und daß besonders ein erneutes
Einbeziehen der Subjekt-Problematik — das Gegenextrem zur
Tendenz der Logistik — nicht nur methodisch nötig (als „Rüstzeug
" und besonders für das protestantische dogmatische
Wissenschaftsverständnis), sondern auch ,rein wissenschaftlich'
folgerichtig ist, glaubt der Rez. selber dargetan zu haben
(s. meinen zusammenfassenden Aufsatz: Das logische Urteil und
die Struktur der kleinsten gedanklichen Sinneinheit, in Forschen
und Wirken, Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität
zu Berlin, 1960, Bd. III, S. 745 ff.).

Ein Berührungspunkt zu dieser entgegengesetzten Tendenz
besteht allerdings. Es ist zugleich der Ort, wo die Logistik die
aristotelische Logik wirklich sprengt und nicht nur rechnerisch
intensiviert, nämlich das Problem „mehrwertiger Logiken"
(S. 100 ff.). In der Tat muß nicht jeder Satz nur die beiden
Wahrheits- oder „Gcltungswerte" wahr und falsch haben und
das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten (gleichsam das
Parallelenaxiom der aristotelischen Logik, S. 100) gelten. Aber
nicht die Vermengung des Problems der Modalitäten (das
Mögliche als dritter Geltungswcrt oder Inbegriff unendlich vieler
) mit dem der Qualität der Urteile (bejahend - verneinend)
kann hierbei das Vorwärtsweisende sein, wie Bochenski — im
Unterschied zu vielen Logistikern — ausdrücklich hervorhebt
(„um voreiligen . . . Mißverständnissen den Boden zu entziehen
", S. 102), wohl aber der Gedanke, daß es Urteile gibt, die
„unbekannt", „unbestimmt", nicht betreffend oder — einfach
sinnlos oder unsinnig sind; denn das sinnlose oder unsinnige
Urteil ist vom entsprechenden negativen Urteil dadurch unterschieden
, daß sein mögliches Wahrsein nicht ernsthaft in Frage
stand (wie bei jedem negativen Urteil im konkreten Zusammenhang
). Vgl. die dritte Möglichkeit auf guten Fragebogen: ja
— nein — nicht betreffend! Aber dieses Problem ist
nur zu bewältigen bei Einbeziehung des sachlichen Zusammenhangs
in die logische Problematik. Es sprengt die formal
- oder rein-logische Betrachtung. Bochenski und Menne
visieren indes diese Problematik — von ferne — an, wenn es in
§ 25. 5 heißt:

„Möglidie Interpretationen der 3 Geltungswerte wären etwa:
.verifizierbar', .unbekannt', .falsifizierbar'; .vollgültig', .teilweise
gültig' .ungültig' " (S. 102).

Abschließend sei dem Grundriß der Logistik von Bochenski
gern bescheinigt, daß er auch dem protestantischen Theologen
ein wertvolles „Rüstzeug" zur Übung im exakten Denken sein
kann, wenngleich die Diktion manchmal zu knapp anmutet.
Besonders begrüßenswert sind die vielen historischen Anmerkungen
, vor allem die Hinweise auf Vorgänger und Vorgänge
in der griechischen und scholastischen Logik. Nur die Beispiele
für die entwickelten Regeln und Methoden erscheinen meistens
etwas trivial und damit in einem gewissen Widerspruch zur
aufgewendeten Mühe und Akribie. Aber dem Rez. ist noch
kein logistisches Lehrbuch zu Gesicht gekommen, das an solchen
Beispielen exemplifiziert hätte, deren sachlich-inhaltliche
Problematik zu lösen die logistische Formelsprache (bzw.
Mechanisierung) als angemessener Aufwand zum Zweck einleuchtend
geworden wäre.

Berlin Hans-Georn Kritische

Ha eck er, Theodor: Sarire und Polemik. Der Geist des Menschen
und die Wahrheit. München: Kösel-Verlag [1961 ]. 499 S. kl. * •

I.W. DM 19.80.

In dem vorliegenden dritten und abschließenden Band der
Werke Theodor Haeckers faßt der Verlag zwei recht unterschiedliche
Werke zusammen, nachdem zuvor schon gesammelte
„Essays" und die berühmten „Tag- und Nachtbücher" des 1945